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SONNTAGSKIND

Einen Monat nachdem HK die Klinik verlassen hatte, kam Pearls Alltag wieder in eine erträgliche Balance. Doch die beiden blieben auch weiterhin vertraute Gesichter auf der Kinder-Intensivstation. HKs schwache Lungen konnten Bronchitis, Lungenentzündung und Asthma nicht allein bewältigen. Eine Weile lang aß er nichts, war matt und bekam Gelbsucht. Nach einer Reihe von Tests diagnostizierten die Endokrinologen schließlich eine gefährliche Schilddrüsenunterfunktion, gegen die er sein Leben lang Medikamente einnehmen muss. Während seines gesamten Aufenthalts in der neonatalen Intensivstation, bei etlichen Operationen, anschließenden Klinikaufenthalten, in Physiotherapie und intensiver Beratung genoss HK eine medizinische Spitzenbehandlung durch die Spezialisten der Vanderbilt-Uniklinik und des Kinderkrankenhauses. Ohne ihr außerordentlich hohes Maß an Betreuung hätte er schlichtweg nicht überlebt und Pearl war enorm dankbar dafür, dass fast alle der immens hohen medizinischen Ausgaben von staatlichen Gesundheitsfonds bezahlt wurden.

Mit achtzehn Monaten, wenn die meisten Kinder schon ihre ersten tapsigen Schritte machen, bemühte sich HK, mobil zu werden. Wegen seiner rechtsseitigen Lähmung konnte er nicht normal krabbeln, doch er ließ sich nicht beirren und entwickelte eine Rutschtechnik ähnlich einer zur Seite schlängelnden Klapperschlange. Es funktionierte perfekt. Wie jedes Krabbelkind kam er, wohin er wollte, nur ein wenig langsamer und mit seiner eigenen, unverwechselbaren Technik.

Über den Hartholzboden zu rutschen, und sei es auch nur eine kurze Strecke, war allerdings nicht gut für seine empfindliche Haut. Deshalb schuf Pearl eine Spielfläche, die 1,20 mal 3 Meter maß und aus einer Gummimatte von etwa fünf Zentimetern Dicke bestand, weich war wie ein Kissen und viel Platz zum Bewegen bot. Auf den Boden daneben stellte sie drei weiße Plastikbehälter mit Windeln, Hautlotion, Puder und anderem Babyzubehör.

Eines Abends wuschen Pearl und ihre Mutter gemeinsam das Geschirr vom Abendessen ab und ihre Mutter wollte sie ein wenig aufmuntern. Unter ihren Weisheiten gab es eine, die Hoffnung mit einer Portion Realismus vermischte: »Das Leben ist nie so gut, wie es aussieht, oder so schlecht, wie es scheint.« In Pearls Ohren klang das sehr wahr. Als sie sich weiter über ihr jeweiliges Leben mit allen Schwierigkeiten unterhielten, merkten sie plötzlich, dass es ungewöhnlich still geworden war im Haus.

Voller Sorge, dass dem Kleinkind etwas zugestoßen sein könnte, stürzten sie ins Wohnzimmer. Was sie dort vorfanden, vergaßen sie anschließend nie wieder: HK war um den Spielbereich herumgerutscht und hatte in einer der weißen Plastikkisten ein geheimnisvolles Gefäß gefunden. Irgendwie war es ihm gelungen, die Kiste zu öffnen, und er hatte darin zu seiner maßlosen Freude eine große Dose Vaseline entdeckt.

Beide Frauen verharrten stumm bei diesem Anblick: HK hatte die Vaseline nicht nur gefunden, sondern es auch geschafft, den Deckel zu öffnen und sich von Kopf bis Fuß mit der herrlichen Schmiere zu überziehen! Das ungewohnte Gefühl auf der Haut musste er als besonders angenehm empfunden haben, denn er hatte seine winzige Hand immer wieder in die Cremedose getaucht, bis sie leer war. Mutter und Tochter begannen laut zu lachen, bis ihnen die Tränen kamen. Jeder Versuch, etwas zu sagen, endete nur in weiteren unkontrollierbaren Lachanfällen. Eine Aufmunterung war genau das, was sie gebraucht hatten, und an diesem Abend bekamen sie sogar eine besonders große Portion davon. Pearl beschrieb die Szenerie mit den Worten: »Er sah aus wie eine riesige geschmolzene Kerze mitten im Laufstall.« Um solch seltene glückliche Momente neben den Bergen von Sorgen nicht zu vergessen, holte sie ihre alte Polaroidkamera hervor und hielt die geschmolzene Kerze fest, die einen unvergessenen Abend lang den Wohnzimmerboden zierte.

Trotz solcher humorvoller Augenblicke war das Leben weiterhin alles andere als leicht. Nach ihrer schwierigen Vergangenheit – und verstärkt durch die Tatsache, dass sie morgens nur schwer aus dem Bett kam – war sie immer schon der Meinung gewesen, dass ein neuer Morgen nichts Gutes bereithalten konnte. Und nun sah ihre Zukunft ebenso düster aus wie ihre Vergangenheit.

Ein Kinderreim der Märchenfigur Mutter Gans beschrieb Pearls Zukunft so:

Montagskinder haben ein hübsches Gesicht

Dienstagskindern fehlt die Anmut nicht

Mittwochskinder tragen viel Leid

Donnerstagskinder haben’s noch weit

Freitagskinder lieben gern und geben

Samstagskinder rackern sich ab im Leben

Und die Kinder geboren am Tag des Herrn

sind munter und fröhlich und lachen gern.

Sie erklärte mir, wie sie den kleinen Reim verstand: »HK ist ein Sonntagskind und ich bin ein Mittwochskind. Ich muss mich jeden Tag bemühen, meine negative Haltung zu überwinden.«

Und das schaffte sie. Von HKs erstem Tag zu Hause an vermied sie es bewusst, dunkle Wolken über ihrem Enkel aufziehen zu lassen. Stattdessen entschied sie sich für das warme Sonnenlicht aus positiver Bestärkung und unaufhörlicher Ermutigung. »Tu als ob, bis du so bist« wurde zu ihrem ständigen Motto. Jeden Morgen begrüßte sie ihn mit den Worten: »Guten Morgen! Ist heute nicht ein wundervoller Tag?« Sie zauberte Glück und Optimismus herbei, selbst wenn die Welt um sie herum zusammenbrach.

Pearl schaffte es, ein Leben zu bewältigen, das sie sich nie gewünscht hatte, indem sie die Zukunft so anging, wie sie es immer getan hatte: einen Tag nach dem anderen. Und sie tat es mit ungebrochenem Mut und fester Entschlossenheit. Fragte man sie im Vorübergehen, wie es ihr gehe, gab sie immer ihre Standardantwort, belegt mit einer dicken Scheibe reinem Sarkasmus: »Bestens, bestens, bestens!« Aber Pearl Derryberry hatte etwas, das keine Fassade und kein Versteckspiel erforderte: Sie hatte Grips, und zwar eine Menge davon.

Für immer beste Freunde

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