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DIE WUNDERVOLLE PEARL UND IHR STAMMBAUM

Pearl Derryberry – Grammy, wie HK sie nennt – beteiligte sich in ihren Pausen gelegentlich an unseren Tischgesprächen. Nach und nach erfuhr ich wichtige Teile der Familiengeschichte von HK und seiner Oma. Freunde und Bekannte konnten sie an einer Hand abzählen. Ihr nicht vorhandenes soziales Netz bestand aus zufälligen Gesprächen mit Stammgästen.

Ich bin sicher, dass Pearl unsere sporadische Gemeinschaft ebenso sehr genoss wie HK. Sie hatte herzzerreißende Geschichten eines ganzen Lebens zu erzählen, aber niemanden, der sie hören wollte. Sie war eine hervorragende Erzählerin und ich ein aufmerksamer Zuhörer. Oft reichten ihre Geschichten in die Zeit ihrer eigenen Kindheit zurück oder nahmen eine düstere Wendung, wenn sie »den Unfall« erwähnte – ein Ereignis, das offenbar alles verändert hatte. Als ihr Vertrauen wuchs, redete meistens sie, während ich zuhörte und die Puzzleteile ihrer Geschichte zusammenfügte. Sie erzählte Trauriges über ihre Eltern, über ihre eigene verheerende Ehe und ihre beiden Söhne. Ich lauschte ihren Kindheitserinnerungen auf der Farm, erfuhr von ihren letzten Arbeitsstellen und hörte eine ganze Geschichtensammlung über HK. Natürlich fragte ich mich, was HKs Eltern zugestoßen war, und als an einem Samstagnachmittag die Mittagsgäste gegangen waren und Pearl eine lange Pause bevorstand, kam der Zeitpunkt, an dem sie die Bombe platzen ließ, auf die ich schon lange gewartet hatte. Es war still in der Imbissstube und sie hatte einen aufmerksamen Zuhörer vor sich.

Ich lauschte ihrer bewegenden Erzählung. Zum Teil konnte sie die Geschichte aus ihrer eigenen Erinnerung wiedergeben, andere Teile hatte sie sich aus den Bruchstücken zusammengereimt, die ihr Sohn William im Laufe der Zeit erzählt hatte. Auch sie kannte noch immer nicht alle Einzelheiten des Geschehens, da sie selbst nicht dabei gewesen war, aber das hielt sie nicht davon ab, alles detailliert zu schildern.

Als Einzelkind und »Landei« wusste Pearl, was harte Arbeit bedeutete, vor allem wenn ihr Vater Hilfe auf der Farm benötigte. Sie konnte es gar nicht erwarten, das triste Landleben in Maury County in Tennessee hinter sich zu lassen und eine bessere Zukunft in der Großstadt Nashville zu beginnen. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und entwickelte sich zu einer kleinen, stämmigen Frau, deren Proportionen zwar perfekt für die Landwirtschaft waren, dabei allerdings weniger attraktiv für das andere Geschlecht.

Sie erzählte von der Rastlosigkeit, die die Gene ihres Familienstammbaums von der Wurzel bis zur Krone durchzog. Entgegen des vehementen Einspruchs ihrer Eltern brannte sie mit dem ersten Mann durch, mit dem sie je zusammen war – John –, und ging prompt mit 19 Jahren in Illinois die Ehe ein. Schon damals war sie sich ihrer Gutgläubigkeit bewusst und dass sie für Männer leichte Beute war. Beim Nachdenken über ihre falschen Entscheidungen im Leben gebrauchte sie eine interessante philosophische Formulierung: »Ich habe mit 19 einen Kredit aufgenommen, für den ich noch immer Zinsen zahle.« Man könnte es »Pearls Perle der Weisheit« nennen.

Ihre Ehe hielt zwei Jahre und drei Tage, von denen sie vielleicht sechs Monate mit John gemeinsam verbrachte. Er war ein Fernfahrer mit Abenteuerdrang und aufbrausendem Temperament. Trotz der seltenen gemeinsamen Stunden entsprangen ihrer Ehe im Abstand von dreizehn Monaten zwei Söhne: William, der Erstgeborene, war ein genaues Abbild seines flatterhaften, unzuverlässigen Vaters. Sie war bloß dankbar, dass Jimmy, ihr Nesthäkchen, mehr nach seiner Mama kam.

Als die zum Scheitern verurteilte Ehe schließlich auseinanderging, kehrte Pearl mit ihren Jungs nach Tennessee zurück. Fest entschlossen, jede Erinnerung an ihr gescheitertes Leben mit John auszulöschen, ging sie den ungewöhnlichen Schritt, für ihren Nachwuchs eine Namensänderung in Derryberry zu beantragen. Sie fand beim damaligen Gaswerk in Nashville eine einfache Stelle in der Buchhaltung und zog allein in die Stadt, während ihre Jungs mehr als eine Stunde Fahrt entfernt auf der Farm ihrer Großeltern lebten. Ihr Ex-Gatte hatte ihr bei einem vergeblichen Versöhnungsversuch mit seinen Söhnen das Auto gestohlen. So blieb ihr keine andere Wahl, als jedes Wochenende mit dem Bus zu ihren Jungs zu fahren. 25 Jahre würden vergehen, bevor sie John wiedersahen.

Jimmy kam gut mit dem Farmleben und unter einem Dach mit den Großeltern zurecht und brachte die Schule offenbar unbeschadet von seiner Familiengeschichte hinter sich. Aber Williams Ruf als ebensolcher Satansbraten, wie sein Vater einer gewesen war, blieb für immer bestehen.

Williams rebellisches Jugendalter brachte ihn mit Sprüche klopfenden Außenseitern zusammen und endete schließlich auf der falschen Seite des Gesetzes. Schon früh im Leben entwickelte er einen Hang zu Drogen und Alkohol. In betrunkenem Zustand wurde er so prahlerisch und arrogant, dass er die ungeheuerlichen Märchen vermutlich selbst glaubte, die er seinen Freunden auftischte. Für die Schule brachte er keinerlei Interesse auf und brach sie vor Ende der zehnten Klasse ab.

Zehn Jahre später, nach einem 19-monatigen Zwischenstopp beim Militär, einer gescheiterten Ehe und einem Gefängnisaufenthalt, lernten sich William Howard Derryberry und Mary Kay Moon Davidson kennen und ihm gefiel sehr, was er sah. Ihr familiärer Hintergrund war nicht besser als sein eigener. Marys hart schuftende Eltern fuhren in vielen Überstunden Güter durchs Land, waren tagelang nicht zu Hause und hatten viel zu wenig Zeit, um das frühreife Mädchen zu erziehen. Eine liebevolle und fürsorgliche Familie oder auch nur enge Familienbeziehungen hatte sie nie erlebt.

Mary hatte überlebt, indem sie sich als Frau verkleidete, die im Körper eines Kindes steckte. Sie entwickelte sich körperlich viel früher als andere Mädchen ihres Alters und zog schon in der Grundschule die Blicke der Männer auf sich. Wie die meisten Mädchen sehnte sich Mary zutiefst nach der Zuneigung, Aufmerksamkeit und Bestätigung ihrer Eltern, vor allem ihres Vaters. Mit ihrem dunklen Haar, ihrem olivfarbenen Teint und dem strahlenden Lächeln konnte sie Männern leicht den Kopf verdrehen – und sie beherrschte diese Kunst. Mary hatte nur wenige Freundinnen, nichts mit ihnen gemeinsam und Gleichaltrige schlossen sie aus. Wie zu befürchten war, schmiss sie die Schule vor Ende der siebten Klasse, ohne dass ihre kaum anwesenden Eltern eingeschritten wären. Mit 14 wurde sie schwanger und gab ihr erstes Kind zur Adoption frei.

Zwar wohnten sie nur wenige Kilometer auseinander, aber Mary hatte William vor ihrem 18. Geburtstag noch nie getroffen. Ihre kurze Beziehung war nur ein weiterer Zwischenhalt auf ihrem kurvenreichen Weg ins Erwachsenenleben. Sie zogen zusammen, ohne zu heiraten, und landeten in einem Teufelskreis, der tief in ihren Stammbäumen wurzelte. Sie zogen in ein kleines, heruntergekommenes Mietshaus auf dem Land, das fast am Ende einer schmalen Landstraße in einem verlassenen Winkel in Maury County lag.

Maury County ist übersät mit Orten, die Namen haben wie Fly, Santa Fe (das »Santa Fi« ausgesprochen wird), Culleoka, Sawdust und Hampshire, und war Heimat von Generationen ärmlicher Farmer, die Tabakanbau und Viehwirtschaft betrieben. Sie bewirtschafteten dasselbe fruchtbare Land, das 125 Jahre zuvor als Schlachtfeld im Bürgerkrieg so viel Tod und Zerstörung mitansehen musste. Nicht einmal 30 Minuten südlich von Nashville gelegen, hat Maury County der Countrymusik reichlich Anschauungsmaterial geboten. Ein Besuch in jedem beliebigen dieser verschlafenen Nester genügt, um festzustellen, dass kein Klischee aus den echten Countrysongs erfunden ist. Es ist die Realität, wie man sie in Hunderten solcher Ortschaften antrifft.

Genau wie ihr Freund hatte Mary schon früh im Leben mit dem Trinken begonnen. Vielleicht gab der Alkohol ihr Hoffnung und linderte den Schmerz, vielleicht war er Medizin gegen ihre aktuelle Situation und ihre schrecklichen Kindheitserinnerungen. Vielleicht beruhigte er auch vorübergehend ihre Sehnsucht nach Glück. Jedenfalls geriet Marys Leben erneut außer Kontrolle, als sie 19 war. Nur zwei Wochen nachdem sie den 26-jährigen Erntehelfer kennengelernt hatte, verriet ihr ein Schwangerschaftstest, was sie ohnehin schon wusste: Es war wieder ein Kind unterwegs. Und ohne Williams Versprechen, dauerhaft für sie da zu sein, sah Marys Zukunft düsterer aus als je zuvor.

Für immer beste Freunde

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