Читать книгу farbenblind - Jessica Barc - Страница 16
ОглавлениеKapitel 9
Absturg
Als sie ein paar Tage später früh morgens aufwachte, spürte sie es schon. Das ihr leider bekannte und bedrückende Gefühl lag tief in ihrem Magen. Sie stülpte die Bettdecke über ihren Kopf und schloss die Augen. Oh nein, lieber Gott! Bitte kein depressiver Rückfall, bitte nicht, dachte sie und drehte sich schneckenförmig auf die andere Seite. Wenn sie eines nicht mehr wollte, dann das Gefühl, in eine endlos negative Gedankenspirale zu stürzen und sich von jetzt auf gleich wieder einmal staubkornklein zu fühlen. Eigentlich war es nichts Fremdes für sie, im Bett zu liegen und unter die Decke zu starren, weil sich ihre Sinne mal wieder ohne jegliche Vorankündigung vernebelten. Und dennoch brach jedes Mal wieder ihre Welt zusammen.
Sie sah durch das Fenster. Auch draußen war es grau. Verdammt grau! Der Wind hatte zum Morgen hin etwas nachgelassen und der Regen tröpfelte vom Dachgiebel im Gleichtakt auf ihren Fenstersims. Was, wenn das alles hier nicht richtig ist? Wenn die beiden Ärzte arrogant sind und mich auflaufen lassen? Wenn mein erster Auftrag doch nicht so läuft wie geplant und danach kein Folgeauftrag kommt? Hätte ich doch auf meinen Vater hören sollen? Was ist, wenn Maik sein Verhalten bereut und zu Hause vereinsamt?
Gegen Mittag gelang es ihr erstmals, aufzustehen. Sie ging ins Bad und sah in den Spiegel. Ihr Kopf war wie verschlossen. Sie suchte nach einer Lösung, um so schnell wie möglich wieder aus diesen dunklen Schleiern herauszufinden, aber sie fühlte sich wie gefangen. Völlig leer.
»Ich will mich so nicht sehen. Nicht so«, flüsterte sie vor sich hin. »Positive Gedanken, mach dir positive Gedanken!«
Das sagte sie sich an solchen Tagen. Wenn das immer so einfach wäre. Es war wie ein Hilfeschrei an sich selbst, von dem sie wusste, dass er nicht ankam. Sie trat ans Fenster und sah hinaus. Beim Anblick des trostlosen Himmels atmete sie tief ein und wieder aus. Über ihr Handy versuchte sie, irgendetwas zu finden, was ihren Zustand erheitern konnte. Das Benefizkonzert von Jost sollte bereits online sein. Sie fand es prompt und drückte auf Play. Mit Kopfhörern in ihren Ohren legte sie sich zurück ins Bett und schob ihr Telefon unter das Kopfkissen. Jost sang mit seinen beiden Bandkollegen all diese wunderbaren Songs. Die Erinnerung an diesen schönen Abend gab ihr für einen kleinen Moment einen Lichtblick. In den letzten Monaten waren ihre depressiven Momente immer seltener geworden und meistens bis zur Mittagszeit verflogen gewesen, so dass sie noch was vom Tag gehabt hatte. Sie versuchte, sich wieder den freudigen Dingen des Lebens zu widmen. Mit Josts Musik blieb die Welt kurz stehen. Sie hatte gelernt, an solchen Tagen abzuwarten und die Situation so hinzunehmen, wie sie war. So wie andere Menschen eine Migräne überfiel und sie im Laufe ihres Lebens lernten, damit umzugehen, so waren es bei ihr diese dunklen, bedrückenden Gefühle. Nur mit dem gravierenden Unterschied, dass man über Migräne oder andere Krankheiten wesentlich offener mit seinem Umfeld sprechen konnte. Sie hegte die leise Hoffnung, dass es am nächsten Morgen besser werden würde. Die letzten Tage waren wegen all dem Gefühlschaos anstrengend gewesen. Ihr Leben lang hatte sie unbeschwert und glücklich gelebt. Doch seit drei Jahren prasselte ein unglücklicher Umstand nach dem anderen auf sie ein. Immer wieder war sie dankbar, dass Professor Buchenbach sie aus dieser Situation rausgeholt hatte, und fragte sich, ob sie es jemals ohne seine Hilfe bis hierher geschafft hätte.