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München und Buchhalter

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Inhaltsverzeichnis

Frau Müller sandte prompt Geld, so daß ich mein Hotel bezahlen und langsam vierter Klasse nach München reisen konnte.

Ich wußte, daß Telschow inzwischen dort eine Anstellung gefunden hatte. Er nahm mich freudig in seiner Wohnung auf, bis ich eine Stellung fände. Er war ein anhänglicher Mensch und ein spaßiger Kauz. Noch immer pflegte er seine Kleider aufs peinlichste und brachte jeden Morgen eine halbe Stunde damit zu, seine gelben Schuhe mit Milch zu behandeln. Er kaufte sofort eine Flasche Müller Extra.

Telschow wohnte im Osten der Stadt, wo die kleinen Leute hausen. An deren bescheidenen Freuden nahmen wir nun teil. Wir tranken in den großen Kellern unsere Maß, aßen Radi dazu und versuchten den Dialekt und die derbe bayrische Gemütlichkeit nachzuahmen. Sonntags gingen wir in die Berge oder auf die Schwammerlingsuche.

Es gab in München ein Revolverblatt, betitelt »Grobian«. Dieser Zeitung sandte ich satirische Gedichte und Witze ein. Alles wurde sofort abgedruckt. Als ich wochenlang das Blatt en masse beliefert hatte, ohne bisher ein Honorar erhalten zu haben, meinte ich nun, mir ein gutes Sümmchen abholen zu können und machte mich auf den Weg. In einem Haus am Stachus fragte ich nach der Redaktion. Man wies mich nach einer kleinen Baracke im Hinterhof. Dort stand ein Arbeiter vor einer Druckmaschine. Der bewegte unaufhörlich einen Hebel vor und zurück.

»Verzeihung, können Sie mir sagen, wo ich den Chefredakteur des ›Grobian‹ finde?«

»Das bin ich selbst«, sagte der Arbeiter mürrisch, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Was wollen Sie?«

Ich nannte meinen Namen und brachte mein Anliegen vor.

»Honorar? Honorar?« sagte er voll Verachtung. »Nun, meinetwegen.« Damit drückte er mir fünf Mark in die Hand.

Zwei Tage lang war ich Stadtreisender für eine kleine Kaffeehandlung. Man gab mir zwei Probedosen mit Kaffeebohnen in die Hand, und ich mußte damit treppauf und treppab von Tür zu Tür gehen, um den Leuten eine Bestellung auf ein Pfund oder zwei Pfund Kaffee abzuringen. Mir war ein Stadtgebiet zugewiesen, wo sehr arme Leute hausten. Man sammelte derzeit für den Wiederaufbau des abgebrannten Zeppelin.

»Guten Tag«, sagte ich, wenn die Tür geöffnet wurde. »Sie haben doch sicher von der Zeppelin-Kollekte gehört?« Die Leute zogen schon ein langes Gesicht.

»Nun, damit habe ich gar nichts zu tun. Sondern ich wollte Ihnen nur empfehlen, ein Pfund von diesem oder jenem billigen Kaffee zu kaufen.«

Damit hatte ich ein paarmal Erfolg. Aber die armen Leute taten mir leid, und da meine Prozente sowieso ganz minimal waren, gab ich die Tätigkeit wieder auf.

Ich trat dem Handelsgehilfen-Verein bei, denn ich wollte mich um eine kaufmännische Stellung bewerben. Dazu mußte ich einen Fragebogen ausfüllen. Gewissenhaft gab ich an, was ich gelernt hatte, welche Fächer ich berherrschte und welche nicht. Aber Telschow zerriß das Formular und sagte: »So macht man das nicht. Du mußt alles können.« Ich füllte also ein neues Formular derart aus, daß ich einfache Buchführung, doppelte Buchführung, amerikanische Buchführung, kurz gesagt, nahezu alle Fächer beherrschte.

Dadurch kam ich im August 1908 zu der Stellung eines Buchhalters und Korrespondenten im Reisebüro von C. Bierschenk am Karlsplatz.

Herr Bierschenk war Vertreter der Red Star Line und anderer Schiffahrtslinien. Außer mir war nur noch ein Lehrling angestellt. Der verstand mehr als ich von der Buchführung und konnte mir vieles erklären, wenn sich heimlich Gelegenheit dazu fand. Aber diese Gelegenheit fand sich leider nur selten, da Herrn Bierschenks Stehpult neben meinem stand. Als der Chef mir zwei Billetts zum Eintragen gab und dann zusah, wie ich, hilflos nach dem Lehrling schielend, das große Hauptbuch von vorn nach hinten durchblätterte, da sagte er mir auf den Kopf zu, daß ich meinem Posten nicht gewachsen wäre, und kündigte mir für März.

Ich glaube, Herr Bierschenk war schon vorher immer mürrisch zu mir gewesen. Von nun an war er es jedenfalls. Zu Weihnachten beschenkte er nur den Lehrling und hatte auch kein freundliches Wort für mich. Sein Verhalten war zu verstehen, da ich mich wirklich bei ihm blamiert hatte. Weniger nett aber fand ich es, daß er sehr ungehalten über mich war, als ich einmal sechs Stunden im Garderoberaum blieb, weil meine Nase so lange ununterbrochen blutete. Auch hätte er mich ja nach einer Aussprache über das, was zu machen war, freundlich unterrichten können. Denn das war in ein paar Stunden zu erlernen. Und ich hätte dann mit einem Eifer gearbeitet, den ich nun nicht aufbrachte.

Nebenbei dichtete ich humoristische Sachen. Die einzigen, die darüber lachten, waren Telschow und ich. Ich hatte mir das Pseudonym Fritz Dörry zugelegt, in Erinnerung an meinen verehrten Lehrer im Tollerschen Institut.

Telschow teilte alle Freuden und Leiden mit mir. Wir hatten uns Mandolinen angeschafft. Und dann kam auch unser gemeinsamer Freund Freudling zu Besuch nach München. Der war selbst ein geborener Münchner und machte uns mit lustigen Kerlen bekannt.

Wir wagten uns nun auch in bessere Lokale. Da war eine Bar in der Sonnenstraße. Wir gingen am Nachmittag vor dem Eingang auf und ab und überlegten, was man wohl da drinnen tränke. Und ob es erschwinglich für uns wäre. Weil aber eine so süße Musik lockte, traten wir ein. Wir waren die einzigen Gäste. Drei Musiker spielten. Wir bestellten Mokka. Der Ober stellte uns eine Kaffeemaschine hin, entzündete darunter eine Spiritusflamme und zog sich diskret zurück. Da saßen wir nun sehr beklommen, weil die Einrichtung so vornehm war. Wir bemühten uns zwar auch, recht vornehm und sicher auszusehen, dachten aber schweigend darüber nach, was geschehen würde, wenn wir den Mokka nicht bezahlen konnten. Die Technik der Kaffeemaschine war uns unbekannt. Plötzlich explodierte diese Maschine laut und bespritzte unser weißes Tischtuch und unsere Anzüge und zwei weitere Tischtücher in der Nachbarschaft mit Mokka. Der Ober sah unser Entsetzen. Er riß die Tür auf, und ohne Geld zu fordern, rief er: »Marsch, hinaus, ihr Lausbuben!«

An einem anderen Nachmittag schlenderten wir durch die Türkenstraße. Da lasen wir ein gelbes Plakat an der Tür eines Restaurants: »Simplizissimus-Künstlerkneipe«, illustriert durch einen roten Hund, der eine Sektflasche zu entkorken suchte.

Künstlerkneipe! Künstlerleben! Das war ja, was wir ersehnten. Wir wagten uns hinein. In dem spärlich beleuchteten Zimmer standen die Stühle noch auf den Tischen. Eine Kellnerin gab uns Auskunft. Die Künstler und Gäste kämen erst abends gegen zehn Uhr.

Wir fanden uns abends wieder dort ein. Das Lokal war brechend voll, so daß wir im vorderen Zimmer bleiben mußten. An den Wänden hing Bild an Bild, und an den Tischen saß Gast an Gast, dicht gedrängt, meistens Studenten. Die Wirtin in Bauerntracht begrüßte die Neuankommenden und redete alle, auch uns, mit »Du« an. Man nannte sie Kathi. Sie war eine stattliche Frau und schien überaus liebenswürdig zu sein.

Eine dreiköpfige Kapelle spielte Wiener Lieder. Dann verteilte Kathi den Text zu einem Simplizissimuslied, das vom Freiherrn von Osten-Sacken verfaßt war. Wir tranken Bowle und gerieten in wonnige Stimmung.

Am nächsten Abend eilte ich nach Geschäftsschluß wieder dorthin. Lockend und verheißend winkte die rote Lampe vorm Eingang, vor dem eine lange Reihe von Privatautos angefahren war. Wieder war das Lokal überbesetzt. Ein schmaler Gang führte nach dem Hinterzimmer. Es gelang mir so weit vorzudringen, daß ich dieses übersehen konnte. Künstler, Studenten, Mädchen, elegante Herrschaften. Das saß eng gepreßt um weiß gedeckte Tische. Auf einem dieser Tische stand ein schmächtiger Mann mit wildem Vollbart, stechenden Augen und feinen Händen. Der trug ein Gedicht vor. »War einmal ein Revoluzzer.« Ich fragte einen neben mir stehenden Studenten, wer der Vortragende sei.

»Das wissen Sie nicht? Sie sollten sich schämen!«

Ich schämte mich wirklich. Ein herumgehendes sehr ältliches Blumenmädchen klärte mich auf. Der Herr auf dem Tische wäre der Edelanarchist Erich Mühsam.

Am dritten Abend saß ich bereits im Hinterzimmer. Und von da an verbrachte ich jeden Abend dort und gab all mein Geld dort aus, obwohl ich nur die einfachsten Getränke bestellte und sehr lange an einem Glase schlürfte. Das Milieu war gar zu schön. Es war aufregend schön. Es war mir etwas ganz Neues.

Ich lernte im Laufe der Zeit das Lokal, seine Wirtin, seine Stammgäste, ich lernte dort Tausende von Menschen kennen.

Die Wirtin in Chiemgauer Bauerntracht hieß Kathi Kobus und war ein Bauernkind aus Traunstein. Sie trug nicht immer dies Kostüm, sondern erschien auch in städtischen, kostbaren Garderoben und mit wertvollem Schmuck behangen. Immer sah sie repräsentativ und bestrickend aus, so daß sich viele Männer und Frauen in sie verliebten, obwohl sie damals schon etwa 55 Jahre alt war und eine Perücke trug. In der Weinstube »Dichtelei« war sie eine beliebte Kellnerin gewesen. Die Künstler, die dort verkehrten, hatten ihr zugeredet, selbst eine Kneipe aufzumachen. So gründete sie den »Simplizissimus« und erwarb sich als Plakat auf eine komische Weise den von Th. Th. Heine gezeichneten roten Hund.

Heine, Rudolf Wilke, Wedekind und andere berühmte Leute verkehrten dort und jüngere Maler, Dichter und Schauspieler, die zum Teil später auch zu Ruhm und Geld kamen. Die alle unterstützten die Kathi, indem sie ihr Bilder schenkten oder gegen freie Zeche hingaben, Dekorationen entwarfen und einen ausgelassenen Betrieb aufzogen.

Der »Simpl« war der Mittelpunkt der Boheme und war weltbekannt geworden. Wer in München lebte oder studierte, ging dorthin. Wer durch München reiste, kehrte bei Kathi ein. Ja, es kamen Leute aus Amerika und anderen Ländern weit her, nur um sie und ihre Künstlerkneipe kennenzulernen.

Die jungen Künstler sangen zur Laute oder zum Klavier. Andere tanzten, führten Theaterszenen, Zauberkünste vor, jede Art künstlerischer Unterhaltung ward geboten. Anfangs geschah das improvisiert, später, als die Kathi dadurch viel Geld gewann, nach Vereinbarung und gegen Bezahlung, allerdings sehr spärliche Bezahlung. Auch Wedekind hat dort vorgetragen.

An den Wänden bis zur Decke hingen bunt durcheinander Bildnisse von Brettlgrößen. La belle Otéro, Marya Delvard, Danny Gürtler, Sylvester Schaeffer. Dann Photos, Ölgemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen von Uhde, O. Seidel, Kaulbach, Segantini, Harburger, Vautier, Weisgerber, Futterer, Acbé und anderen. All diese Bilder hatten ihre humoristische oder ernste Geschichte. Acbé, genannt »Professor Nämlich«, war unter den ersten der treueste Stammgast gewesen. Man erzählte, er hätte sich im »Simpl« zu Tod gesoffen.

Im Hinterzimmer war die Bühne, ein schmales Podium mit einem Klavier links und einem Harmonium rechts. Das Klavier bediente ein langhaariges Faktotum namens Klieber. Der alte Klieber brummte sonderbar vor sich hin, wenn er spielte. Er trank auch gern, und sein Lieblingsthema war Chemie.

Der »Simplizissimus« war jeden Tag überfüllt. Waren alle Stühle besetzt, so wußte die Kathi doch noch immer für neue Gäste Platz zu schaffen. Es wurden Hocker in die Gänge gestellt. »Bitt' schön, rückt ein wenig zusammen!« sagte Kathi in ihrem Dialekt. Dabei legte sie bittend die Hände zusammen und ließ einen madonnenhaften Augenaufschlag wirken. Eine Minute später schimpfte sie in der Küche ein Lehrmädchen mit den gröbsten bayrischen Flüchen zusammen. Zu ihrer organisatorischen Begabung gehörte eine rücksichtslose Energie. Man erzählte sich, einmal wäre der deutsche Kronprinz inkognito im »Simpl« gewesen, und die Kathi hätte nach Polizeistunde zu ihm und ein paar anderen Säumigen gesagt: »Werd's hoam gehn, Saupreiß'n verdammte.« Häufig wurden Studenten, die im Suff skandalierten, von Kathi eigenhändig und gewaltsam an die Luft gesetzt.

In dieses Milieu war ich also geraten, und es bannte mich mit dem Zauber der Neuheit. Mein Freund Telschow war nicht mehr in München. Ich saß allein, klein, in einem bescheidenen Winkel, lauschte den Vorträgen und starrte nach dem Ecktisch, wo die Künstler sich um ihren Löwen, den faszinierenden Dichter Ludwig Scharf gruppierten. Sehnlichst wünschte ich mir im stillen, mit zu diesem Kreis zu zählen und einmal auch auf der Bühne dort vortragen zu dürfen.

Ich lernte die Namen kennen. Louis Staller trug zu eigener Begleitung prickelnd mondäne Chansons vor. »Erst kamen die seidenen Kleider und dann die Jupons voller Plis ...«

Erich Mühsam, der damals manchmal in gemieteten Sälen politische Versammlungen »Für alle Unzufriedenen« veranstaltete. Frau Scharf, eine liebenswürdige und geistreiche Dame. Kubasch, der Komiker. Heinz Lebrun, ein sehr dicker Herr, der erstaunlich viel aß, unaufhörlich redete, aber auf dem Podium entzückend sang. »Ich hatte einst ein schönes Vaterland.« Manchmal sang er im Duett mit der beleibten und beliebten Muki Berger. Die hatte selbst eine sehr sympathische Stimme und trug ihre Lieder mit einer bestrickenden Natürlichkeit vor. Da sie zudem ein guter Mensch war, mochte jedermann sie leiden. »Ich gehe meinen Schlendrian« oder »In meiner Heimat«. Zu einer größeren Karriere fehlte ihr Energie. Auch Mary Irber sang dort manchmal. »Das Bettelprinzeßchen.« Die Behörde machte ihr damals Schwierigkeiten, weil sie auf der Bühne zu frei gekleidet erschiene. Julius Beck rezitierte. Jenny Hummel rezitierte auch und trug einen Hut, so groß wie ein Wagenrad. Dunajec, ein ungarischer Geiger, der seine schmeichelnden Töne reichen Damen ins Ohr spielte. Die gutmütige Mary Wacker, über deren unfreiwillige Komik viel gelacht wurde. Hugo Koppel, ein Mann mit einem Liszt-Kopf improvisierte am Harmonium, vertonte zum Beispiel die Speisekarte. Bobby Weiß und der sonnige Pollinger-Max tanzten Machiche und Cake-walk, was schon aus Platzmangel ein Kunststück war.

Kathi Kobus übte die Conférence und sorgte für Ruhe. »Silentium für Anni Trautner!« – »Seid's doch stad!« Sie trug auch selber vor, Dialektgedichte von Julius Beck, und sie unterbrach ihre Vorträge ungeniert mit geschäftlichen Bemerkungen. »Anni, gib doch Obacht! Der Herr will zahlen!« – Oder, wenn sie am Eingang neue Gäste sah: »Kommen Sie nur herein, es ist noch viel Platz da.« Erich Mühsam brachte beißende Satiren. Zum Schluß erhob sich unter allgemeiner Spannung Ludwig Scharf. Von seinem Platz aus, stehend, und auf eine Stuhllehne gestützt, trug er seine eigenen Gedichte vor. »Ich bin ein Prolet, was kann ich dafür.«

Es ging ein Witzwort um: Was ist der Unterschied zwischen Mühsam und Scharf? – Scharf dichtet mühsam, und Mühsam dichtet scharf. Das »mühsam« wollte in diesem Falle nur besagen, daß Ludwig Scharf in gewissenhafter und weiser Selbstbeschränkung nur wenig publizierte.

Die Schauspieler vom Theater kamen. Durchreisende Künstler gastierten. Auch Damen oder Herren aus dem Publikum betraten auf Kathis süßes Flehen hin oder aus eigenem Antrieb die Bühne und ernteten Applaus, Dakaporufe oder Gelächter. Immer waren illustre und elegant gekleidete Gäste anwesend. Dazwischen verstreut hockten Literaten und Malweiber, die alles Echte und Unechte skizzierten. Die ewig junge Blumenfrau bot Rosen an und sagte im Davongehen lieblich lächelnd stets dieselben Worte: »Das nächstemal wieder.« Der fliegende Schokoladenhändler sah aus wie ein australischer Buschneger.

Nun war obendrein noch Fasching, und so strömten Dominos und Masken vom Deutschen Theater und von den Redouten herein. Es war ein buntes Bild, und es war eine tolle Stimmung.

Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)

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