Читать книгу Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz - Страница 39

Einflußreiche neue Freunde

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Inhaltsverzeichnis

Wieder kam der Fasching mit wilden Festen und Bällen. Da war der Schwäbische Ball, auf dem Kathi und wir Künstler alle in echten Trachten erschienen. Seele hatte von ihrem Mann noch wertvolle Kostüme für mich. Dann folgten der Russenball, der Presseball, der Gauklerball, ein Ball nach dem anderen, auch solche in Privathäusern. Dann veranstaltete Kathi ihren eigenen Hausball in dem Lokal »Die Blüte«. Ich ging durch all den Taumel als ihr poeta laureatus.

Längst schon hatte ich mir eine Künstlermähne wachsen lassen. Und saß nachmittags interessant im Café Stefanie mit anderen Größenwahnsinnigen zusammen. Aber das Treiben in der rauchigen Luft des »Simpls« widerte mich schon an.

Zänkerei und Eifersüchtelei verfeindeten die Vortragenden untereinander. Anni Trautner ward ohnmächtig, weil die goldige Mucki Berger mehr Applaus als sie hatte. Ich mußte die Bewußtlose in einer Droschke heimfahren und ihr unterwegs das Korsett zerschneiden. Die Goldgier und die Rücksichtslosigkeit der Kathi empörten bald den einen, bald den andern von uns. Einer war immer mit ihr böse. Eine Art Bajazzogefühl kam über mich.

Während dieser wachsenden Verbitterung lernte ich neue Menschen kennen, die mir viel zu denken gaben, indem sie mir Bitteres oder Freundliches sagten.

Oskar Dolch war ein Kunsthistoriker, der vom Kunsthandel lebte. Trotz seiner jungen Jahre galt er schon als ein hervorragender Kenner alter Malerei. Wenn er auf Kunstauktionen auf irgend etwas bot, spitzten die erfahrensten Sachverständigen. Sein kluges, bescheidenes Wesen zog mich sehr an. Auch hatte er eine eigene scharmante Art, ebenso mit Damen wie mit den einfachsten Mädchen zu flirten.

Dr. Milk bekleidete eine hohe Beamtenstelle. Kam er in den »Simpl«, so geschah das gewissermaßen nur inkognito. Er dichtete auch, hatte schon Bücher herausgegeben, die mich ebenso fesselten wie seine durchdachten, etwas mystifizierten Gespräche.

Es revoltierte etwas in mir. Ich war als Sachse und von meinen Lehrern, auch von meinen Eltern aus, ich war durch mein ganzes bisheriges Leben mit einem Wust von Vorurteilen angefüllt. Wenn ich nun etwas als anders erkannte, so schoß meine Bewunderung oder meine Verachtung oft gleich weit übers Ziel.

Ich las Hebbels Tagebücher. Das regte mich an, mir selbst laufende Notizen über meine Erlebnisse zu machen. Ich las zum erstenmal Hamlet. Frau Dora Kurs schenkte mir die Schlegel-Tiecksche Shakespeare-Ausgabe. Mit Dr. Walter Eitzen hatte ich schon in meinem Tabaksladen lange philosophische Gespräche gehabt, die ich meinerseits schriftlich führen mußte, weil er taub war. Nun empfahl er mir Dr. August Messers »Geschichte der Philosophie«. Dieses Buch wurde mir eine anstrengende, aber aufregende Lektüre. Ich wurde grüblerisch. Im April 1910 hörte ich Joseph Kainz rezitieren. Das war ein großer Eindruck. Als er mit Wedekind ernst den Saal verließ, sagte jemand neben mir: »Der Kainz lebt nicht mehr lange.«

Der geniale Hochstapler Peter Anter, für den ich einen Operettentext geschrieben hatte, teilte mir mit, daß mein Text unbrauchbar wäre, und nahm Abschied von mir auf fünf Monate Gefängnis.

Meine Eltern schrieben, Ottilie hätte ein Töchterchen geboren. Im übrigen waren sie besorgt um meine Zukunft. Mutter riet mir ernstlich, ein Handwerk zu ergreifen, etwa Schuster zu werden. Aber ich wollte doch ein Dichter werden. Das war mein glühender Wunsch. Papa hatte irgend was an Paul Heyse auszurichten und sandte mir einen verschlossenen Brief, den ich persönlich Herrn Heyse übergeben sollte. Wahrscheinlich hoffte mein Vater, daß bei dieser Begegnung etwas Günstiges für mich herausspringen könnte.

Herr Heyse wohnte vornehm und sah höchst gelehrt und würdig aus. Ich genierte mich sehr vor ihm. Er ließ mich Platz nehmen und fragte, ob ich seine Dichtungen kennte.

»Ja«, sagte ich, obwohl ich nur das Lied vom schönen Sorrent kannte.

»So? Was kennen Sie zum Beispiel?«

»Wie die Tage so golden verfließen ...«

»Woher kennen Sie das?«

»Wir haben es oft auf See gesungen.«

»Wie haben Sie es gesungen?«

Darauf wußte ich nichts Rechtes zu antworten.

»Singen Sie es einmal vor!« sagte Heyse wie ein Schulmeister.

Ich und singen?! Ich wurde immer verlegener. Aber Heyse ließ nicht locker, und schließlich blieb mir nichts übrig, als das Lied heiser und zitternd vorzutragen. Dann wurde ich entlassen.

Ich dichtete viel, lyrisch und sentimental. So schrieb ich einen Roman »Ihr fremden Kinder«. Den bot ich mehreren Verlagsanstalten an. Niemand wollte ihn drucken. Zuletzt brachte die Zeitschrift »Guckkasten« ein Kapitel daraus.

Im »Simpl« machte ich Paul Linckes Bekanntschaft. Das war der Komponist, der so viele Volkslieder geschaffen hatte, die meine Kindheit begleiteten. Er war übermodern gekleidet und trug auch seinen Schnurrbart in einer extraschicken Fasson. Ferner lernte ich kennen den Lustspieldichter Carl Rößler, Bruno Frank, Hans von Olden, Willy Seidel, den Fabeldichter Etzel und den E. Th. A. Hoffmann-Forscher Carl Georg von Maassen und andere.

Der Verlag Schreiber-Eßlingen brachte im Juni 1910 ein Bilderbuch für Kinder mit Text von mir heraus unter dem Titel »Kleine Wesen«. Gleichzeitig erschien zum erstenmal eine Prosaarbeit von mir in der »Jugend«. Das erfüllte mich mit stolzer Freude. Ich kaufte und verschenkte viele Exemplare dieser Jugendnummer. Ich sah mir immer wieder an, wie sich das gedruckt ausnahm: »Die wilde Miß vom Ohio.« Und ich wurde heimlich aufgeregt, als ich im Kaffeehaus den genialen Maler und geistreichen Menschen Vorel nach jener Jugendnummer greifen sah.

Aber bald sank ich wieder in meine deprimierte Stimmung zurück. Ich fragte bei meiner in Berlin lebenden Tante Liese an, ob sie mir pekuniär ermöglichen wollte, daß ich mein Abitur nachholte, um dann ein Studium zu ergreifen. Denn ich litt bitter darunter, daß fast alle meine Bekannten studiert hatten oder doch gebildeter waren als ich. Der Pflegedienst bei Seeles kranker Mutter einerseits und das Nachtleben im »Simpl« andererseits ließen mir keine Zeit, mich selber weiterzubilden. Tante Liese antwortete abschlägig.

Ich ärgerte mich bis zum Haß über Kathi Kobus und lief ihr einmal davon. Aber sie holte mich wieder. Wenn es ihr darauf ankam, verstand sie es ja so gut, jemanden zu bestricken, und da sie mir dazu fünfzig Pfennige mehr pro Abend bewilligte, blieb ich nun weiter bei ihr.

Ich wurde dem Baron Thilo von Seebach vorgestellt, der ein außergewöhnlich tiefes Wissen auf den meisten geistigen Gebieten besaß. Er stand einem bibliophilen Kreis nahe, der sich um C.G. von Maassen scharte und dem Unold, Graf Klinkowstroem, die Balten Arthur Knüpffer, Helmut von Schulmann, die Gebrüder von Hoerschelmann sowie andere Herren angehörten. Seebach führte den Spitznamen Biegemann.

Der Baron ließ mich anfangs genauso seine geistige und gesellschaftliche Überlegenheit fühlen, wie es die anderen taten, Maassen, wenn er mich auslachte, weil ich nicht wußte, was »prophylaktisch« bedeutete; wie es sogar der gutmütige, aber geistig völlig unbelastete H.v.L. tat, wenn er mir etwa sagte: »Das geht aber nicht, mein Lieber, daß du zum Smoking einen weichen Kragen trägst.« Doch waren sie alle dabei liebenswürdig und gastfrei, und ich lernte von ihnen allen, profitierte insbesondere in bezug auf Geschmack und Manieren. Meine Zuneigung zu Seebach wuchs rasch, führte zu einer innigen Freundschaft.

Am 28. Juli 1910 erschien mein erstes Buch im Hans-Sachs-Verlag in München. Ein dünner Band lyrischer Gedichte. Gedichte, wie sie von Tausenden junger Schwärmer gedichtet werden, aber in ehrlichen Stimmungen mit unbeschreiblicher Leidenschaft geschrieben. Dr. Milk überraschte mich dabei, wie ich die Korrekturbogen in der traulichen Weinstube Bavaria-Osteria mit innerlicher Aufregung durchlas. Er sah mir ins Blatt und sagte nach einiger Zeit, den Finger bedeutungsvoll hebend: »Ich sage Ihnen, Ihre Linie geht nach oben.«

Das Buch hatte ich meinem Vater gewidmet. Der freute sich darüber, wohl schon deswegen, weil damit endlich einmal etwas Positives aus meiner Lebensweise kam. Pekuniär lag das zwar anders. Mein Vertrag war so: Alle Unkosten trägt der Verlag. Bei etwaiger dritter Auflage würde ich Prozente erhalten.

Bei einem öffentlichen Preisausschreiben für das beste Studentenlied ging ich textlich als Sieger hervor mit einem wenig originellen Gedicht »Mit dabei«. Als man in einer zweiten Konkurrenz die Entscheidung über die beste Komposition dazu austrug, war ich zugegen. Über tausend Studenten sangen meinen Text in verschiedenen Kompositionen. Da ich aber zu dieser eindrucksvollen Veranstaltung nicht geladen war, noch mich vordrängen wollte, ließ ich mich ganz allein dort in einem versteckten Winkel nieder. Monate danach wagte ich endlich einmal anzufragen, worin nun eigentlich mein erworbener Erster Preis bestünde. Daraufhin erhielt ich eine Postanweisung über fünf Mark.

Seebach unterrichtete mich jetzt täglich in Latein, Geschichte, Literaturgeschichte und anderem. Er war zehn Jahre älter als ich. Einen Beruf hatte er nicht, hatte er nach seinen Studienjahren wohl nie gehabt. Er stellte selbst die Scherzfrage: »Das Erste ist flüssig, das Zweite ist flüssig und das Ganze ist überflüssig? – Antwort: See – Bach.« Wovon er lebte, wurde mir nie ganz klar. Die ihm ausgezahlten Erbanteile mußten längst verbraucht sein. Wohl beobachtete ich, daß er gelegentlich Inkunabeln oder eine wertvolle Münze verkaufte. Er war als Bibliophile ebenso versiert wie als Numismatiker. Die Miete blieb er jahrelang schuldig. Trotzdem mahnte ihn seine Pensionswirtin nie, blieb unverändert nett zu ihm. Er war immer gediegen angezogen. Sein inneres wie sein äußeres Wesen waren betont aristokratisch. Mir gegenüber lachte er aber darüber, wie er denn überhaupt in mir nur das Menschliche suchte. Er las tagsüber, abends trank er viel billigen Schoppenwein und rauchte billige Zigaretten dazu. Angeheitert beschimpfte er laut rücksichtslos und mit einem scharf geschliffenen Humor den Wirt und die Gäste, wo immer er saß, warf ihnen Feigheit, Ignoranz oder jüdische Gesinnung vor. Mit anderen Leuten bändelte er freundschaftlich an, aber ebenso deutlich und auffallend. Saß er allein in einem Lokal, so forderte er wohl auch plötzlich eine ihm fremde, seriöse Gesellschaft auf, mit ihm das Lied zu singen »Im Nachttopf ist es still und kühl«. Oder er schnüffelte umher und sagte auf einmal mit tiefernster Stimme vor sich hin: »Und immer dieser Blutgeruch!« Das geschah immerhin in einer so komischen Manier, daß ihm kluge Leute nicht so leicht böse wurden. Nur mit den jungen Studenten bekam er immer Händel.

Wenn ich Biegemann mittags besuchte, lag er und blieb er noch im Bett. Und las in einem Buch. Von diesem Buch ging er dann aus in seiner belehrenden Unterhaltung. Manchmal wurde dieser Unterricht dadurch unterbrochen, daß ein Kartellträger sich einstellte, um dem Baron eine Forderung zu überbringen. Das kam aber immer darauf hinaus, daß solch ein Student zuletzt versöhnt mit Seebach im Wirtshaus saß. »Ich werde mich in meinem Alter doch nicht mehr schlagen!« sagte Seebach. Er war ehedem ein schneidiger Fechter gewesen.

Als ich mit Biegemann aus dem berühmten Frühlokal Donisl kam, sah ich einen Mann mit erhobenem Stock auf ihn eindringen. Ich kam zuvor und hieb mit meinem Stock auf den Kerl ein. Seebach beteiligte sich nicht, sondern schrie nur immerzu und suchte mich zurückzureißen. Nun hörte ich, was er schrie: »Halt ein! Du schlägst meinen liebsten Freund tot!« Der andere, ein Studienfreund von Seebach, hatte diesen in einer Fechterstellung begrüßen wollen. Bindet die Klingen.

Bruno Frank kam häufig in den »Simpl«. Er ging dann nach Polizeistunde noch mit mir zum Hauptbahnhof, wo man im Wartesaal Kaffee trinken konnte, wenn man pro forma eine Fahrkarte löste. Bruno Frank imponierte mir sehr. Er benahm sich in allem ausgesucht ästhetisch und war als Schriftsteller bereits so arriviert, daß er für die Zeitschrift »Simplizissimus« schrieb, was wir Jungen alle anstrebten. Außerdem bewohnte er im besten Hotel ein teures Zimmer mit vornehmem Bad und verkehrte im Hause Thomas Mann. Über diesen schrieb er verschiedentlich.

Frank sagte mir, es wäre sein höchster Wunsch, einmal ein Dichter wie Thomas Mann zu werden. Jene langen, anregenden Nachtstunden auf dem Hauptbahnhof waren frohe und herzliche.

Die Zeitschrift »Licht und Schatten« schrieb eine Preiskonkurrenz aus für die beste ernste oder heitere Novelle. Thomas Mann war einer der Preisrichter. Bruno Frank war überzeugt davon, daß er den Ersten Preis erhielte. Dann traf ich Willy Seidel. Der war überzeugt davon, daß er den Ersten Preis erhielte.

Ich verbrachte drei Tage in Oberammergau, sah mir die Festspiele an. Der Lazarus hatte mich im »Simpl« dazu eingeladen. Ich wohnte bei ihm. Es war die letzte Vorstellung der Saison. Kaum war sie vorüber, so bot der Ort einen drolligen Anblick. Überall auf den Dorfstraßen klapperten Scheren. Die Oberammergauer ließen sich Bärte und Langhaare scheren.

Im Oktober schloß der Verlag R. Piper & Co. einen Buchvertrag mit mir.

Ich hatte kleine Ulkreime geschrieben, zu denen der Maler Seewald entzückende Illustrationen zeichnete. Nach diesen Verschen von mir ist dann später so häufig gesagt worden, ich lehnte mich an Morgenstern an. Aber damals, als ich sie schrieb, hatte ich noch keine Zeile von Morgenstern gelesen.

Um diese Zeit wurde auch mein Schiffsjungentagebuch angenommen. Der Verlag »Die Lese« feierte gerade ein Jubiläum und gab seinen Autoren ein Frühstück in einer Privatvilla. Auch ich als jüngster Autor war dazu geladen. Ich gab mich sehr würdig in dieser Gesellschaft. Bis ich an einer chinesischen Decke hängen blieb und dabei acht Gläser Champagner auf dem Flügel umstieß.

In der »Lese« war ein kleines Tippmädchen angestellt, namens Marietta. Dies zierliche Ding trat nachdem im »Simpl« in Erscheinung, indem sie dort Gedichte hersagte und mit einer scharmanten Frechheit aller Herzen gewann.

Ich wurde sehr krank, mußte eine Drüsenoperation durchmachen, lag längere Zeit ganz lebensmüde zu Bett. Bruno Frank besuchte mich, brachte mir weiße Rosen. Seebach, Dr. Milk und andere besuchten mich, brachten mir Wein, Zigaretten und Bücher. Und Seelchen pflegte mich aufopfernd. Als ich endlich wieder in den »Simpl« konnte, wurde ich dort herzlich empfangen. Man hatte mich vermißt. Das tat mir wohl. Auch daß mir Scharf erzählte, ihm und Dauthendey hätte meine kleine Skizze »Sie steht doch still« gut gefallen.

Man nahm mich schon ein wenig ernster. Die »Woche« trat an mich heran, bat um eine neue Arbeit. Aber die Freude über solche kleinen Fortschritte hielt nie lange an. Denn andererseits wuchs auch mein Gefühl für Kritik und Selbstkritik.

Biegemann verreiste, um sich mit einer Baroneß Nolcken zu verloben, der auch ich einmal auf einem Bal paré vorgestellt war.

Ich sah Ibsens »Nordische Heerfahrt«, aber das Stück gefiel mir nicht. Ich las alles, was Bruno Frank schrieb oder was er mir empfahl, z.B. eine Novelle seines Freundes Willy Speyer »Wie wir einst so glücklich waren«. Die schien mir nun zwar reichlich stark von Thomas Mann beeinflußt, aber ich beneidete doch Frank wie Speyer um solche Erfolge. Ich fühlte mich weit hinter diesen soviel jüngeren Menschen zurück. Sie hatten die Bildung, die Zeit zum Schreiben. Sie hatten Geld. Geld schien mir auf einmal der Schlüssel für alles. Geld zum Gesundwerden. Geld zum Arbeitenkönnen. Geld zum Lernen. Geld zum Reisen. Ich fing an, Lotterie zu spielen. Ohne den geringsten Erfolg. Als ich eines Nachts in eine Roulette spielende Gesellschaft geriet und mich mit einem kleinen Einsatz beteiligte, gewann ich hundert Mark. Die mußte mir ein reicher Herr auszahlen. Er vergaß es aber, und ich wagte aus Respekt nie ihn zu mahnen.

Sehr oft gingen wir, Seebach, ich, die baltischen Freunde und was sich sonst gerade dazufand, noch in später Nacht zu Herrn von Maassen. Der besaß eine behagliche, originelle Wohnung und eine große, interessante Bibliothek, hauptsächlich Bücher der Romantiker.

Maassen stammte aus Hamburg. Er war ein hochgebildeter Mann von mitreißendem Humor, und er bot seinen vielen Bekannten liebenswürdige Gastfreundschaft. Die Burgundergläser klirrten, und der aufgeregte Rabe Jakob durfte mittrinken, wurde auch wie wir, nur noch schneller animiert. Manchmal briet Maassen sogar im »Lucullus« eine Gans. Er und die anderen Herren dort verstanden sehr viel vom Schlemmen und Kochen. Sie waren auch alle einmal in Paris gewesen, hatten alle einmal in Monte Carlo gespielt. So sprach und stritt man auch zumeist über Bücher, Kunst und Gastrosophisches. An die Nächte in diesem geistvollen und ausgelassenen Junggesellenheim denke ich mit dankbarem Vergnügen zurück.

So kam ich dazu, die besten Bücher zu lesen. »Tristram Shandy« – »Gargantua und Pantagruel« – »Simplicius Simplicissimus« – Gontscharows »Oblomow«.

An einem Februarmorgen 1911 ging ich müde und verkatert heim. Da hörte ich meine Tante – mit der ich mich derzeit gerade etwas überworfen hatte – bitterlich schluchzen. Ihre Mutter war nun endlich gestorben.

Ich tröstete Seelchen, so gut ich es konnte. Da die Leiche nach bayrischer Sitte noch am selben Tage aus dem Hause mußte, um dann einen Tag lang öffentlich ausgestellt zu werden, nahm ich der Tante die nötigen Gänge zum Arzt, zur Totenfrau, zur Polizei usw. ab. Als die Leichenfrau die tote Mutter wusch und einkleidete, gab die Leiche einen grausigen Laut von sich, über den Seelchen und ich im Nebenzimmer sehr erschraken. Es gelang mir, die Tante mit einer falschen Erklärung zu beruhigen.

Meine Nerven waren derart herunter, daß ich Halluzinationen hatte und mich morgens fürchtete, durch den dunklen Treppenflur zu gehen.

Dora Kurs sandte mir die »Renaissance« von Gobineau, ein Buch, das mir sehr mißfiel. Vater schenkte mir den Roman »Aus der alten Fabrik« von dem Dänen Bergsöe. Dieses Buch hatte ich schon zehnmal mit Rührung und Genuß gelesen. Es war auch ein Lieblingsbuch meines Vaters.

Ich hörte einen Vortrag des Polarforschers Nordenskiöld. Ich sah Wallenstein und andere Theaterstücke.

Die Zeitschrift »Simplizissimus« lehnte meine Geschichte »Durch das Schlüsselloch eines Lebens« ab, ermutigte mich aber diesmal durch einige beifällige Bemerkungen. Als ich die kurze Erzählung an Thomas Mann einsandte mit der Bitte um Beurteilung, schrieb mir dieser: »Die kleine Sache ist recht artig vorgetragen.«

Ich sehnte mich nach Freiheit. Im »Simpl« hielt ich es nicht mehr aus. Längst schon wollte ich die Nachtstellung dort aufgeben, aber ich war völlig energielos geworden. Außerdem schuldete mir Kathi Kobus noch Geld, und sie verzögerte die Herausgabe, weil sie meine Absicht durchschaute und genau wußte, daß sie mich, wenn ich diesmal fortginge, nicht wieder zurückholen könnte. Endlich redete ich ihr doch ein, daß ich gesundheitlich Erholung brauchte, da gab sie mir Urlaub und mein Geld. Der Schriftsteller Ferdinand Kahn war dabei, als ich den »Simpl« verließ. Auf der Straße spannte ich einen nagelneuen Regenschirm auf und sprang vor Vergnügen mit beiden Füßen hinein. Freiheit!

Seebachs Braut hatte mich auf das Gut ihrer Eltern nach Kurland eingeladen. Biegemann selbst erwartete ein paar tausend Mark, die ihm ein Geschäftsmann verschaffen wollte. Mit diesem Geld gedachte er nach Kurland zu reisen, um zu heiraten. Ich hatte Biegemann manchmal ein kleines Geldchen zugesteckt. Aus Dankbarkeit wollte er mich nun auf seine Kosten mit nach Kurland nehmen. Wir verabredeten, daß ich ihn in Kufstein erwarten sollte. In zwei bis drei Tagen wollte er mich dort abholen oder mir Nachricht geben. Ich hatte noch für etwa sechs Tage zu leben. Also gab ich ihm meinen Paß, um das Visum zu besorgen, und fuhr nach Kufstein.

Ich bezog das beste Hotel und lebte gar nicht sparsam, weil mir Seebach gesagt hatte, ich sollte nur anschreiben lassen. Er würde mich auslösen.

Nun bot sich mir die Zeit zum freien Dichten, die ich mir so lang gewünscht hatte. Aber ich schrieb nichts. Die herrliche Umgebung lockte zu Spaziergängen. In einer sternenlosen Nacht geriet ich im Wilden Kaiser in einen Wolkenbruch mit furchtbarem Gewitter. Ich befand mich gerade in einem finsteren Walde und hatte den Weg verloren. Da mußte ich schließlich auf allen vieren kriechen und, nachdem ich sechs Revolverpatronen verschossen hatte, für jeden Schritt den kurzen Schein der Blitze ausnutzen, die links und rechts von mir in die Bäume schlugen. Später konnte ich mich davon überzeugen, welchen gefährlichen Weg ich da passiert hatte. Als ich frierend, naß und müde eine Hütte erreichte, machte ich mir keine Hoffnung, dort noch Leute wach anzutreffen oder gar ein Unterkommen zu finden. Ich klinkte. Die Tür gab nach. In einem hellen Raum saßen Touristen beim Wein, eine Harfe erklang, von einem Tiroler in kurzer Wichs gespielt. Zwei von den Gästen schrien gleichzeitig auf: »Der Hausdichter von der Kathi!« Ich erfrischte mich an einem Sahnengericht, das man Maibutter nannte, und es wurde eine fröhliche Nacht. Andern Morgens marschierte ich weiter, stieg bis zum Stripsenjoch hinauf. Die Hütte dort war auf der einen Seite ganz vereist. Von der anderen Seite blühten liebliche alpine Pflanzen.

Ich erkor mir den Hilfsarbeiter Alex zum Freund, weil ich Gesellschaft in Kufstein vermißte. Alex war auch Wilderer, im übrigen unsagbar dumm und faul, jedoch ein hübscher Bursche. Wir unternahmen Ausflüge. Eines Nachts lud ich ihn feierlich zu einer Flasche Sekt ein, um mit ihm Brüderschaft zu trinken, dann streiften wir durch einen dunklen Wald. Da kamen wir auf Mord und Totschlag zu sprechen. Plötzlich blieb Alex stehen, drückte mir treuherzig die Hand und sagte in seinem Dialekt: »Das eine kannst mir glauben, daß ich dich nie von hinterwärts erstechen werde.«

Ich liebte mein Hotelzimmer und ging gern zu den Bauern und in deren Ställe. Es waren vier bis fünf Tage vergangen, ohne daß Seebach etwas von sich hören ließ. Aber ich vertraute eisern auf ihn. Ein Honorar half mir weiter. Ich lernte neue Bekannte kennen, so einen lustigen Herrn Busch, der früher in Afrika gewesen war und jetzt künstliche Blumen fabrizierte. Durch ihn wurde ich Stammgast in der bekannten Weinkneipe Schicketanz. Der langbärtige Schicketanz hatte einen Hund, der Pfeife rauchte.

Kufstein wurde mir zu teuer. Ich gab mein Hotelzimmer auf. Als ich die Rechnung bezahlen wollte, fehlten mir noch sechs Kronen. Verlegen schützte ich einen Spaziergang vor, wanderte vor die Stadt und ließ mich in einem Garten nieder. Da hatte ich ein kleines Erlebnis, das mich später in Träumen verfolgte. Im Sande kroch ein Tier, das so aussah wie ein großer Tausendfuß. Ein vorbeitrottender Bernhardiner machte einen spielerischen Satz und quetschte dabei mit seiner Tatze die eine Hälfte des Tieres im Sande fest. Nun arbeitete das halb verschüttete Tier mit den Beinen, die es noch frei hatte, verzweifelt um sich.

Als ich bedruckst nach dem Hotel zurückging, las ich in einem Trafik, daß ich für wenig Heller im Lotto dreißig Kronen gewonnen hatte. Im Hotel erwartete mich eine zweite Überraschung. Ein Honorar, das ich allerdings erwartete, war telegraphisch eingetroffen.

So reiste ich mit fünfzig Mark nach Straß im Zillertal, wo ich unter unfreundlichen Menschen acht verregnete Tage verbrachte. Zwar fing ich eine kleine Liebelei mit der Postexpedientin an und sah ferner zu, wie man mit österreichischen Militärhengsten ländliche Stuten belegte. Aber das bäurische Postmädchen war blöde, und das Belegen dauert auch nicht ewig. Ich war froh, als mich Seele nach ihrer Sommerfrische ins Ötztal einlud. In Lengenfeld wohnte sie. Eine schöne Gegend. Aber dumm! Infolge Inzucht gab es unter den Einwohnern viele Idioten. Ich konnte mich stundenlang mit den idiotischen Kindern unterhalten. Seele war reizend zu mir. Ich lachte sie freundlich aus, weil sie die Manie hatte, auf Ausflügen so viel Blumen und Zweige abzurupfen, daß sie vor Schlepperei nie zu einem vollen Genuß kam. Aber sie liebte und pflegte die Blumen daheim zärtlich. Als ich auf einem Spaziergang ganz unnötigerweise, nur um kühn zu sein, in einer schmalen und kurzen, aber ganz steilen Felsspalte hochkletterte, von Busch zu Busch, mußte ich – da ich nicht mehr umkehren konnte – durch den Kadaver einer abgestürzten Kuh kriechen. Das war entsetzlich.

Ich wollte endlich wissen, wie es um Seebach stand, und fuhr nach München. Ich wußte, daß er ins Hotel Wagner übersiedelt war. Als ich nun dort sein Zimmer betrat, traf ich nur eine fegende, ältliche Zimmerfrau. Der Baron wäre soeben fortgegangen. Sie wüßte nicht, was der Baron eigentlich hätte. Er sagte immer was von Blutgeruch. Die Zimmerfrau hielt im Fegen inne und schnüffelte nach allen Seiten: »I riach fei nix!«

Biegemanns Geldangelegenheit hatte sich verzögert. Ein paar Tage logierte ich bei einer zärtlichen, klugen Frau, dann fuhr ich mit meinem Gepäck nach dem Hotel Wagner. Seebach und ein Oberkellner, Seite an Seite, waren gerade damit beschäftigt, unter laut anfeuernden Rufen und gleichmäßigen Stößen den Deckel eines überfüllten Rohrplattenkoffers zuzudrücken. Beide waren vor Anstrengung und Frühschoppen krebsrot im Gesicht.

Wir reisten ab. Zunächst nach Berlin, wo wir zwei Tage im Hotel Töpfer wohnten. Dann für einen Tag nach Danzig, wo Seebach seine Mutter besuchte, mit der er nicht sonderlich herzlich stand. Dann weiter nach Riga.

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