Читать книгу Für immer beste Freunde - Jim Bradford - Страница 9
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DER KLEINE TASCHENDIEB
Ich kann gar nicht genau sagen, warum, aber der Anblick dieses kleinen Jungen weckte ganz tiefe Gefühle in mir. Obwohl ich nie jemanden mit Behinderung persönlich kennengelernt hatte, waren mir behinderte Kinder in der Öffentlichkeit immer aufgefallen. Aber ich hatte nie den Mut gehabt, sie oder ihre Begleiter anzusprechen. Zuerst hatte ich immer Mitleid empfunden, dann Erleichterung und schließlich Dankbarkeit für meine gesunde Familie. Heute führten meine Gedanken mich in eine andere Richtung, die gar nicht typisch für mich war. Statt wie so viele Male zuvor einfach weiterzugehen, spürte ich diesmal einen leichten Drang, zu diesem kleinen Jungen hinzugehen.
Ich warf mein Rührstäbchen in den nächsten Mülleimer, und als ich mich umdrehte, sah ich eine weitere Imbissangestellte. Eine schmächtige junge Frau mit feuerroten Haaren stand hinter der Theke und füllte Plastikgeschirr in einen großen Pappkarton. Laut Namensschild an ihrem roten T-Shirt, auf dem ein großes, gelbes Huhn prangte, hieß sie Helen.
»Helen, wer ist der kleine Junge an dem Tisch dort drüben?«, fragte ich zögerlich.
Sie lächelte und erwiderte: »Ach, das ist HK; er ist unser kleiner Liebling, Pearls Enkel.«
»Und wer ist Pearl?«, hakte ich nach.
»Unsere Kassiererin«, sagte Helen und deutete auf die lächelnde Dame am anderen Ende der Theke – die Dame, die mir soeben meinen ersten Seniorenkaffee eingeschenkt hatte. Es ging mich ganz und gar nichts an, aber der Anblick des Jungen, der da allein in der leeren Imbissstube saß und Radio hörte, irritierte mich und ich musste mehr erfahren.
»Was macht denn ihr Enkel hier?«, fragte ich Helen leise.
»HK lebt bei Pearl. Sie hat am Wochenende niemanden, der auf ihn aufpasst, deshalb kommt er immer mit«, gab sie geduldig zurück.
»Und wie lange sitzt er dann da?«
»Ach, meist nur von acht bis fünf.«
Ohne nachzudenken stieß ich aus: »Sie machen wohl Witze! Er sitzt da jeden Tag neun Stunden lang?«
Helens Blick und ihre Antwort waren gereizt: »Wenn Pearl in der Woche arbeitet, geht er zur Schule; er sitzt da also nicht jeden Tag!«
Ihr nächster Satz traf mich völlig unerwartet und bis ins Mark: »Er ist blind und hat Kinderlähmung.«
Mein Kinn begann zu zittern und in meinem rechten Auge sammelte sich eine große Träne. Plötzlich war die Tasse Kaffee unwichtig. Langsam und bedächtig ging ich auf seinen Tisch zu, um ihn besser sehen zu können. Er sah noch kleiner aus als vorhin und gemessen an seiner Größe wirkte er nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Sein Bürstenhaarschnitt war schon länger herausgewachsen und er trug ein schlichtes Baumwoll-T-Shirt, das vorne offenbar mit Frühstücksresten bekleckert war. Aber am meisten schockierte mich die verknitterte kurze Kaki-Hose, die er an diesem ungewöhnlich kalten Oktobermorgen trug.
Als ich näher kam, konnte ich die weißen Plastikschienen noch besser erkennen, die beide Unterschenkel stützten. Sie waren anders als die Schienen, die ich bisher gesehen hatte. Sie steckten fest in seinen Schuhen und endeten erst kurz unter dem Knie. Lange weiße Baumwollstrümpfe reichten ihm bis über seine Unterschenkel und endeten kurz vor den Schienenrändern.
»Hey, Kumpel«, sagte ich leise, als ich seinen Tisch erreichte.
»Wie heißen Sie?«, antwortete er.
»Jim. Und wie heißt du?«
»Ich bin HK.«
»Wofür steht denn HK?«
»Für nichts, ich heiße einfach HK.«
»HK, schön dich kennenzulernen.«
»Schön, Sie kennenzulernen. Wo wohnen Sie?«
»In Brentwood.«
»In welcher Straße?«
»Im Harpeth River Drive.«
»Von wo zweigt die Straße ab?«
»Vom Old Hickory Boulevard«, antwortete ich.
»Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?«, fragte HK.
»Um sechs«, erwiderte ich.
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich habe geduscht.«
»Und dann?«
»Dann habe ich mich angezogen.«
»Und dann?«
»Dann habe ich mich bei McDonald’s mit meinen Tennispartnern getroffen.«
Wie ein hartnäckiger, erfahrener Polizeibeamter führte er das strikte Verhör weiter. Nachdem er mich ein paar Minuten lang ununterbrochen ausgehorcht hatte, dachte ich: Wow, das ist ja mal ein lustiges Kind!
Er traktierte mich weiter mit Fragen und ich antwortete. In einer kurzen Pause nahm er meine Hand und befühlte sie, als begutachtete er ein besonderes Kunstobjekt. Dann hob er sie an seine Nase, wie ein Welpe, der spielerisch seinen Besitzer beschnüffelt, und prägte sich meinen typischen Geruch ein. Eine Viertelstunde später wollte ich los.
»Ich habe mich gefreut, dich kennenzulernen, HK. Ich hab heute noch einiges zu erledigen und muss jetzt gehen.«
»Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder«, sagte er zögernd.
»Ich auch«, antwortete ich mit einem gehörigen Knoten im Hals.
Als ich mich umwandte und meinen neuen Freund zurückließ, wurde ich Opfer des größten Diebes der Stadt. Wie ein Taschendieb, der unter ahnungslosen Touristen in den Kneipen Nashvilles sein heimliches Handwerk betreibt, hatte HK Derryberry das perfekte Verbrechen begangen: Er hatte mein Herz gestohlen.
In Gedanken ging ich die lange Liste mit Erledigungen durch, die mir an diesem Samstag bevorstanden. Die meisten davon hatte Brenda mir aufgetragen. Ich lief sehr viel langsamer als auf dem Hinweg. Das Wetter, der Verkehr, die Tageszeit traten in den Hintergrund. Ich rollte vom Parkplatz bei Mrs Winners, aber dieser kleine, blinde Junge ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Mir fiel ein, dass ich den verlockend heißen Becher Kaffee gar nicht angerührt hatte, aber das war nun egal.
Den ganzen restlichen Tag über gingen mir Fragen durch den Kopf. Beim Gedanken an das gründliche Verhör musste ich grinsen. Dabei hatte ich selbst auch so einige Fragen: Wo waren seine Eltern? Wie groß waren seine gesundheitlichen Probleme? Wo wohnte er? Ich merkte, dass ich beim Versuch, meine To-do-Liste abzuarbeiten, ziellos durch die Gegend fuhr. Der Gedanke an seinen leeren Blick, seine dreckige Kleidung und die weißen Beinschienen nagte an mir. In Ermangelung von Taschentüchern mussten die Ärmel meiner Trainingsjacke für meine tränenden Augen herhalten. Ich wusste absolut nichts über ihn oder sein Leben, außer dass er sein Wochenende im Fast-Food-Imbiss verbrachte.
Schließlich hatte ich alles erledigt und fuhr wieder nach Hause. Ich stellte die Einkaufstüten auf die Küchenarbeitsplatte und erzählte meiner Frau von der unerwarteten Begegnung. Ich schwärmte von dem lustigen, kleinen Jungen, erzählte von seinem traurigen Anblick und seinen bohrenden Fragen. Aber sie erkundigte sich nicht weiter nach ihm, also erwähnte ich ihn an diesem Wochenende nicht mehr. Die Predigt am Sonntagmorgen über tiefe Beziehungen im Leben schlug eine weitere Saite in meinem Gefühlsleben an und erneut hatte ich gegen Tränen zu kämpfen.