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UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER
In der Tennishalle des Belle Meade Country Club war von Oktober bis Februar Saison. Acht enge Freunde und ich trafen uns fast jeden Samstag um halb neun, um in wechselnder Besetzung im Doppel mit zwei Gewinnsätzen zu spielen. An einem Samstag im Monat war man jeweils nicht eingeteilt und an meinem nächsten freien Samstag wurde ich von grauem Himmel und kräftigem Nordwind begrüßt, der gefühlt noch kälter war, als das Thermometer in meinem Carport anzeigte. Nach einem späten Frühstück zog ich mehrere Schichten Kleidung übereinander, fand meine Arbeitshandschuhe und eine warme Mütze und ging raus, um mein Revier zurückzuerobern, das von einem ganzen Heer verwaister Blätter heimgesucht worden war, die mein tadelloses Eckgrundstück überfallen hatten.
Beim Zusammenharken gingen meine Gedanken zu HK – wie seit unserer Begegnung jeden Tag. Ich fragte mich, wie er zu Hause lebte, ob er gerade wieder allein bei Mrs Winner’s saß und wie viele unschuldige Opfer er wohl heute Morgen schon ausgefragt hatte. Ich erinnerte mich zurück, dass es für meine Töchter in seinem Alter undenkbar gewesen wäre, länger als fünf Minuten ohne Fernseher oder andere Ablenkung ruhig irgendwo zu sitzen. Genauso gut hätte ich zwölf Runden mit einem Schwergewichtsboxer überstehen können. Und trotzdem saß dieser unerschütterliche oder unfassbar geduldige Junge jeden Samstag und jeden Sonntag neun qualvolle Stunden lang in dieser trostlosen Imbissstube, weil seine Oma am Wochenende keine andere Möglichkeit hatte. Mein Hirn konnte sein Elend einfach nicht fassen.
Bis zum Nachmittag hatte ich 40 große Säcke mit Blättern gefüllt und ordentlich am Straßenrand aufgereiht. Vereinzelt lagen noch Blätter auf dem Rasen und trotzten mir, aber ich fror, war müde und hatte genug. Ich stellte den Rechen weg, zog mich um, tauschte die Mütze gegen meine blaue Baseballkappe der Auburn-Uni und sagte Brenda Bescheid, dass ich noch einen Kaffee trinken ging. Ich glaube nicht, dass ich Mrs Winner’s erwähnte.
Die Fahrt dorthin dauerte nur zehn Minuten. Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich HK schon allein am Fenster sitzen, genau da, wo ich mich letzte Woche von ihm verabschiedet hatte. Allein nur seinen kleinen Kopf wiederzusehen, berührte mich schon innerlich. Ich war erleichtert, dass er da war, und seltsam aufgeregt bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Was erwartete ich von diesem Besuch? Was war meine Absicht? Ich hatte keine wirkliche Ahnung. Ich wusste nur, dass es mich innerlich drängte, zu diesem Jungen zu fahren und ihn wiederzusehen. Aber ich beschloss, dass diesmal ich die Fragen stellen würde.
Ich eilte hinein, um einem weiteren kalten Windstoß zu entfliehen, bestellte meinen Seniorenkaffee und schlenderte zu den Tischen. Als ich HK näher kam, schien mir, dass er dieselbe Kleidung trug wie in der letzten Woche: ein ausgeleiertes weißes Baumwollshirt und ausgewaschene Cargo-Shorts, die eine Nummer zu klein waren. Vervollständigt wurde seine Garderobe von den weißen Plastikschienen und komischen schwarzen Schuhen, die aussahen, als stammten sie direkt aus dem Kleiderschrank meiner Großmutter.
Als ich mich näher heranpirschte, entdeckte ich einen feuchten, handbreit großen Fleck mitten auf seinem schmuddeligen T-Shirt, der zweifellos vom Mittagessen stammte. Er lauschte völlig gebannt seinem ramponierten Radio. Sein Oberkörper lag quer über dem Tisch, sein Kopf war zur Seite gedreht und er bemühte sich, mit einem Ohr Radio zu hören, während er mit dem anderen die Gespräche an den Nachbartischen verfolgte. Sein Radio war so leise, dass die Kunden nicht gestört wurden, aber als ich näher kam, erkannte ich den rhythmischen Singsang eines Pfingstpredigers. Diese typischen Geräuschwellen aus den Untiefen irgendeines Kellerstudios in Tennessee zogen den empfindsamen Jungen ganz in ihren Bann. Er wiegte sich im völligen Einklang mit dem Auf und Ab der Stimme des Evangelisten und verinnerlichte jedes »Preist den Herrn!« und »Halleluja!«, das aus dem Lautsprecher drang.
In dieser einen Woche war sein Haar so sehr gewachsen, dass sein winziges Gesicht noch kleiner wirkte, als ich es ihn Erinnerung hatte. Er hätte leicht als Fünfjähriger durchgehen können, obwohl er mir beim letzten Besuch erzählt hatte, dass er im Juli neun geworden war. Er hörte mich kommen, aber bevor ich etwas sagen konnte, begann mein Kinn zu beben, während ich tapfer gegen meine inneren Gefühlsstürme ankämpfte. Er hob den Kopf und schien mir in die Augen zu blicken.
»Wie heißen Sie?«, fragte er mit seiner hohen, piepsigen Stimme.
»Ich bin Jim«, antwortete ich.
»Der Jim, mit dem ich letzten Samstag gesprochen habe?«
»Ja genau, der bin ich; du hast aber ein gutes Gedächtnis.«
»Wo wohnen Sie?«
»In Brentwood.«
»In welcher Straße wohnen Sie?«
»Im Harpeth River Drive.«
»Von welcher Straße zweigt die ab?«
»Vom Old Hickory Boulevard.« (Später wurde mir klar, dass er, wenn er eine Straße nicht kannte, so lange nach Abzweigungen fragte, bis er eine erkannte. Erst dann wandte er sich den nächsten Fragen zu.)
»Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?«
»Um sechs.«
»Was haben Sie danach gemacht?«
»Geduscht.«
»Und dann?«
»Mich angezogen.«
»Und dann?«
»Dann habe ich in meinem Garten Blätter zusammengeharkt.«
»Und dann?«
Mein Vorhaben, dass diesmal ich die Rolle des Fragenstellers übernehmen könnte, löste sich in Luft auf. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, wiederholte er dieselben grundlegenden Fragen. Ich fühlte mich wie Phil Connors in Und täglich grüßt das Murmeltier, der immer und immer wieder dieselben 24 Stunden erlebt. Genau wie Phil wusste ich schon bald, dass diese monotone Übung kommen würde, und war fest entschlossen, sie zu ändern. Nach meinem zweiten oder dritten Besuch begann ich deshalb zu antworten: »Diese Frage habe ich schon letzte Woche beantwortet und mein Tagesablauf verändert sich nicht sonderlich, lass uns über etwas anderes reden.« Ich versuchte, mit ihm ein ganz normales Gespräch zu führen, an dem beide beteiligt waren, aber ich scheiterte jedes Mal.
Schließlich dämmerte es mir: HK hatte außer Pearl kaum soziale Kontakte und daher war seine Fähigkeit zur normalen Kommunikation stark unterentwickelt. In schlichten Worten: In sozialer Hinsicht war er völlig verkümmert und konnte nur über Themen reden, die Pearl in seinem Beisein besprochen oder über die er im Radio oder Fernsehen gehört hatte. Gott schien mir eine leere Leinwand zu geben und überließ es mir, ein Bild zu malen.
Wie beim ersten Mal nahm er auch bei diesem zweiten Besuch vorsichtig meine Hand, hielt sie sich nahe ans Gesicht, schnüffelte an jedem Finger, als wolle er sich meinen Duft einprägen. Mit seinem ausgeprägten Geruchssinn konnte er mich und andere Bekannte schon aus einiger Entfernung erkennen. Nervös erwartete ich schon eine ähnliche Untersuchung meines Gesichts, aber sie kam nie.
Nach kurzer Zeit erkannte er mich, sobald ich in die Nähe der Tische kam, und begrüßte mich mit: »Hi, Mr Bradford!«, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. Mir fiel auf, dass er mich seit unserem ersten Treffen »Mr Bradford« nannte. Alle anderen nannte er beim Vornamen, mich nicht. Ich habe keine Ahnung, warum.
Bei meinen folgenden Besuchen stellte ich fest, dass ich offenbar nicht der einzige Gast bei Mrs Winner’s war, den die Anwesenheit des kleinen blinden Jungen rührte. Hin und wieder entdeckte ich Geld, meist einen Zehn- oder Zwanzig-Dollar-Schein, den jemand sorgfältig gefaltet unter sein ramponiertes Radio geschoben hatte. Wenn ich ihn danach fragte, sagte er: »Davon weiß ich nichts. Dass da Geld auf meinem Tisch liegt, wusste ich nicht. Wie viel ist es?«
Offenbar hatten nette Menschen bemerkt, dass sich der kleine Junge hier vor aller Augen zu verstecken versuchte, und wollten ein wenig helfen. Ich fragte mich, wie viele ihn wohl sahen und weitergingen, ohne etwas zu tun. Ich gestehe sofort, dass ich selbst in dieser Hinsicht überhaupt nichts vorzuweisen hatte, bevor ich HK kennenlernte. Ich könnte die endlosen Male gar nicht zählen, die ich meinen Blick von den Obdachlosen, die in der Stadt um Geld für Essen baten, abgewandt hatte, oder an den ungepflegten Veteranen vorbeigefahren war, die mitten auf einer belebten Kreuzung in Nashville ein Schild hochhielten: »Arbeit gegen Essen«. Glauben Sie mir, ich weiß, wie es ist, die Armen zu ignorieren und meine Augen vor den Randgruppen zu verschließen, die unter uns im Verborgenen leben. Aber Gott hat mir eine zweite Chance eingeräumt und diesmal hatte ich etwas zu geben: Interesse, Unterstützung und sehr viel Zeit.
HKs trübselige Wochenenden in der Imbissstube und sein monotoner Alltag gingen mir nicht mehr aus dem Kopf und trübten die Gemütlichkeit unseres heimeligen Fleckchens Erde. Ich spürte, wie eine Hand mich behutsam anstupste, anschob und vorantrieb. Gott hatte mich genau da, wo er mich haben wollte.