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»ICH WERDE SIE MEIN LEBEN LANG NIE MEHR VERGESSEN«

Meine Freundschaft mit dem behinderten blinden Jungen blühte trotz unseres Altersunterschieds von 47 Jahren schnell auf. Bei unseren regelmäßigen Treffen an dem mittlerweile vertrauten Fenstertisch wirkten wir wie zwei mürrische alte Farmer, die im Fast-Food-Restaurant ein Schwätzchen hielten.

Einmal ergriff HK mit der linken Hand vorsichtig meine rechte und sagte leise und ohne Vorwarnung: »Mr Bradford, ich habe Sie lieb. Sie sind mein bester Freund. Wenn Sie sterben, werde ich Sie mein Leben lang nie mehr vergessen.«

Ich wünschte, ich wüsste, wodurch diese plötzliche Bekundung ausgelöst worden war, aber sie traf mich völlig unvorbereitet. Ich war nur noch ein einziger Tränenstrom, und nachdem ich mich geräuspert hatte, antwortete ich: »Danke, HK. Ich habe dich auch lieb. Ich hoffe, dass ich noch lange lebe und wir noch viele, viele Jahre lang gute Freunde bleiben können.«

Er drehte sich und wandte mir sein Gesicht zu, auf dem sich das strahlendste, breiteste und herzerwärmendste Lächeln ausbreitete, das ich je gesehen hatte. Vielleicht spürte er, dass er zum ersten Mal in seinem Leben außer seiner Oma einen echten Freund gefunden hatte. Von da an nannte mich HK immer wieder seinen besten Freund und fügte manchmal hinzu: »Ich habe Sie lieb, Mr Bradford.«

Bald fuhr ich jeden Samstag und jeden Sonntag die vertraute Strecke und rollte auf den Parkplatz bei Mrs Winner’s. Wenn ich sein Gesicht nicht hinter der Scheibe sah, fuhr ich weiter, verzichtete auf meinen Kaffee und kehrte nach Hause zurück. Mir war klar, warum HK manchmal nicht da war: Pearl hatte nicht jedes Wochenende Dienst. Diese seltenen Tage hinterließen bei mir in mehrfacher Hinsicht ein Loch.

Wenn ich dagegen seine unverkennbare Silhouette sah, war ich beglückt. Ich freute mich immer auf unsere gemeinsame Zeit. Bei einer Tasse Seniorenkaffee für mich und süßem Eistee für ihn unterhielten wir uns über meinen Beruf, meine Reisen und meine Familie, während ich kleine persönliche Details über seine Schule, seine Freunde und Familie und seine Vorlieben erfuhr. Er erzählte beispielsweise, dass sein Lieblingsgericht bei Mrs Winner’s ein gut gebuttertes Brötchen mit Würstchen und Soße war. Normalerweise bekam man es nur während der Frühstückszeiten, aber dank seiner guten Beziehungen zur Küche konnte er sein Lieblingsgericht jederzeit bestellen. In der Folge unserer zunehmend beiderseitigen Gespräche sah ich ermutigende Zeichen in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Je mehr wir miteinander redeten, desto mehr verbesserten sich seine kommunikativen Fähigkeiten.

Bei meinen Wochenendbesuchen vertiefte sich unsere Freundschaft und ich lernte die ganze Bandbreite seines emotionalen Spektrums kennen. Eines Samstagnachmittags erlebte ich eine Szene, wie sie vermutlich viele arbeitende Elternteile schon durchgemacht haben. Sich vor einer langen Dienstreise voneinander verabschieden und trennen zu müssen, kann brutal sein, vor allem für kleine Kinder. Manchmal lösen solche Abschiede einen emotionalen Zusammenbruch von tragischem Ausmaß aus.

Jedes Mal, wenn ich die Imbissstube verließ, umarmte ich HK fest und sagte ihm, wie sehr ich unsere gemeinsame Zeit genossen hatte. Er erwiderte diese Geste jedes Mal, aber an diesem Nachmittag schlang er seine kleinen Arme um meinen Hals und bat mich unter Tränen, nicht wegzufahren. Seine plötzliche, verzweifelte Reaktion war kaum auszuhalten und mir schossen die Tränen in die Augen. Er war untröstlich – und zwar so sehr, dass es für die Gäste an den Nachbartischen schon störend wurde. Er machte eine so herzzerreißende Szene, dass Pearl hinter ihrer Kasse hervorkommen und mir zu Hilfe eilen musste. Sie versprach ihm geduldig, dass ich nicht für immer fortging: »Mr Bradford muss jetzt los, aber er kommt bald wieder und besucht dich.«

Pearls Schicht war beinahe um, daher blieb ich noch so lange bei ihm, bis sie Feierabend hatte. Auf dem Weg nach draußen nahm ich seine linke Hand und begleitete ihn zu Pearls Pick-up, der hinter der Imbissstube parkte. Ich öffnete die Tür, hob seine knapp 25 Kilo auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an. Da endlich ebbte seine Verzweiflung ab, als versichere ihm das Klickgeräusch, dass nicht nur seine Sicherheit gewährleistet war, sondern auch der Bestand unserer Freundschaft.

In der darauffolgenden Woche wollte Pearl mir unbedingt erklären, was hinter seinem Trotzanfall stand. »Bevor HK Sie kennenlernte, ist jeder, den er im Restaurant kennenlernte – oder überhaupt jeder –, der ihm auch nur ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit schenkte, plötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Dazu zählen auch sein Vater und sein Großvater. Jetzt sind Sie sein bester Freund und ich glaube, er hat Angst, dass ihm mit Ihnen eines Tages dasselbe passiert.«

Das half mir, den traumatischen Vorfall zu verstehen, aber es löschte nicht die Erinnerung daran, wie ich mich gefühlt hatte, als er mich nicht gehen lassen wollte. Bis heute ist es auffällig, dass das Wort »Tschüss« in seinem Wortschatz fehlt. Seine Standardantwort beim Verabschieden lautet stattdessen immer: »Mach’s gut!«

Nun hatte ich in gewisser Weise den Boden unter den Füßen verloren. Es kam nicht infrage, die Sorge meines kleinen Kumpels, dass ich mich irgendwann von ihm abwenden könnte, auch noch zu bestätigen. Ich konnte mich nicht mehr von ihm zurückziehen, ebenso wenig wie ich meine amerikanische Staatsbürgerschaft hätte aufgeben können. Mein Dilemma war nur, dass ich bereits eine wunderbare und treue Familie hatte, die ich liebte. Ich bat um Gottes Führung und suchte von ganzem Herzen nach Antworten.

Oberflächlich betrachtet könnte man diese aufkeimende Freundschaft zweifellos ein wenig ungewöhnlich finden. Das war auch die ausdrückliche Meinung einer Person, die viel mehr war als nur eine gelegentliche Beobachterin. Als HK und ich immer vertrauter miteinander wurden, stellte meine Frau meine Zurechnungsfähigkeit infrage und hatte mehr als nur ein paar kleinere Einwände. Sie sah einen 56-jährigen Mann und Vater zweier erwachsener Töchter, der sich von Herzen auf das nächste Treffen mit einem neunjährigen Jungen freute, der mehrfach behindert und weder sein Sohn noch ein anderer Verwandter war. Brenda wusste, dass ich tagsüber oft an ihn dachte. Auch unser Freundeskreis hörte häufig Geschichten über HK; kein Ereignis war zu klein, um es ihnen zu erzählen. Ich konnte einfach nicht aufhören, jedem von ihm zu berichten, der es hören wollte. Brenda nahm wachsam meine zunehmende Versessenheit wahr und gab mir zu verstehen, dass ich sehr schnell eine viel zu enge Beziehung zu diesem süßen Fratz aufgebaut hatte.

Meine ständige Beschäftigung mit HK hatte Auswirkungen auf unsere Ehe und unsere Freundschaften. Sie ließ nur wenig Freiraum für irgendjemanden oder irgendetwas sonst – Brenda und unsere Freunde eingeschlossen. Ihre extrovertierte Persönlichkeit sehnte sich nach gemeinsamen Wochenenden als Paar, Kartenspielen mit Freunden, Bootstouren und gesellschaftlichen Ereignissen. Als ich ihr Anliegen hörte – und ihr vor allem zuhörte – sah ich ein, dass ihr Vorwurf berechtigt war. Es musste sich etwas ändern. Brenda und ich brauchten gemeinsame Zeiten und dazu gehörten auch Unternehmungen mit Freunden. Deshalb beschlossen wir, uns an den Freitagabenden Zeit füreinander zu nehmen.

Für immer beste Freunde

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