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DIE WIRKLICHKEIT KEHRT EIN

Als wir uns eines Samstags unterhielten, öffnete sich Pearl ein wenig mehr und sie erzählte mir über William, HKs Vater. Obwohl er völlig unfähig war, sich um seinen Sohn zu kümmern, war er nach dem Unfall noch fünf Jahre in Nashville geblieben. »Und dann«, erzählte sie, »schneite William an einem kalten Februarmorgen, als HK fünf Jahre alt war, vor seiner Arbeit in Columbia bei uns herein. Ich tanke nur ungern, weil mir von dem Geruch immer übel wird. Deshalb bat ich ihn, bis zu unserem Einkaufszentrum in der Nähe hinter mir herzufahren und dort meinen Toyota-Pick-up zu betanken. Das hatte er hin und wieder schon getan, weil ich dann immer auch die Tankrechnung für seinen alten, ramponierten Lieferwagen bezahlte. Nachdem er für mich getankt hatte, füllte er seinen eigenen Wagen, kam an mein Fenster, beugte sich hinein und murmelte mit hämischem Grinsen: ›Tja, dann bis später mal.‹ Und daraufhin haben wir fast zehn Jahre lang nichts von ihm gesehen oder gehört. Dieses Gen, einfach abzuhauen, hat er wirklich von seinem Vater.«

Im Lauf der Jahre erfuhr ich bei meinen Imbissbesuchen noch viele weitere vertrauliche Einzelheiten über ihre immensen Schwierigkeiten und HKs Behinderungen. Pearl war Profi darin geworden, HKs zahllose medizinische Probleme zu bewältigen, darunter zerebrale Kinderlähmung, eine Schilddrüsenunterfunktion, Asthma, Erblindung, Krampfanfälle, eine leichte Gehirnschädigung und eine eingeschränkte Funktion seines rechten Arms und Beins. Sein linkes Bein wurde fast vier Zentimeter länger als sein rechtes, weshalb er deutlich humpelte. Seinen rechten Arm bezeichnete sie liebevoll als »Hähnchenflügel, denn wenn er läuft, wippt er auf und ab wie der Kopf eines Wackeldackels«.

Mit der Zeit lernte Pearl, HKs tägliche Medikamente zu verwalten, darunter solche, die die Schilddrüsenfunktion aufrechterhielten und gegen Krampfanfälle, Allergien und Sodbrennen wirkten. Zweimal täglich musste er Atemübungen machen, um die Asthmaanfälle zu reduzieren, und vor dem Schlafengehen brauchte er Augensalbe gegen das Austrocknen. Er wird sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein, um schon die grundlegendsten Dinge wie Toilettengänge, Baden, Anziehen, Essen und Laufen zu meistern. »Er wäre für jeden eine Herausforderung«, gestand Pearl mir.

Sie beschrieb mir die zahlreichen Operationen, die HK seit seiner Geburt über sich ergehen lassen musste und von denen einige erfolgreich gewesen waren und andere nicht. Anfangs waren die Augenspezialisten optimistisch gewesen, dass durch die OPs seine Erblindung korrigiert und eine eingeschränkte Sehfähigkeit hergestellt werden könnte. Aber die Versuche blieben erfolglos. Und nach Besuchen bei Koryphäen der Augenheilkunde wie Dr. Ming Wang aus Nashville musste Pearl mit der niederschmetternden Erkenntnis leben, dass der Schaden irreparabel war. HK würde sein Leben lang blind bleiben. Für Pearl ist HKs fehlende Sehfähigkeit seine größte Hürde: »Es würde so viel verändern, wenn er bloß eine Minute lang sehen könnte. Wie soll man jemandem Farben erklären, der sie noch nie gesehen hat?«

Zu seiner medizinischen Behandlung gehörten zweimal pro Woche Besuche im Kinderkrankenhaus zur Ergo- und Physiotherapie, dazu kamen gelegentliche Fahrten in die Notaufnahme, wenn er unter Asthmaanfällen oder schweren Erkältungen litt, die sich leicht zu einer Lungenentzündung entwickeln konnten.

Pearl offenbarte mir auch das Geheimnis seiner trostlosen Kleidung – die, wie mir aufgefallen war, sich kaum änderte, egal in welcher Jahreszeit und bei welchem Wetter. Seine schwarzen Omaschuhe waren mir von Anfang an aufgefallen. Sie erklärte mir in ihrer nüchternen Art, dass seine Füße unterschiedliche Schuhgrößen hatten und so klein waren, dass er nur Damenschuhe tragen konnte. Wegen des Größenunterschieds musste sie immer zwei Paar Schuhe kaufen. Die zusätzlichen Ausgaben glich sie aus, indem sie immer auch das gleiche Paar für sich selbst kaufte. Und durch den gleichzeitigen Kauf dreier identischer Paar Schuhe ergatterte diese gewitzte Frau einen Mengenrabatt. Praktisches Denken stand bei Pearl immer im Vordergrund. HK trug jeden Tag Shorts, weil sie sich leichter über seine Schienen ziehen ließen, und die langen, weißen Baumwollsocken, die ihm fast bis zum Knie reichten, schützten seine empfindliche Haut vor Irritationen durch die Schienen.

Auch wenn man sich all das nur schwer vorstellen konnte, klang es doch einleuchtend. Es tat mir nach wie vor zutiefst leid, was die beiden durchgemacht hatten und wie sehr sie sich abmühen mussten, um auch nur einen Hauch Normalität zu wahren.

Für immer beste Freunde

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