Читать книгу Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz - Страница 25

11. Kapitel: Heimfahrt und Hunger

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Inhaltsverzeichnis

Am Dienstag, dem 13. Juli, um ein Uhr lichteten wir die Anker zur Heimreise. Der Lotse war an Bord gekommen, ein Kreole mit großem Strohhut, weißem Hemd, weißer Hose und mit einem ungeheuren Parfümbeutel im Gürtel. Moschus oder Patschuli roch man auf einmal vom Heck bis zum Bug. Er schien sich übrigens viel auf diese Stinkbombe einzubilden, denn er ging mit komischstolzen Schritten und ohne mit jemandem zu sprechen auf dem Achterdeck spazieren, wobei er sich selbstgefällig in den Hüften wiegte.

Das Wetter war uns ungünstig. Nach der stürmischen Nacht herrschte jetzt fast Windstille. Schlimm für uns, denn wir mußten zwischen vielen Inseln hindurch und an Sandbänken vorbei, die nur zum Teil durch Bojen gekennzeichnet waren. Da ohne Hilfe des Windes zu operieren, erforderte die größte Aufmerksamkeit und Mühe. Es gab ein paar Tage keinen Schlaf für uns. Immer mußten wir bereitstehen, bald um das Schiff zu wenden oder Segel zu setzen, resp. festzumachen, bald um Anker zu werfen oder aufzuleiern. Die letztere Arbeit wurde mittels eines hölzernen Spills verrichtet. Die Ankerketten waren meist mit einer dicken Schicht Schlamm oder Korallen besetzt und rutschten häufig von der glatten Spillwalze ab. Da hieß es arbeiten, bis uns der Schweiß am Nacken herunterlief.

Ich ging barfuß, weil ich wegen meiner wunden Füße keine Schuhe mehr anziehen konnte. Dazu war noch Rost in die Wunden gekommen, so daß sie zu eitern anfingen. Aber wenn jetzt tags oder nachts – gewöhnlich, wenn man sich eben für ein Stündchen hinlegen durfte – die verhaßten Kommandos des Lotsen erklangen, »hiv Anker!« oder »boutship!«, dann mußte auch ich mit den anderen an Deck stürzen. Der Lotse hatte übrigens zwei Leute mitgebracht, die beim Brassen der Segel mithalfen und dafür, wie sie uns sagten, fast nichts vom Kapitän zu essen bekamen.

Lange Zeit brauchten wir, um eine Boje zu umschiffen. Endlich glückte es doch, und nun setzte auch ein etwas besserer Wind ein. Jahn mußte den Piloten und seine Helfer an einer Insel absetzen. Er hatte einen kleinen Bootsanker mitbekommen und erzählte, als er zurückkehrte, daß ihnen dieser ins Wasser gefallen sei.

Wir schätzten den Wert des Ankers auf hundert Mark. Nun, das war Schiffseigentum. Die Lotsen werden sich wohl die hundert Mark später wieder heraus gefischt haben. – – –

Hurra Brise!! Fort ging es in freiem Fahrwasser »vor dem Winde«. Seewachen wurden eingerichtet, an denen ich diesmal auch teilnehmen mußte, und das Seeleben begann wieder. Ich hatte also abwechselnd vier Stunden zu arbeiten und vier für mich, Tag und Nacht hindurch, und erhielt nun etwas angenehmere Arbeiten. Meistens ließ man mich die vier Stunden am Ruder stehen, was bei nicht zu bewegter See recht bequem war. Ich beobachtete dann das Schlenkern des Schiffes, betrachtete das Wogen, Rollen, Tanzen, Spritzen, Wiegen des Meeres, träumte und überdachte tausenderlei Dinge. Dabei geschah es allerdings häufig, daß ich die Kompaßnadel außer acht ließ und plötzlich zu meinem Schrecken wahrnahm, daß ich einen ganz falschen Kurs steuerte. Wehe, wenn dann der Alte oder Steuermann dazukamen! Gelang es mir in solchen Fällen auch manchmal, noch schnell die Nadel auf den alten Strich zu bringen, so sah doch der Alte gewöhnlich an dem Zickzacklauf des Kielwassers, wie ich gesteuert hatte.

»Seppl, – – Bengel«, sagte er dann, mir mit der Faust drohend, »du fährst wieder spazieren.« Der Steuermann drückte sich gewöhnlich etwas handgreiflicher aus. Auch auf den Ausguckposten stellte man mich. Auf der Back schritt ich dann barfuß mit schnellen Schritten auf und ab. Ich hatte die See zu beobachten und etwaige Schiffe oder Inseln und dergleichen zu melden.

Jetzt empfand ich eine leise Angst, daß meine Sehschärfe auf die Dauer nicht den Anforderungen des Seelebens genügen würde, wie mir das Baron Schrenk, ehe ich zur See ging, vorausgesagt hatte. Damals hatte ich die freundliche Warnung des erfahrenen Weltreisenden wenig beachtet, aber schon während der Hinfahrt nach Belize hatte ich erfahren, wie scharf man auf See oft ausspähen muß und wie schlecht ich im Vergleich zu den anderen Seeleuten sah.

Eines Nachts, als ich auf Ausguck stand, kam August auf die Back und sagte: »Mensch, siehst du nichts?«

»Nein«, entgegnete ich.

»Mensch, kiek mal dort das Licht. Du Aas hast Dreck in den Augen.«

Ich sah zwar das Licht auch jetzt noch nicht, aber ich schlug zweimal an die Glocke und rief nach achtern: »Feuer an Backbord.« Daraufhin kam Steuermann angefegt. »Wo? Wo? Wo?« rief er wichtig.

»Dort!« Ich zeigte nach der Richtung, die mir August gewiesen. »Etwa drei Striche vom Mast.« Er sah aber auch nichts, und das tröstete mich.

Auch zu anderen seemännischen Tätigkeiten wurde ich jetzt mehr und mehr herangezogen. Ich lernte die Bezeichnungen der vielen Tauenden und Segel kennen, und beim Fest- oder Losmachen der Segel wurde ich auf die höchste Rahe geschickt, um dort das Roylsegel allein zu bedienen. Ich übte mich ferner in den verschiedenen Arten des Steuerns vor dem Winde, bei dem Winde, raumen Wind und so weiter. Da ich mich aber häufig sehr ungeschickt anstellte, erhielt ich noch häufiger Schläge.

In den Freistunden durchlas ich die Briefe meiner Angehörigen, wusch oder flickte meine Wäsche und fand jetzt auch mehr Zeit, wenn auch immer weniger Papier, für mein Tagebuch.

Obwohl wir bereits eine Woche von Amerika entfernt waren, fingen wir doch noch täglich Skorpione. Häufig fielen sie von der Decke herunter. Eine Bö, die uns eines Tages überraschte, fegte den Schornstein von der Kombüse, und das heiße Rohr fiel mir auf den Hals. Ich trug eine schmerzende Brandwunde davon. »Von Wunden ganz bedeckt« – das war mein steter Zustand, und alle meine Taschentücher bis auf zwei oder drei waren schon als Verbandstoff draufgegangen.

Unser Menü wies jetzt täglich amerikanisches Büchsenfleisch auf. Ich aß das gern, aber es war kraft-und saftlos und lag wie Blei im Magen. August erzählte, daß man den Saft des Fleisches zu Fleischextrakt verwende und die in Büchsen verpackten Überreste daher fast keinen Nährwert mehr hätten. Trotzdem trug ich lange Zeit in mein Tagebuch die Notiz ein: »Heute an boiled beef überfressen.«

Harte Bohnen in Essig, ein wenig Salzspeck, rohe Mehlklöße oder Brotsuppe – weiter gab es nichts mehr, und das wenige war kaum hinunterzuwürgen.

Steuermann, der ein paar Tage krank gewesen, hatte mir gerechterweise verboten, mich auf Ausguck an Deck zu setzen. Dagegen erlaubte er mir, nachts meine Pfeife zu rauchen. Wenn ich auf seiner Wache nachts am Ruder stand, unterhielt er sich zuweilen mit mir. Gewöhnlich renommierte er dann mit seinen Kenntnissen und seinem Vermögen.

Matrose Paul wurde von August der »Schlangenmensch« genannt, weil er sehr gelenkig war. Hermann, das Gegenteil dazu, wurde »Stiefbeen« oder »Lieschen« betitelt, während Gustav den Namen »Leu« trug.

Eines Tages bemerkte ich, daß wir den 7. August schrieben. Das war mein Geburtstag. Er verging natürlich wie jeder andere Tag. Ich notierte mir aber den Verlauf ausführlich und gebe die Stelle hier wieder.

Ich habe von 12 bis 4 Uhr morgens Wache, davon zunächst zwei Stunden Ausguck. Es regnet stark, und ich muß daher sehr scharf ausspähen. Im Ölzeug steckend, smöke ich meine »Getreue«. Steuermann gesellt sich zu mir, um sich etwas Feuer für seine Pfeife zu holen und ein wenig zu schwatzen.

Die nächsten zwei Stunden bringe ich mit einem Wachtkollegen teils im Halbschlaf an Deck dösend, teils an der Schiffspumpe zu. Dann zieht die andere Wache auf, und ich schlafe köstlich in meiner Koje.

Um halb acht weckt mich der übliche Ruf:

»Rise, rise, schaffen, schaffe!!!«

Zum Frühstück. Es gibt Pfannkuchen, aus Wasser und Mehl zubereitet, und dazu Sirup, eine Kost, mit der ich unter den obwaltenden Umständen ganz zufrieden wäre, wenn sie zum Sattessen reichte. Außer diesem serviert man heißen Kaffee, oder, wie Jahn sagt, »Hurrawasser«.

Vom tiefen Schlaf in der engen Koje bin ich noch ganz in Schweiß gebadet. Ich werde eine Stunde ans Ruder geschickt.

Wegen der Halswunde kann ich noch immer nicht den Kopf drehen. Wir liegen »bei« dem Winde, und da er von mäßiger Stärke ist, habe ich Muße, den Alten zu beobachten, der schon seit einer Stunde mit gekreuzten Beinen auf dem Achterdeck sitzt und seinen Papageien »Deutschland, Deutschland über alles« vorsingt, wobei er mit zwei eisernen Gegenständen auf dem Bauer trommelt. Schließlich erhebt er sich, kindlich lächelnd, um den Ameisenbär mit Kokosnuß zu füttern. Das Tier frißt aber keine Kokosnuß, sondern nur Stiefel, Decken und andere verbotene Nahrung. Es ist überhaupt ein ungezogenes und verschlagenes, aber höchst drolliges Tier. Neulich sah ich vom Ruder aus, wie es in der Kajüte sich heimlich an die Butterdose schlich. Der Bär ist ziemlich bissig. Napoleon versteht es, sich ihm mit freundlichem Zureden zu nähern, um ihn dann plötzlich mit geschicktem Griff so am Genick zu packen, daß er nicht um sich beißen kann.

Fünf Minuten vor zwölf höre ich Gustav die andere Wache wecken.

Rise Quartier

Ist Seemanns Manier,

Dem Rudersmann tut verlangen,

Das Ruder zu verfangen.

Acht Glasen! Willy kommt schlaftrunken nach achtern geschlichen, um mich abzulösen. »Ost-Nord-Ost, ein Viertel Ost«, sage ich, ihm das Rad übergebend.

»Ost-Nord-Ost, ein Viertel Ost«, wiederholt er noch wie im Traum.

Mittag. Es gibt Pudding mit greulichen, verrotteten Backpflaumen und pro Mann drei Kartoffeln »zum Überbordwerfen«.

Dann muß ich das Geschirr aufwaschen oder vielmehr trocken abwischen.

Alle schimpfen wieder auf den Koch. »Ist das ein Geburtstagsessen«, knurre ich. Jahn fragt: »Wer hat denn Geburtstag?«

»Ich.«

»Allright! Dann mußt du etwas ausgeben. Du kaufst Butter und Kognak beim Alten.«

Ich will mich nicht weigern, obgleich ich weiß, daß der Kapitän nach der Belizer Rumaffäre keinen Schnaps mehr gibt. So gehe ich also in die Kajüte:

»Kapitän, würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir ein paar Zigarren oder eine Flasche Kognak zu verkaufen? Ich habe heute Geburtstag, und da möchte ich gern was ausgeben.«

»Du hast gar nicht Geburtstag, Nasenkönig, du lügst«, entgegnet der Alte mit Pathos.

»Ganz gewiß! Ich habe heute Geburtstag.«

Kleine Pause.

»Ich habe keine Zigarren, und Schnaps darf ich euch auf See nicht verkaufen. Ihr besauft euch sonst wieder.«

Die Matrosen lachen mich aus, als ich diese Antwort verkünde. Ich verbringe meine Freizeit bis sechs Uhr damit, daß ich meine Seestiefel mit Talg einbalsamiere und mein Scheidemesser schleife. Zu Hause, das weiß ich, werden sie heute meiner herzlich gedenken.

Zum Abendbrot, das beide Wachen gemeinsam einnehmen, wird uns der Rest von Pudding vorgesetzt, den der Koch mit Margarine aufgebraten hat.

Dann ruft uns ein Kommando an die Pumpe. Etwa zwanzig Minuten lang drehen wir das Rad herum. Es ist wieder viel Wasser im Schiffsraum.

Um acht Uhr geht die Wache zur Koje. Ich hoffe, bis um zehn Uhr etwas Ruhe zu haben, täusche mich aber darin. Zuerst stört mich Jahn mit spöttischem Geschwätz, und dann setzt plötzlich eine derbe Bö mit Hagel ein. Ohne Ölzeug müssen wir heraus, um die Bramsegel festzumachen. Wir frieren in unseren nassen Sachen. Jeder erhält einen Eierbecher voll Kognak. Ohhh!!

Am Horizont ziehen schwarze, drohende Wolken auf. Wir erwarten Sturm. Es schlägt zehn Glasen. Ich friere wie ein Schneider, muß aber in den nassen Kleidern noch zwei Stunden auf Ausguck. Das Schiff jumpt stark. Schon spritzen hohe Seen über Deck. Ich trample mit den Füßen, um mich zu erwärmen, und singe im Takt alle Lieder ab, auf die ich mich besinne. Unter mir höre ich die Freiwache über den Lärm schimpfen, den ich verursache.

»Mars fest!« schallt es über Deck, und schon klettert alles die Wanten hinauf. Auf der Rahe komme ich neben Steuermann zu stehen. Er drückt mir die Hand. »Ich gratuliere auch noch.«

»Danke.« – Ein Händedruck, der mich völlig kalt läßt.

Zehn Minuten vor zwölf wecke ich die andere Wache. Beide Wachen gehen dann nach dem Halbdeck, wo Steuermann nach militärischem Beispiel »Wachtmusterung« abhält.

»Alle beisammen?« höre ich ihn fragen.

»Ja!« gibt die abgelöste Wache sehr laut, die ablösende ganz müde zurück. »Ruder verfangen. Mann auf Ausguck. Wacht zur Koje!«

Jahn hat mich abgelöst, und ich melde das dem Steuermann.

»Willst du wohl lauter melden!« schreit er mich an. Dann schickt er mich in die Kombüse, von wo aus ich die Meldung mit lauterer Stimme wiederholen muß. Hierauf krieche ich, da meine Decke naß ist, in Hermanns Koje. Hermann hat Wache. Vorher entledigte ich mich ausnahmsweise und zur Feier meines Geburtstages meiner Kleider. Ich träumte herrlich, süß, vier Stunden lang. –

Als ich mit starken Kopfschmerzen erwachte, hörte ich Gustav über mir auf der Back marschieren. Er sang mit Begeisterung:

Denn du hast ja

Die schöne Berta

Auf die Schultern geküßt.

Wir hatten eine ganze Reihe derartiger Lieder, nach denen es sich vorzüglich marschierte.

»Du kannst mir mal für'n Sechser ...«

Das war ein beliebter Marsch, aber wir sangen auch ernstere, oft sehr hübsche Lieder. So ein kleines Volkslied mit einer treuherzigen Melodie:

In einem Dörflein klein

Da wohnt das Mädchen mein.

Sie war so süß. Sie war so süß.

Bei ihrem Hochzeitstanz,

Da fiel aus ihrem Kranz

Ein Röslein rot. Ein Röslein rot.

Ich hob's von ihrem Fuß

Und bat um einen Kuß.

»Ich küsse nicht«, sprach sie, »ich küsse nicht.«

Doch als der greise Held

Uns alle rief ins Feld,

Da schlang sie ihren Arm

Mir um das Herz so warm.

»Ich küsse dich«, sprach sie, »ich küsse dich!«

Ich beobachtete eine sehr hübsche Naturerscheinung, nämlich eine große, rundliche Wolke in den Farben des Regenbogens.

Das Krokodil lebte noch immer vergnügt, wenn auch fast regungslos, am Strick. Der Ameisenbär, den wir einsperren mußten, war wieder eines Tages ausgebrochen, hatte auf der Jagd nach Kakerlaken Kochs Koje schrecklich verwüstet, einen Lampenzylinder zerschlagen und die Sonnenvögel in Angst versetzt. Napoleon griff schließlich das wilde Tier mit einem Strohsack an, worauf es in die Takelage entfloh.

Es war uns zum erstenmal geglückt, einen Delphin zu fangen, und zwar in der Weise, daß wir eine etwa 30 m lange Angelschnur achter nachschleppten. An dem Haken war nur ein weißes Leinwandläppchen als Köder befestigt. Der Fisch hatte angebissen. Drei Mann hoch mußten wir ihn an Bord ziehen. Er peitschte mit dem Schwanz wild das Wasser. Seine Farbe war goldgelb, fast wie Messing. Die Flossen und eine Reihe Punkte an seinem Leib schillerten tiefblau. Um ihn zu töten, mußte einer von uns auf die Schwanzflosse treten, während ich ihn mehrmals mit einer Handspake auf den Kopf schlug. Als wir ihn ausnahmen, veränderte er seine Farbe wie ein Chamäleon bis zum herrlichsten Smaragdgrün. Ich rettete mir die Schwanzflosse und legte sie mit Schmieröl eingerieben zum Trocknen auf das Achterdeck. Diese Art der Konservierung bewährte sich aber schlecht, denn ich fand den Fischschwanz einige Tage später halb verwest vor.

Das Delphinfleisch wurde für die Kajüte in Butter, für uns in Margarine gebraten. An beiden Orten schmeckte es köstlich. Am Sonnabend, dem 10. August, kam die Südwestseite von Havanna in Sicht. Wir fingen drei Delphine und eine Horsmakrele, die etwa 80 cm lang war.

Feine Brise hatte eingesetzt, so daß wir mitunter bis 71/2 Knoten in der Stunde liefen. Oh, wie froh war ich und waren wir alle darüber, denn um so früher würden wir nach Liverpool kommen. Die Maden im Biskuit vermehrten sich erstaunlich und wetteiferten in dieser Beziehung mit Spinnen und Ameisen. Dabei quälte uns Jahn zu Mittag noch immer mit seinen Ausführungen über gebratenes Geflügel. Irgendein anderer, der im Besitz eines Abreißkalenders war, pflegte bei dieser Gelegenheit das tägliche Sprüchlein mit dem anschließenden Speiseprogramm vorzutragen:

Friede ernährt, Unfriede verzehrt. Kartoffelsuppe, Henne mit Reis.

Einmal erlegten wir sogar einen Schweinsfisch mit der Harpune. Der lieferte uns für zwei Tage ausgezeichnetes Fleisch.

Steuermann hatte mich wieder seit einiger Zeit besonders ins Herz geschlossen. Er schimpfte auf mich, warf mit allen möglichen harten Gegenständen nach mir und forderte die Matrosen auf, mich zu schlagen, »daß ich in keinen Sarg mehr passe«. Mit Ausnahme Augusts ließen sich jedoch die Matrosen dadurch nicht beeinflussen. Im Gegenteil, das machte den Steuermann bei einigen noch unbeliebter, als er schon war. Willy haßte ihn wie die Sünde, obgleich er ein Verwandter von ihm war. Es war sicher, daß es zwischen den beiden einmal zu einer tüchtigen Auseinandersetzung kommen würde. Nur August nahm sich Steuermanns Worte sehr zu Herzen. Einmal ließ er mich vier Stunden lang bei schlechtem Wetter auf Ausguck stehen und legte sich zum Schlafen nieder, statt mich nach der zweiten Stunde ordnungsgemäß abzulösen. Die Fälle, daß er mich zu Arbeiten zwang, die eigentlich ihm zukamen, mehrten sich mit der Zeit, so daß ich sehr erbittert wurde. Ich mußte das aber dulden, weil er den Steuermann auf seiner Seite hatte.

Am 15. August ließ man mich acht Stunden hintereinander am Ruder stehen, nachdem man mir kaum Zeit gelassen, mein Abendbrot hinunterzuschlingen. Wir liefen sieben Meilen in der Stunde, machten also schnelle Fahrt.

Ein Dreimaster hatte uns trotzdem überholt. Er fuhr in größerer Entfernung an uns vorbei, so daß man ihn ohne Glas nicht genau erkennen konnte. Vielleicht war es der Mexikaner, mein verlorenes Glück! Ich schlief jetzt nachts meistens an Deck, da ich im Logis vor der Katze nicht sicher war, die mich schon mehrmals nachts in die Nase gebissen oder gekratzt hatte.

Kapitän Pommer hatte seine Papageien durch stundenlanges, geduldiges Vorsingen so weit erzogen, daß sie »Hepp, hepp, hurra!« rufen konnten. Sie taten das auch unaufhörlich und ehrten jeden, der am Bauer vorüberging, mit dieser Ovation.

Dem Angelsport widmete ich mich jeden Abend mit Eifer. Außer einer Unmenge Seegras bissen auch manchmal Sauger an, schmale Fische mit abgeplatteten, gerieften Köpfen. Ich präparierte die Tiere, indem ich die Eingeweide herausnahm, den Leib mit Pfeifentabak ausstopfte, dann mit Zwirn zunähte und zum Trocknen auf die Kombüse legte. Sie wurden von den Matrosen aus Unverstand oder Böswilligkeit über Bord geworfen. Zu tun hatten wir immer. Die Ankerketten mußten umschäkelt werden, damit sie bei etwaigem Sturm nicht durcheinander geworfen wurden. Außerdem gab's immer zu waschen, scheuern, kratzen, schrubben, putzen, malen, schmieren, klopfen und so weiter.

Gustav, der Kraftmensch, wurde hauptsächlich zu Zimmermannsarbeiten herangezogen, die er sehr geschickt und solid ausführte.

Vom 17. an flaute der Wind ab. – Es war in letzter Zeit häufig vorgekommen, daß Zucker und Brot auf nicht aufgeklärte Weise abhanden kam, und jede Wache hatte die andere deshalb verdächtigt. Diese Nahrungsmittel wurden daher jetzt den Wachen besonders zugeteilt.

Mein äußerer Mensch war recht heruntergekommen. Zum Waschen fehlte es abwechselnd oder gleichzeitig an Wasser, Zeit und Lust. Das Kernersche Zeug taugte wirklich nichts und ging an allen Stellen entzwei.

Ich sah wie ein Bummler aus. Dagegen hielt ich jetzt meine Koje höchst sauber. Ich hatte verschiedene Borde und Taschen zur Aufbewahrung meiner Habseligkeiten darin angebracht, und es machte mir Freude, den kleinen Bretterverschlag, den einzigen Raum, über den ich allein verfügte, in guter Ordnung zu erhalten.

Eines Tages, als ich dem Steuermann bei irgendeiner Arbeit in der Kajüte behilflich war, rief plötzlich Napoleon von oben durch das Skylight herunter: »Stürmann, Schwein has eaten the head of Krokodil. Come up and box him.« Wir lachten sehr, und es stellte sich heraus, daß der Ameisenbär dem Krokodil den Kopf abgebissen hatte. Steuermann schlich abends nach vom, um Jahn auf dem Ausguckposten zu kontrollieren, und traf ihn im tiefsten Schlummer. Anstatt ihn nun aufzuwecken und zur Rede zu stellen, versetzte er dem Schlafenden ein paar Faustschläge ins Gesicht, worauf er sich entfernte. Jahn hatte ihn jedoch noch erkannt. Seit dem Tage bestand zwischen den beiden eine bedenkliche Spannung. Napoleon und ich erhielten fast täglich vom Steuermann Schläge. Ich nahm mir vor, sowie erst wieder Land in Sicht käme, mir das nicht mehr gefallen zu lassen, aber allerdings bis dahin war es noch lange Zeit. Ach, ich konnte den Tag nicht erwarten, an dem ich das Schiff verlassen würde, ich sehnte mich unendlich nach Freiheit. Selbst im Schlaf empfand ich das Drückende meiner Lage, und häufig stand ich des Nachts auf, um meine quälenden Gedanken an Deck unterm freien Sternhimmel loszuwerden. Dann schüttelten diejenigen, die Wache hatten, die Köpfe vor Verwunderung darüber, daß jemand die wenigen Stunden Schlaf nicht ausnutzte.

Die »Elli« mußte ein Leck haben, denn wir hatten immer viel Wasser im Schiff, so daß wir gezwungen waren, bei jedem Wachwechsel eine Viertelstunde lang zu pumpen.

Auf unserem Küchenzettel standen Horsmakrelen, deren wir täglich eine Menge fingen. In der Art, wie Koch sie in Margarine briet, wurden sie uns jedoch bald zuwider. Wenn ich am Ruder stand, geschah es oft, daß der Alte sich neben mich stellte und in seiner halb gutmütig-naiven, halb ironischen Art Fragen an mich richtete oder über meine Nichtsnutzigkeit predigte. Dabei pflegte er immer wieder mein Tagebuch zu zitieren.

Wir hatten unter der Back einmal gründlich aufgeräumt.

Wir setzten das ausgeräumte Logis unter Wasser und feierten mit Schrubbern, Besen, Soda, Seife, Sand, Lappen und Bürsten eine wahre Scheuerorgie. Auf meiner Freiwache am Abend hielt mich August durch spannende Schilderungen von Kronwaljagden noch lange wach. Es war schade und unverständlich, daß der erfahrene Seefahrer, der doch wirklich genug Interessantes erlebt hatte, noch so viel dazulog. Immerhin fand ich unter dem Wust fabelhaften Seemannsgarns noch manches, was mir wissenswert erschien.

Am 25. war wieder ein Geburtstag. Willy war diesmal der Glückliche. Wir verdankten ihm jeder eine süßliche Belizer Zigarre sowie Schnaps. Der Schnaps verfehlte seine Wirkung nicht. Ich wurde sehr aufgeräumt, und August deklamierte zuletzt unaufhörlich folgende Ballade unbekannten Verfassers:

Aus einem Kaffeehaus

Warf man ein Mädchen raus,

Sie hat 'ne Filzlaus.

Da kam ein Offizier,

Der zog den Degen raus

Und stach der Filzlaus

Die Augen aus.

Starke Brise setzte plötzlich ein und fegte hohe Seen über Deck. Bö über Bö. Der Royl und das Bramsegel wurden zerfetzt. Wir mußten Reservesegel anschlagen. Der Segelmacher saß mit grimmigem Gesicht auf dem Achterdeck, flickte Löcher zu und fluchte über die damned Schweinearbeit. Schließlich wich der Sturm einem länger anhaltenden Wolkenbruch. Diesem wieder folgte ein mäßiger, aber sehr veränderlicher Wind, der uns fortwährend zu Segelmanövern an Deck rief. Napoleon wurde wie alle anderen zum Hissen und Brassen herangezogen, stellte sich aber so ungeschickt an, daß ich selbst darüber mehrmals mit ihm in Streit geriet. Dann kam der Steuermann hinzu und verdrosch uns alle beide. Der Nebel drang durchs Ölzeug bis auf die Haut. Die Seestiefel drückten. Es war höchst ungemütlich. Ich sann darüber nach, wie ich es bei dem wenigen Geld, das ich in Liverpool zu erwarten hatte, ermöglichen könnte, nach Deutschland zu fahren. Vielleicht würde es mir glücken, gegen seemännische Dienstleistungen auf einem nach Hamburg gehenden Dampfer freie Überfahrt zu finden.

Die älteren Matrosen meinten, das Schiff liefe so schlecht, weil es ungeschickt beladen sei. Jedenfalls war es Zeit, daß wir bald einen Hafen erreichten. Kartoffeln gab es nicht mehr. Das Brot, das der Koch herstellte, war klumpig, naß und unverdaulich. Das Fleisch roch, der Biskuit war verrottet und die Mehlklöße roh und ungenießbar. Tee, Essig, Speck, Bohnen, Erbsen oder Graupen, etwas anderes hatten wir nicht zum Leben. Damit sollten wir noch einen Monat auskommen.

So manches Mal, wenn ich in der Zeit des Nachts auf Posten stand, litt ich schwer unter dem Gedanken, daß ich unter diesen rohen Menschen bei so harten Verhältnissen nicht einen einzigen Menschen um mich hatte, dem ich mich anvertrauen, dem gegenüber ich mich einmal so richtig aussprechen konnte.

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