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DAS WUNDERBABY
Solange Pearl erzählte, saß ich auf der Stuhlkante, gebannt und erschüttert von der Tragik, die HKs verhängnisvollen Start ins Leben umgab. Aber das war erst der Anfang. Seine Geschichte bestand nicht nur aus Herkunft und Geburt.
Über mehrere Samstagstreffen hinweg räumte Pearl ein ganzes Lager an Erinnerungen aus, und ich erfuhr, wie es kam, dass dieser kleine, blinde Wunderjunge an jenem Tag, als ich die Imbissstube betrat, an genau diesem Tisch saß.
Das Überleben des Frühchens war von Beginn an ein täglicher Kampf und stand ständig auf der Kippe. Pearl wusste, dass William nie in der Lage sein würde, ein Kind aufzuziehen, vor allem keines, das ständige Pflege und Fürsorge brauchte. Sein Leben war ein Hin und Her aus Gelegenheitsjobs und Gefängnis. So wurde Pearl mit 45 Jahren der Vormund ihres Enkelsohns.
Allein einen Enkel mit Behinderungen großzuziehen und gleichzeitig für ihren Lebensunterhalt sorgen zu müssen, war kaum das Leben, das Pearl Derryberry sich erträumt hatte. Aber sie übernahm die Aufgabe in der festen Absicht, ihrem winzigen, geschwächten Enkel eine bessere Mutter zu sein als ihren beiden Söhnen. Sie empfand den Unfall als Chance für einen Neuanfang und packte mit beiden Händen zu.
In weiser Voraussicht hatte Pearl 1986 nach einer unerwarteten Beförderung im Gaswerk ein kleines, weißes Holzhaus mit zwei Schlafzimmern gekauft, das in der Innenstadt von Nashville lag. Es war elf Kilometer von der Vanderbilt-Uniklinik entfernt, wo HK die ersten drei Monate auf der Intensivstation für Frühgeborene verbrachte. Laut Klinikordnung musste das wachhabende Pflegepersonal genau notieren, wann und um welche Uhrzeit welcher Besucher die Intensivstation betrat und verließ: Pearl Derryberrys Name ist an jedem der 96 Tage vermerkt, an denen ihr Enkel ums Überleben kämpfte.
An manchen Tagen schaute sie auf dem Hin- oder Rückweg von der Arbeit vorbei. An Tagen, an denen sich HKs Zustand verschlechterte und sie nicht freibekam, nutzte sie ihre verlängerte Mittagspause, um nach ihm zu sehen. In den einsamen, rastlosen Nächten, in denen sie die Wand anstarrte, statt zu schlafen, verschaffte ihr ein kurzer Krankenhausbesuch Trost und beruhigte die ständige Angst.
Pearl kannte nur eine Handvoll Leute in Nashville, allesamt Angestellte im Gaswerk. Ihre Mutter, die selbst alt und gesundheitlich nicht auf der Höhe war, fuhr gelegentlich von der Farm her, um Nachtwache zu halten. Sporadisch erschien auch William auf der Bildfläche, blieb aber meist fern. Seit dem Unfall hatte er mit seinen eigenen tiefen Abgründen zu kämpfen. Die traurige Realität war, dass Pearl den Berg, der unbezwingbar vor ihr aufragte, auf eigene Faust überwinden musste: Sie bewältigte das alles einsam und ohne soziales Netz, ohne Familie und Freunde – eine Stunde, einen Tag und einen Schritt nach dem anderen.
Als Pearl einmal frühmorgens, nur wenige Tage nach HKs Geburt, die Kinderstation betrat, winkte eine Schwester sie wortlos auf den Flur. Pearl war schon aufgefallen, dass mehr als der übliche Pulk aus Medizinern HKs Bettchen umgaben. Die Schwester teilte ihr mit, worauf sie nicht vorbereitet war: In der Nacht war in seinem Gehirn eine Blutung aufgetreten – eine Blutung vierten Grades, der schlimmsten Form. Eine OP war zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen und es bestand so oder so nur geringe Hoffnung, dass HK überlebte. Daher stopften sie ihn mit Antibiotika voll, untersuchten ihn mehrmals täglich per Ultraschall und warteten ab. Pearl hoffte und betete für einen guten Ausgang, aber ihr Bauchgefühl ließ sie anderes befürchten. In den vier Tagen darauf fuhr sie nur nach Hause, um zu duschen und sich umzuziehen. Am fünften Tag zeigte die Computertomografie, dass die Blutung gestillt war und das ausgetretene Blut zurückging. Pearl verbuchte es als Wunder. Später sagte man allerdings, dass diese schlaganfallähnliche Episode wahrscheinlich die Ursache für die Lähmung und die mangelnde Entwicklung der rechten Körperhälfte ihres Enkels war, was schließlich als Zerebralparese – Kinderlähmung – diagnostiziert wurde.
Nachdem das Frühchen diesen Rückschlag überlebt hatte, verbesserte sich sein Zustand auf ungeahnte Weise, ließ Ärzte, Schwestern und Pearl ein wenig durchatmen und füllte das helle Krankenhauszimmer mit vorsichtigem Optimismus. Nachdem die Krise überstanden war, stellten die Ärzte die intravenöse Antibiotikazufuhr ein. Aber zwei Tage später litt HK unter schwerer Atemnot und die Hoffnung auf eine schnelle Genesung verblasste wie eine neue Jeans.
Die Ärzte diagnostizierten einen »persistierenden Ductus arteriosus«, kurz PDA, eine lebensbedrohliche Fehlbildung des Herzens und das häufigste Problem bei Frühchen. Die Kinderspezialisten erklärten HKs jüngstes Leiden umständlich damit, dass sich ein nur im Mutterleib notwendiger Durchfluss zwischen zwei Adern nicht wie vorgesehen geschlossen hatte. Dadurch konnte das Blut nicht normal in seine neu entwickelten Lungen fließen. Wieder waren alle Möglichkeiten für eine OP vom Tisch und seine Überlebenschance sank von Stunde zu Stunde.
Die Ärzte legten HK erneut an den Antibiotika-Tropf und unter ein Sauerstoffzelt in der Hoffnung, seinem geschwächten Körper Zeit zu verschaffen, damit er die heikle Herzklappenoperation überstehen konnte. Ihr medizinisches Gespür half ihm über den Berg und nach einem Monat war er stabil genug für den Eingriff. Die Herz-OP verlief erfolgreich, aber später stellten die Ärzte fest, dass die monatelange erhöhte Sauerstoffzufuhr eine sogenannte Frühgeborenen-Retinopathie zur Folge hatte, eine gestörte Blutgefäßentwicklung im Auge, die zu Netzhautablösung und Erblindung führen kann.
Am 11. Oktober 1990 nahm Pearl ihren winzigen Enkel endlich mit nach Hause. Ihr verständnisvoller Vorgesetzter im Gaswerk gestand ihr flexible Arbeitszeiten zu, lange bevor dieses Konzept verbreitet war. Aber arbeiten musste sie dennoch und daher brauchte sie dringend zusätzliche Hilfe bei der Pflege des Säuglings. Jimmy, ihr jüngerer Sohn, war wie sein Vater Fernfahrer geworden und ständig auf Achse. Außerdem war seiner Ansicht nach sein älterer Bruder dafür verantwortlich, sich zu Hause um seinen kleinen Sohn zu kümmern. William fand schließlich eine Anstellung bei einer Firma, die Parkplätze an Flughäfen anbot, und konnte nach Nashville ziehen, war aber keine große Unterstützung. Mit seinem unberechenbaren Jähzorn und seiner nahezu manisch-depressiven Persönlichkeit konnte er gerade einmal gelegentlich die Windeln wechseln oder Babynahrung aus dem Kühlschrank holen. Zusätzliche Unterstützung kam, als Pearls kränkliche Mutter für eine Woche nach Nashville fuhr. Sie blieb schlussendlich zwei Jahre lang.