Читать книгу farbenblind - Jessica Barc - Страница 13
ОглавлениеKapitel 6
Einmal alles, bitte!
Am Freitagmorgen klingelte Romys Handywecker. Sie griff nach ihrem Smartphone und drückte auf Schlummern. Es war spät geworden gestern Abend, aber unglaublich gut. Allein bei dem Gedanken an diese außergewöhnlich geniale Stimmung bekam sie gute Laune. Heute stand Wellness auf dem Programm. Gott sei Dank! Zu mehr hätte sie auch keine Kraft gehabt. Romy freute sich schon auf ihren ersten Saunagang, aber erstmal waren Massage und Gesichtspflege angesagt. Sie ließ sich pflegen und verwöhnen. »Einmal alles, bitte!«, hatte sie bei der Anmeldung am Telefon gesagt. Das hatte die Dame wohl wörtlich genommen.
Seit einer Viertelstunde dampfte sie bei 60 Grad in der Bio-Sauna vor sich hin und genoss die letzte Ruhe vor dem morgigen Sturm. Im Ruheraum nahm sie ihr Smartphone zur Hand und öffnete ihre Mails. Einer der beiden Ärzte aus Tannheim hatte sich gemeldet. Sie wollten Mitte September gemeinsam mit ihr die Pläne durchschauen und alles bis ins Detail besprechen. Romy ging noch einmal ihre Präsentation durch. Es durfte nichts schiefgehen. Sie sah auf die Uhr. In zwanzig Minuten bekam sie eine Maniküre und im Anschluss direkt eine Pediküre.
»Meine Güte, ich habe es aber auch wirklich gut mit mir selbst gemeint in dieser Woche. Stress pur«, murmelte sie und zog sich den flauschigen Bademantel über ihren warmen Körper.
Einen gruseligen Ausgleich zu diesem schönen Gefühl gab ihr das Waxing. Warum tat sie sich das freiwillig an, wo sie doch beabsichtigte, eine längere Männerpause einzulegen? Typisch Frau, dachte sie schnaubend. Was für eine Geld- und Schmerzverschwendung!
Auch an diesem Abend kam sie erst spät nach Hause und fiel erschöpft ins Bett. Ihre Haut fühlte sich glatt an wie ein Aal. Sie tat es nur für sich. All der Schmerz war vergessen.
Noch einmal schlafen!
Als Romy am Samstagvormittag ihre Augen aufschlug, zog sich ein mulmiges Gefühl durch ihren Körper. Heute war der Tag aller Tage. Nachdenklich sah sie auf Maiks leere Betthälfte. An diesem Nachmittag würde er aus Berlin zurückkommen. In ihrer depressiven Phase vor drei Jahren hatte sie es manchmal morgens nicht geschafft, das Bett überhaupt zu verlassen. Es hatte sich angefühlt wie eine schwere Decke, die auf ihr lag. Eine Last, die sie immer wieder mit aller Kraft loszuwerden versucht hatte. Sie war so unglaublich froh, dass sie diese Lebenskrise gemeistert hatte. Vorher war ihr nicht bewusst gewesen, wie es sich anfühlte, wenn man wie gelähmt unter die Deckenwand starrte und zu nichts in der Lage war. Zu gar nichts. »Lass dich nicht so gehen!«, hatte ihr Vater oftmals über ihre Mutter ausrichten lassen. Sie wünschte niemandem auf dieser Welt irgendetwas Schlechtes, aber wenn er solche Bemerkungen machte, dann hoffte sie tatsächlich, dass er ein einziges Mal auch nur für eine halbe Stunde erleben würde, was dieser Zustand bedeutete. Von solchen Kommentaren würde er dann ganz sicher Abstand nehmen.
Ihr erster Blick fiel leicht verschwommen auf ihre frisch manikürten Hände. Es war ein wunderbares Gefühl. Sie streichelte über ihre Beine und fühlte sich unglaublich sexy. Ihre Oma hatte ihr einmal gesagt, sie solle sich immer ihre Lebensskala vor Augen führen. Romy wollte 99 Jahre alt werden. Demnach war bereits ein knappes Drittel verstrichen. Ab jetzt wollte sie sich regelmäßig um sich selbst kümmern. Da muss doch noch was gehen! Ich weiß es. Entschlossen sendete sie einen Wunsch in den Himmel:
»Der heutige Tag verläuft nach meiner vollsten Zufriedenheit!«
Sie drückte den Knopf an der Kaffeemaschine und warf die beiden letzten Vollkornbrotscheiben in den Toaster. Im Gegensatz zu Maik legte sie Wert auf eine halbwegs gesunde Ernährung. Es gab noch eine Avocado in der Gemüseschale, die sie sich mit Salz, Pfeffer und Zitrone zerdrückte und auf das knusprige Brot strich. Sie blickte durch die Küche. Wie oft hatte sie hier gesessen und gegrübelt? Heute war der letzte Tag an diesem Ort. Die Uhr zeigte 09:30 Uhr. Romy stellte sich barfuß auf ihren Balkon. Der Himmel war wolkenfrei, 24 Grad gaben ihr ein wohliges, endsommerliches Gefühl auf der Haut. Heute würde sie zum Abschied noch einmal in die Freiburger Innenstadt gehen. Sie befreite die Wohnung grob vom Staub, der sich in den letzten Wochen leise auf den Möbeln niedergelassen hatte, und wischte ein letztes Mal nebelfeucht durch. Das musste reichen. Damit war ihre Pflicht getan!
Dann sprang sie unter die Dusche und stylte sich so, wie es ihre Beraterin ihr nahegelegt hatte. Immer schön natürlich bleiben. Sie schlüpfte in eines ihrer neuen farbenfrohen Kleider. Ihre zwei Umzugskartons hatte sie im Flur platziert, um sie später ins Auto zu packen. Sie griff nach ihren Autoschlüsseln und verließ die Wohnung.
In der Freiburger Altstadt genoss sie noch einmal die Atmosphäre der kleinen Gassen mit den bunten Häuserfassaden und den vielen Cafés und Bars. Sie kühlte ihre Füße in dem schmalen Flusslauf ab, der quer durch die Straßen floss. Wie gerne hätte sie noch ein Schwarzwälder Törtchen und einen Cocktail in ihrer Lieblingsbar zu sich genommen, aber dazu blieb ihr leider keine Zeit mehr. Gleich würde Maik nach Hause kommen und sie könnte endlich den heutigen Tag abschließen. Auf dem Weg zum Auto klingelte ihr Handy. Es war ihre Mutter.
»Hi, Mama, wie geht es dir?«
»Hi, Romy, das wollten wir dich gerade fragen. Dein Vater und ich machen uns ein bisschen Sorgen um dich.«
»Sorgen? Wozu? Ich bin gerade in der Altstadt und genieße meinen letzten Tag hier.«
»Ach, das wirst du bestimmt vermissen!« Ihre Mutter klang beinahe klagend.
»Ja, vielleicht. Aber Österreich ist auch schön. Das hast du neulich selbst noch gesagt. Und wirklichen Anschluss habe ich in dieser Stadt nie gefunden. Von daher werde ich kaum etwas vermissen. Mit Laura und Caro bleibe ich immer in Kontakt. Ich bin ja im Frühjahr wieder hier.«
»Immerhin ist es die Stadt mit den meisten Sonnenstunden Deutschlands. Das ist für dich mit deiner Depression eher von Vorteil.«
»Oh, Mama, ich habe keine Depressionen mehr«, gab Romy genervt zurück, »und außerdem liegt es dann auch nicht an den paar Sonnenstunden mehr oder weniger im Jahr. Dafür ziehen die Wolken in der kälteren Jahreszeit kaum an der Stadt vorbei.«
»Wir meinen es ja nur gut. Aber wenn du in Österreich bist, kommst du uns mal wieder besuchen, ja?«, erbat ihre Mutter hoffnungsvoll.
»Ja, aber erstmal muss ich dort richtig ankommen. Ich kann noch nichts versprechen.«
Am anderen Ende herrschte für einen Moment lang Stille, dann sprach ihre Mutter weiter. »Ahnt Maik schon etwas von deinem Vorhaben?«
»Nein, noch nicht.«
»Ach, der arme Kerl!«
»Jetzt auf einmal?« Romy schnaubte ungläubig. »Ich fasse es nicht! Seit Jahren erzählt ihr mir, er sei nicht der Richtige für mich, und jetzt tut er dir leid? Ich bitte dich! Das ist mein Leben und ich ziehe das jetzt durch.« Sie erschrak über ihre eigene Gereiztheit und sog tief die Luft ein, während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel suchte.
Ihre Mutter ruderte zurück. »Ist ja nicht so gemeint.«
»Na, dann ist es ja gut.«
»Pass gut auf dich auf,mein Kind.«
»Mama, ich bin über dreißig«, bemerkte Romy und seufzte absichtlich etwas lauter in den Hörer.
»Ja, das weiß ich.«
»Also, dann bis bald. Ich melde mich aus Österreich.« Romy legte auf, verstaute ihr Handy in ihrer Tasche und stieg in den Wagen, der bereits mit Taschen und Tüten voll bis unters Dach bepackt war. Nur noch die Kartons fehlten.