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»Das Abenteuer um Wilberforce«
(Schluß)

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Inhaltsverzeichnis

Ich wog die Freuden und Sorgen meiner Seefahrten gegeneinander ab, dachte an die wechselvollen Erlebnisse in fremden Orten, auch an Hull, an Blooms cook und an das Abenteuer mit dem geschminkten, nach Himbeeren duftenden Girl, das ich am Wilberforce – ich wußte inzwischen, wer Wilberforce war –, das ich am Wilberforcedenkmal angesprochen hatte.

Eine unbändige Sehnsucht nach Hull erfaßte mich. Ich kündigte plötzlich meine Stellung, und fünfzehn Tage später war ich reisebereit.

Meine Eltern sollten nichts davon erfahren. Weil mir aber nach Begleichung der Miete und verteilter anderer Schulden nur noch ein paar Mark verblieben, wandte ich mich telegraphisch an meinen besten, eigentlich einzigen Freund Martin Fischer mit der Bitte, mir zehn Mark zu leihen. Ihm wäre das leicht gefallen. Auch war es das erstemal, daß ich ihn um eine solche Gefälligkeit anging.

Aber ich erhielt weder Geld noch Antwort und schrieb dem Freund nie wieder und sah und hörte von ihm nichts mehr.

Nun suchte ich zunächst Telschow in Eltville auf, der mir zwar auch nicht zu Geld verhalf, aber sich sonst sehr freundschaftlich zeigte und von meinem Vorsatz, nach England zu reisen, begeistert war. Noch einmal ließen wir unsere Freundschaft und unsere Begeisterung in unserem Leibsekt »M.M.« treiben.

Ich hatte mir ausgesonnen, mich zu Fuß mit meiner Mandoline als fahrender Musikant bis nach Holland durchzuschlagen und dann per Dampfer nach Hull zu fahren. Dieser Plan war insofern phantastisch und frech, als ich von Natur aus durchaus unmusikalisch war, niemals Mandolinenunterricht genossen hatte und auf diesem Instrument mit Mühe und Not nur fünf Lieder ganz dilettantisch und kindlich spielen konnte. Von Noten, von Akkorden wußte ich nichts.

Dennoch machte ich mich auf den Weg, an einem Abend, da Hunderte von Nachtigallen am Ufer sangen, und mein Freund gab mir ein Stück das Geleit.

Ich trug einen grünen Lodenanzug, ein Jägerhütlein, in einem Wachstuchfutteral meine Mandoline und in einem dürftigen Köfferchen aus Segeltuch einen überlangen Gehrock sowie etwas Wäsche. Den Rhein abwärts von Dorfkneipe zu Dorfkneipe.

Ich spielte »Wie die Tage so selig verfließen«, dann »Hans und die Ella saßen im Keller«, dann »Santa Lucia«, dann »Daß ich so klein und niedlich bin, das hab' ich von meiner Mama«, und bevor ich das fünfte, das letzte Lied, mein Lieblingslied »La Paloma« zugab, sammelte ich ein.

Die Bauern, mehr oder weniger von der Musik gerührt – es kam vor, daß dem einen oder anderen Tränen in den Augen standen –, gaben mir Kupferpfennige und Wein, und in den Gasthöfen, wo ich übernachtete, forderten die Wirte keine oder höchstens geringe Bezahlung. In größeren Orten, in vornehmen Restaurants, eleganten Gartenlokalen, setzte ich mich bescheiden in einen Winkel, holte mir auch zuvor beim Wirt die Erlaubnis zum Spielen ein. Die Gäste dort, gerührt oder belustigt durch mein klägliches Geklimper, legten Fünfer oder Zehner in meinen Teller und spendeten mir im Übermaß Essen und Trinken. Solcherweise geriet ich auch in Hochzeiten und sonstige Festlichkeiten, da ich denn noch freigebiger beschenkt wurde.

Meine Hosentaschen waren voll und schwer von Münzen. Es gewährte einen wundersamen Reiz, mit beiden Händen darin zu wühlen. Ich war meines Glückes voll bewußt. So reich, so frei und dabei ein Landstreicher zu sein, den niemand beneidete noch ausnutzte, dem alle Wohlwollen oder Mitleid entgegenbrachten, dem schlimmstenfalls mißtrauende Menschen auswichen.

Nur wenige Male ereignete es sich, daß ein Landgendarm mir bedeutete, es wäre nun an der Zeit, mich weiterzuscheren. Ich sah auch bald sehr nach Landstraße aus. Mein Gewand, meine Schuhe waren abgenutzt, verschwitzt und verstaubt. Haar und Bart ließ ich wachsen, wo und wie sie wollten.

Bei den Schlächtern und Milchhändlern, die mein Kleingeld gegen größere Münzen einwechselten, zu welchem Zwecke ich die Pfennige, Fünfer und Groschen hübsch gleichmäßig in Häufchen auf den Tisch zählen mußte, erhielt ich nachdem fast jedesmal ein Zipfelchen Wurst, einen Trunk frischer Milch.

Es waren malerische Straßen, die ich zurücklegte. Da mein Geld wuchs und mir die Gelegenheit, es zu verausgaben, meist gastfrei abgeschnitten wurde, so konnte ich mir's bald leisten, für längere Strecken die Rheindampfer zu benutzen, und auch auf diesen Fahrten schlug ich Geld aus meinen wimmernden Saiten.

Vor Rotterdam ballten sich Besorgnisse in mir. Ob man mich an der Grenze anhalten und ausforschen, für einen Stromer halten und zurückweisen würde. Aber alles verlief dann gut. Ich überschritt mit Herzklopfen, doch unbehelligt die Grenze und bezog ein Quartier in einem schlichten Gasthaus, wo ich die Miete für eine Nacht im voraus entrichtete.

Am nächsten Morgen forderte ich im Büro der Wilson-Line ein Ticket zweiter Klasse nach Hull für einen Dampfer, der noch am selbigen Abend abdampfen sollte. Das Billet kostete fünfzehn Schillinge; dar über hatte ich mich bereits in Frankfurt orientiert.

Der Herr am Schalter sprach gut deutsch. Bevor er mir den Fahrschein einhändigte, fragte er, wieviel Geld ich bei mir hätte. So oft am Tage hatte ich meine Schätze überzählt, ich wußte bis auf den Pfennig, was ich besaß. Ich antwortete prompt und lustig: »Neunundvierzig Mark und zweiundzwanzig Pfennige.«

Der Schalterbeamte zuckte die Achseln. »Ich bedaure«, sagte er, »Sie können nicht reisen. Sie müssen in England fünf Pfund, also hundert Mark, vorweisen können. Ich darf Ihnen den Fahrschein nicht ausliefern.«

Es gab ein Hin und Her von Reden, die meinerseits entrüstet, flehend, verbittert klangen. Der Angestellte der Wilson-Line blieb ruhig und höflich und unerschütterlich. Ich wankte hinaus durch Straßen, nach dem Hafen.

Der Anblick der Schiffe und alles, was mich sonst seemännisch hätte anheimeln müssen, ließ mich nun kalt, war beschattet von dem Gedanken, daß ich so nahe am Ziel wieder umkehren sollte. Ich sann auf einen Ausweg. – Der Herr am Schalter war nicht allein höflich, sondern sogar herzlich gewesen. Ich wollte ihn noch einmal bestürmen.

Er hörte mich freundlich an. Er überlegte. Mir ward heiß vor Hoffnung. Er fragte: »Haben Sie noch einen anderen – einen besseren Anzug?«

»Jawohl!« sagte ich eisern, und mein Gehrock, ein schneeweißes Hemd und ein nagelneuer Kragen blähten sich in meinem Hirn.

»Ich will nichts gesagt haben«, sprach der Herr weiter und ließ seine Stimme sinken, »aber wenn Sie erster Klasse fahren, dann kostet das Billett dreißig Schillinge, und Passagiere erster Klasse hält man in England nicht an.«

Ich flog davon, wusch mich, als wäre ich in Tinte gefallen, legte neue Wäsche und den überlangen Gehrock an. Darauf ließ ich mir von einem Friseur Haare und Bart stutzen, und wenn dieser Mann mich fragte: »Wünschen Sie Puder –« oder: »Soll ich etwa – –«, dann unterbrach ihn mein sicheres »Certainly!«

Mit koketten, kurzen Tänzelschritten betrat ich wieder die Geschäftsräume der Wilson-Line, verbeugte mich steif und gemessen vor meinem lächelnden Gönner und empfing das Billet erster Klasse nach Hull.

Als ich mich einschiffte und die Stewards mich fatal entgegenkommend empfingen, hatte ich einen peinlichen Stand, den Eindruck gentlemanlike und mein Köfferchen aus Segeltuch in Einklang zu bringen. Ich kam mir wie ein Hochstapler vor und war viel zu naiv, um etwa einfach den Spleenigen zu spielen.

Das Schiff war in der Hauptsache Frachtdampfer und führte nur wenige Kabinen. Außer mir war auch nur noch ein Passagier, eine Dame, an Bord, deren elegante und interessante Erscheinung Aufsehen erregte. Es lockte mich unwiderstehlich, ihre Bekanntschaft zu machen. Als uns in dem luxuriösen Salon gemeinsam serviert ward, stellte ich mich kühn vor, womit sie, vermutlich aus Langerweile, zufrieden schien.

Sie kam aus Venedig, und wir plauderten über diese auch mir bekannte Stadt. Und während ich im Laufe der sich vertiefenden Unterhaltung durch meine englischen Unkenntnisse viel Sprachunheil und komische Mißverständnisse anrichtete, gerieten wir in eine warme, nahezu vertrauliche Stimmung. Es war mir sehr angenehm, daß wir später auf das nur spärlich beleuchtete Promenadendeck übersiedelten. Denn dort brauchte ich nicht mehr meine Beine krampfhaft übereinanderzuschlagen, um ein Zigarettenbrandloch zu verdecken, brauchte nicht immer wieder meine zu Boden gerutschten Gehrockschöße zu raffen und die Raffe zwischen Stuhl und Gesäß festzuklemmen. Auch war ich endlich den neugierigen Blicken der Stewardeß entzogen.

Wir räkelten uns in Faulenzerstühlen. Es war eine unvergeßliche, erfrischende Nacht. Der Himmel leuchtete sternenlos in weitem Grau. Das Meer war schwarz und brausend bewegt, und das Schiff stampfte, von Wellenschaum wie von einem Spitzenkragen umgeben. Ich saß als Passagier erster Klasse neben der reizenden, etwas sentimentalen Miß. Wenn sie geahnt hätte, daß ich keine zwölf Schillinge mehr besaß!

Sie wird viel mehr gemerkt und geahnt haben, als ich damals annahm. Wie aber legte sie sich das wohl aus? Im guten oder im bösen Sinne?

Es ward kein Roman aus unserem Zusammensein. Als sie sich zurückzog, verabschiedeten wir uns befriedigt höflich. Sie trug noch ein Shakespeare-Zitat in das Schiffsgästebuch ein, ich dichtete selbst ein Verschen darunter, und dann ging ich noch lange mit unruhigen, süßen Gedanken auf Deck auf und ab.

Als anderen Tags die Zollbeamten mein Gepäck revidiert hatten und ich mit diesem, um die Stewards herumlavierend, von Bord ging, sah ich meine Dame auf dem Landungssteg noch einmal wieder. Ich verabschiedete mich von ihr, auffallend laut. Sie reichte mir noch ihre Visitenkarte. Darauf stand: »Azubach Hines, Wakefield.«

Und niemand hielt mich an. Ich stand in Hull mit weiter Brust. Ein zerlumpter Gassenbube bot sich mir aufdringlich als Gepäckträger an. Ich fragte, ob er ein billiges Zimmer für mich wüßte. Er ließ sich einen Schilling vorauszahlen und geleitete mich in eine Pension Huttstreet 22, wo auch der deutsche Pastor logieren sollte.

Ein Fräulein Scott leitete dieses Privatlogierhaus. Sie wies mir ein Zimmerchen an, daß six shilling six pence pro Woche kostete, und ich war beglückt darüber, ein Stück Seife vorzufinden.

Durch Erfahrungen belehrt, hatte ich mir fest vorgenommen, vor allem und sofort mich nach Arbeit umzutun. Es durfte nicht geschehen, daß ich wieder heimlich und voll Angst zwischen Zementsäcken schlief. Aber als ich gewaschen und frisiert die Pension verließ, konnte ich mich noch nicht bezwingen, sondern schlug die Richtung nach Blooms Haus ein.

Das Boardinghouse Bloom nach sechs Jahren einmal wiederzusehen, war doch das Ziel meiner Reise gewesen. Hatte ich nicht deshalb meine Frankfurter Stellung, meine neue, gesicherte Stellung aufgegeben?

Ich eilte, von einem heimwehähnlichen Gefühl getrieben, dem Prospectplace zu.

Und doch bog ich unterwegs unwillkürlich vom direkten Kurse ab und stand wenige Minuten später Wilberforce gegenüber.

Das Denkmal war selbstverständlich noch da. Es war nicht gestohlen.

Ich starrte den berühmten Philanthropen, den großen Menschenfreund lange an. Ich bemühte mich dabei, seinen Namen in der Art und Weise einer englischen Frauenstimme auszusprechen. – –

Blooms Haus war verschlossen und hatte die Fensterläden wie Augenlider niedergeschlagen. Ich trat in den Ausschank, wo ich einst täglich für Mistreß Bloom heimlich Stout, Ale und Whisky besorgt hatte.

Ich hörte, Blooms wären seit Jahren verzogen, aber wohin, wäre unbekannt.

Andere Nachbarn erinnerten sich nicht einmal mehr. Die Frau eines Polizisten erkannte mich als Blooms cook. Sie wußte nur, daß Blooms seit Jahren weitab wohnten. Sie nannte mir den Namen der Straße und beschrieb den Weg. Ich sollte dort nach Blooms garden fragen.

Im Laufschritt legte ich den Weg zurück. Blooms garden bestand aus zwei schmalen Gemüsebeeten und aus einer Bretterbude, darin Herr und Frau Bloom Sodawasser verkauften. Beide waren zugegen, aber ich erschrak über ihr verblödetes Aussehen und über ihren heruntergekommenen Zustand. Sie erkannten mich nicht, und als ich, um ihr Gedächtnis wachzurufen, Einzelheiten von damals berichtete, nickten sie »yes« und »yes«, aber ich merkte, daß sie sich auf nichts besannen. Ich bestellte und bezahlte zwei Flaschen Sodawasser, die ich unberührt ließ, und entfernte mich mit verlegenem Gruß.

Und hockte später lange, ohne mich zu rühren, wie ein kranker Vogel in meinem kahlen Stübchen in der Huttstreet.

Sonnenschein weckte mich frühzeitig. Durchs offene Fenster trug eine leichte Brise salzige Luft, die brachte mir wieder Unternehmungslust. Es galt, so schnell wie möglich eine Verdienstquelle zu ermitteln, bevor meine Barschaft zu Ende ging.

Meine Mandoline kam nicht in Frage, das hatte ich bereits erkundet. Fahrende Musikanten durften nur auf offener Straße spielen. Ich stieg also wie einst von Schiff zu Schiff, bekam aber weder Anstellung noch vorübergehende Arbeit. Indessen geschah es wieder mehrmals, daß mir von den Matrosen, die Blick und Verständnis für hungrige Menschen haben, Speise und Trank verabreicht wurde, ohne daß ich darum anging. Denn aus Grundsatz bettelte ich nie, was schon insofern ein unnötiger Stolz war, als ich zweifellos manchmal viel Fragwürdigeres beging.

Der Anblick der vielen Arbeitslosen und zerlumpten, oft stockbetrunkenen Weiber, die sich mir um einen Priem anboten, sowie der Gedanke an Blooms Schicksal erfüllten mich mit hetzender Angst. Ich bot mich im Shakespeare-Hotel und in sämtlichen Hotels und sonstigen Gaststätten als Kellner an. Vergeblich.

Es war der Hospital-Saturday. Überall sperrten mir schöne Damen den Weg, mich um einen Penny ersuchend, und ich gab, jedesmal seufzend, viele Pennys hin.

An die Frucht-Exporthäuser und andere merkantile Büros wandte ich mich, empfahl mich zu gröbsten wie zu den besseren Arbeiten, je nachdem bald meine Muskeln, bald meine Intelligenz hervorhebend. Dann tat ich etwas, was ich bisher aus Sparsamkeit hinausgeschoben hatte; ich gab in der »Daily Mail« ein Inserat auf: »Intelligent German looks for a situation as clerk or correspondent, adress ...« usw.

Und in den nächsten Tagen offerierte ich mich schriftlich und persönlich bei den Kleinkaufleuten als Verkäufer und bei den Zeitungen als Reporter. Alles ohne den geringsten Erfolg. Jeden Abend kehrte ich enttäuschter und zermürbter in die Pension zurück.

Ich schrieb an Miß Hines nach Wakefield einen kitschigen und verlogenen Brief. Ob sie eine Rettung für mich wüßte, sonst müßte ich mich erschießen. Ich ließ nichts unversucht. Der Kantor der deutschen Kirche, dem ich meine Lage vertraute, nachdem ich zuvor dem Gottesdienst beigewohnt hatte, wies mich an verschiedene Adressen, aber überall wurde ich freundlich vertröstet oder liebenswürdig weiterempfohlen. Es blieb immer das gleiche: ermüdende Wege, verlorene Zeit. In der Berlitz-School, wo ich mich um eine Stellung als deutscher Lehrer bewarb, riet man mir, im nächsten Monat nochmals vorzusprechen, weil dann ein zweiter deutscher Lehrer eingestellt würde.

Ich ging zum deutschen Konsul, jenem Konsul, der mir vor Jahren das Porto und das Briefpapier berechnet hatte. Er beteuerte, wie gern er seine Landsleute unterstützen möchte. Aber die Konjuktur wäre gegenwärtig unter dem Hund. Viele Schiffe lägen auf. – –

Ich lebte nurmehr von Käse und Brot. Einem einzigen Luxus vermochte ich nicht zu entsagen: Ich rauchte die besten englischen und ägyptischen Zigaretten bis zuletzt, bis ich außer der Wochenmiete für mein Zimmer kein Geld mehr besaß. Da traf es sich, daß ich mir zufällig zwei Penny verdiente, indem ich einem Manne einen Korb Salzgurken heimtrug. Auf dem Rückwege hielt ich vor einem Torweg, wo ärmliches Volk, Frauen, Männer und auch Kinder die neuesten Zeitungen gegen Bezahlung in Empfang nahmen.

Mit dem Augenmerk der Arbeitslosen überflog und erfaßte ich die Angelegenheit, mischte mich unter die kümmerlich eifernden Leute und erstand für zwei Penny sechs Exemplare der »Daily Mail«. Wie ich's an anderen täglich beobachtet hatte, so stürmte nun auch ich durch die Straßen und schrie laut aus: »Daily Mail half penny!« Ja, ich ahmte sogar den Jargon der Huller Zeitungsjungen nach: »Dehlimehl hepenny!« Weil ich dadurch komisch wirkte und mich, erfreut über meinen neuen Beruf, sehr dreist benahm, ward ich meine Ware im Umsehen los, raste zurück, kaufte nun für drei Penny neun Zeitungen und brachte diese ebenso schnell an den Mann, daß ich nochmals neue beschaffen konnte und am Abend einen netten Gewinst errechnete. Ich schlief zum erstenmal im Hause Scott zufrieden ein.

Aber meine Einnahmen wuchsen in der Folgezeit nicht progressiv, wie ich das kalkuliert hatte. Und ich gab das neue Metier und gab meine Pläne, meinen Stolz und Hull und mich selber auf.

Weder auf das Inserat noch auf den Brief an Miß Hines war eine Antwort eingetroffen. Ich zahlte die Wochenmiete, da sie fällig war, und schickte mich beklommenen Herzens an, meinem Zimmernachbarn, dem deutschen Pastor, einen Besuch abzustatten, um ihm mein Herz auszuschütten und ihn zu bitten, mir zu einer freien Überfahrt nach Antwerpen zu verhelfen.

Leider habe ich den Namen des Pastors vergessen. Er sprach ruhig, sachlich, ehrlich und aus gutem Herzen. Er wäre überlaufen von deutschen Stellungs- und Obdachlosen. Er sei nicht in der Lage, so vielen Menschen ausreichend zu helfen. Aber der Pastor schenkte mir aus eigener Tasche vier Schillinge und gab mir einen verschlossenen Brief an den Kapitän eines nach Antwerpen bestimmten Dampfers mit. Daraufhin gewährte man mir bereitwilligst freie Überfahrt.

Ich nahm mir vor, dem Pastor die vier Schillinge mit einem Zeichen meiner dankbaren Hochachtung, sobald ich irgend vermöchte, zurückzusenden. Das habe ich dann nie getan.

In Antwerpen erging es mir noch schlechter als in Hull. Zwar ließ man mich in einfachen Kneipen Mandoline spielen. Aber die Zuhörer verlachten und verspotteten mich, und nur selten warf mir jemand eine Münze zu.

Wieder lief ich von früh bis spät nach Arbeit, lief mir die Sohlen und die Seele wund. Ich wohnte in einem winzigen Dachstübchen. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben rann das Regenwasser in mein Bett. Das Bett war eine Kiste mit einem Strohsack und einer Wolldecke.

Schließlich war ich durch Entbehrungen, Enttäuschungen und Anstrengungen so zermartert, daß ich nicht mehr die Kraft aufbrachte, das Bett zu verlassen und mich nurmehr von Marmelade ernährte. Tagelang. Wie in Grimsby auf dem Fischdampfer »Columbia«, nur daß ich damals aus Übersättigung nichts anderes anrührte und diesmal nichts anderes hatte.

Und ich sann bitter und ungerecht über mein Schicksal nach und war darauf gefaßt, dort wie ein verstoßener Hund zu verrecken. Weder meine Eltern noch meine Freunde konnten ahnen, wo und in welcher Verfassung ich war. Aber wen hätte meine Lage 'bekümmert, fragte ich mich und dachte an Martin Fischer und dachte an alle schlechten Menschen und an jedes Mißgeschick, das mir widerfahren war, und dann – allmählich in Schlaf und Träume verfallend – an Besseres und Gutes, an edle Menschen, an den Schweizer Drasdo in Basel, an die Lady auf den Zementsäcken in Hull, – an – –

Nach einem langen Ausruhen erhob ich mich endlich mit Energie, wusch mich von oben bis unten, zertrümmerte, um meine Kraft zur Kühnheit anzufachen, mit einem Fußtritt die linke Bretterseite meiner Bettkiste und begab mich zu einem kleinen Barbier, den ich fragte, ob er mir für die letzten mir verbliebenen Geldmünzen Haar und Bart oder beides schneiden wollte. Er ging auf alles ein mit einem scheinheiligen Eifer und horchte mich dabei neugierig aus. Oh, er wüßte jemand, der mir beistehen würde, und er wollte mich zu dessen Haus führen, ohne Entgelt, und er wünschte mir alles Beste.

Tatsächlich begleitete er mich vor das Haus des deutschen Pastors in Antwerpen.

Auch dessen Namen weiß ich nicht mehr. Ich kam übrigens zu unrechter Stunde. Der Herr war nicht zu sprechen, war erst mittags und dann erst abends und dann erst morgen zu sprechen.

Ich trug meine Geschichte offen vor und fragte, ob er mir zu einer bescheidenen Anstellung verhelfen könnte oder sonst zu einem Schiff, das mich gegen Arbeitsleistung nach Deutschland mitnähme.

Auch dieser Pastor war ein stiller Mann. Er nickte nur während meines Vortrages, schrieb dann einen Brief, den er verschloß und adressierte. Ich sollte diesen Brief unverzüglich persönlich abgeben und auf Antwort warten.

Ich sprudelte Dankesworte heraus und eilte davon und übergab dem Adressaten erwartungsvoll das Schreiben. Der las es und ließ mich unverzüglich – ins Gefängnis werfen.

In ein richtiges Gefängnis, in eine Einzelzelle mit wenig Licht, das durch ein unerreichbar hoch angebrachtes, vergittertes Fenster einfiel. Eine Pritsche und ein Wasserkrug standen dort. Meine Mandoline, mein Köfferchen und alles, was ich in den Taschen trug, ja sogar Hosenträger und Kragenknöpfe hatte man mir vorher, während ich unter Beaufsichtigung in ein Bad steigen mußte, stillschweigend weggenommen.

Das war alles so plötzlich und schnell über mich hereingebrochen, daß ich erst zur Besinnung kam, als die Zellentür ins Schloß fiel.

Offenbar war ich das Opfer einer Verwechslung. Ich pochte, schlug, trat gegen die Tür. Da nahten Schritte. Eine schmale Klappe in der Tür ward aufgetan, und das rohe Gesicht eines Wärters grinste mich an. Er brummte ein paar flämische Flüche, und ich stammelte ungelenk französische Worte. Ich verfügte an sich nur über geringe Kenntnisse der französischen Sprache, nun aber war ich vor Aufregung völlig verwirrt. Der Wächter schlug wütend die Klappe zu. Seine Schritte verhalten. Ich bebte vor Zorn.

Aber der Irrtum mußte sich aufklären. Ich hatte ja Papiere bei mir, darunter meinen Militärpaß mit der Bestätigung, daß ich einjährig-freiwillig gedient hatte. Und ich hatte ein reines Gewissen. Und ich konnte mir auch sofort telegraphisch Geld verschaffen. Von den Eltern oder von Bekannten.

Mit welchem Recht war ich verhaftet worden? Das konnte nur auf einem Mißverständnis beruhen. Es war doch nicht auszudenken, daß der deutsche Seelsorger, um mich loszuwerden, mich so schändlich und hinterlistig verraten hatte.

Mittags wurde ein Napf Suppe durch die Klappe geschoben. Ich rief: »Pardon, monsieur, je – –.« Die Klappe schlug zu. Der Wärter schritt lachend weiter.

Abends ward ein Brot durch die Klappe geschoben. Ich beschwor den Wärter mit flehenden Worten und Gesten. Ihn rührte das nicht.

Nachts tobte ich wohl eine Stunde lang in höchster Wut gegen die Tür, bis ein Nachtwächter an dem Klapploch erschien. Ich verlangte »Monsieur le directeur« zu sprechen. Der Wärter äffte meine Worte höhnisch nach und schlug die Klappe zu.

Es vergingen Minuten, Stunden, die Nacht und ein Tag. Es vergingen noch Tage, qualvolle Tage. Ich war vergessen, betrogen, begraben. Was sollte ich beginnen, um nur einmal angehört zu werden. Den Wärter ermorden, mir selbst die Pulsader durchbeißen oder Nahrung verweigern, Hungers sterben? Ich raste. Ich weinte. Ich betete. Ich aß von dem Brot, trank aus dem Krug, schlief auf der Pritsche. – Ich ward stiller. Ich fügte mich.

Eines Morgens endlich ward nicht die Klappe, sondern die ganze Tür geöffnet. Es war ein unbeschreiblich spannender Moment. Nun hatte man den Irrtum erkannt, wollte mich herausholen und würde sich entschuldigen.

Aber das traf nicht zu. Alle Gefangenen wurden eine Stunde ins Freie gelassen.

Der runde Garten war wie eine Torte in schmale spitze Dreiecke eingeteilt. Für jeden Gefangenen gab es solch ein umgittertes Dreieck. Darin durften wir nun eine Stunde lang in der Sonne auf und ab gehen. Dann trieb man uns in die Zellen zurück.

Und wieder einmal öffnete sich meine Tür, und man führte mich durch lange Korridore zum Arzt. Der sollte meinen Fingerabdruck nehmen. Es war ein älterer Herr von vertrauenerweckendem Äußeren, auch sprach er deutsch, war sogar möglicherweise ein Deutscher.

Während ich seine Anweisungen befolgte und meine Daumen in Ruß drückte, bat ich ihn in dringendsten Worten um Beistand.

Ich sprach in den Wind. Der Arzt mochte mich für geistesgestört oder für einen Betrüger halten. Er war es wahrscheinlich in seiner Praxis gewohnt, daß Gefangene ihn derart beschwatzten. Schweigend vollzog er seine Aufgabe. Dann schloß man mich wieder ein.

Ich meinte, ich müßte in Wahnsinn enden. Nahe daran muß ich wohl gewesen sein.

Ich weiß die Reihenfolge und die Einzelheiten der nächsten Ereignisse nicht mehr. Ich ward mit anderen Gefangenen abtransportiert. Es gab eine Fahrt im offenen Wagen zwischen brutalen Schutzleuten, die ihre Befehle mit Püffen und Fußtritten begleiteten. Es gab ein Übernachten in einem stinkigen Raume, wo man die Gefangenen einzeln wie Vögel in Gitterkäfige sperrte, und dann eine lange, entsetzliche Eisenbahnfahrt.

Meine Leidensgenossen waren sehr unterschiedliche Leute, zerlumpte Gestalten, Handwerksburschen und verkommene, gehetzte, gesuchte, verzweifelte arme Teufel, rohe, verbitterte, witzige Kerle, auch stumm verschlossene, undefinierbare Menschen und daneben solche, die kein Hehl daraus machten, daß sie etwas auf dem Kerbholz hatten. Wir wurden nach Deutschland abgeschoben, sollten der deutschen Behörde übergeben werden. Einige von uns erlebten das nicht zum ersten Male. Sie klärten uns auf.

In Brüssel legte man uns Handschellen an. So wurden wir von Polizisten an Ketten über die Bahnsteige durch die neugierig gaffende Menschenmenge gezogen und abermals in einen Zug verladen.

Das wurde eine grausige, nicht endenwollende Fahrt. Wir saßen, jeder gesondert, in schwer verschlossenen, fensterlosen Zellen auf Klosettsitzen und konnten uns wegen der dicken Wände und bei dem lauten Geratter der Wagen nicht besser untereinander verständigen, als daß wir stundenlang solidarisch mit taktmäßigen Fußtritten gegen die Türen donnerten. Ungeduld, Hitze und Durst folterten uns in unerträglicher Weise.

Mir ward ein Wunder zuteil. Indem ich, um die Zeit, die schreckliche Zeit zu vertreiben, meinen Anzug untersuchte, stieß ich im Rockfutter auf den Rest einer englischen Zigarette. Und nicht nur dies, sondern ich fand sogar ein Stückchen Zündholz mit Kuppe, englisches Zündholz, das sich überall anstreichen ließ. Himmlische Fügung! Ein langentbehrter Genuß winkte mir.

Aber ich geduldete mich, bis meine Aufregung sich legte, bis mein Atem ruhiger ward. Dann entzündete ich das Schwefelholz vorsichtig an der Schuhsohle. Es blitzte auf, es glimmte, es brannte. Ich hielt es schräg, bis die Flamme sich vergrößerte. Dann näherte ich es bedächtig der Zigarette und sog einen köstlichen Zug Tabakrauch tief in die Lunge ein, ganz langsam. Allzu langsam, denn als ich einen zweiten Zug tun wollte, war das Feuer der Zigarette erloschen.

Nach einer Ewigkeit hielt der Zug. Wir wurden ausgeladen. Man händigte uns unsere Habseligkeiten aus, mir das Köfferchen und die Mandoline im Wachstuchfutteral und Hosenträger und Kragenknöpfe. Dann gruppierte man uns zwei und zwei zu einem Zug, und so marschierten wir, links und rechts von vielen Bewaffneten bewacht, der nahen deutschen Grenze bei Herbesthal zu.

Dort, schon von weitem sichtbar, erwartete uns ein einziger deutscher Wachtmeister. Dem brachten wir, als wäre es vorher verabredet und eingeübt, ein donnerndes Hurra aus.

Die Belgier übergaben ihm unsere Personalien und die Überweisungsakten und zogen sich dann unter unseren Verwünschungen und unserem Hohngelächter zurück. Wir mußten dem deutschen Polizisten zur Wachstube folgen.

Jetzt kam für einige von uns der schlimmste, für andere ein kritischer und für mich der goldene Augenblick.

Als mich der verhörende Polizeioffizier erstaunt befragte, wie es möglich wäre, daß ein Mann von meiner Vorbildung in solch eine Situation geriete, war ich wohl einen Moment beschämt. Aber der Wunsch, erlöst zu sein, war brennender, und so beschränkte ich mich auf eine knappe Erklärung, betonte nur wiederholt, daß ich mir sofort von meinen Eltern Geld beschaffen würde.

»Gut, Sie können gehen.« – Ach, wie das klang!

Ich depeschierte an meine Frankfurter Wirtin um Geld. Und dann saß ich gewaschen und im Gehrock im Hotel und dinierte und trank Champagner, bis das Frankfurter Geld eintraf. Es war das zu spät, um noch am selben Abend weiter nach München zu fahren. So übernachtete ich in dem Hotel, ging aber nicht zu Bett, sondern ließ mir eine zweite Flasche aufs Zimmer bringen.

Und saß dort sentimental, betrunken von Freiheit und Champagner.

Und unternahm in Gedanken noch einmal die Reise von Frankfurt nach Hull. Ich bereute sie nicht. Ich meinte, ich hätte auch unterwegs, auch in der schlimmsten Zeit sie nie bereut.

Die schlimmste Zeit war die in den belgischen Gefängnissen gewesen. Aber das alles war vorbei, und ich hatte Erfahrungen gesammelt und Neues gelernt. Und diese Reise hatte mich einmal aus dem bösen Alltag des gleichbleibenden, geborgenen Sattwerdens herausgerissen. Und mir war doch auch vieles Erhebende und Herrliche zugestoßen. Das Freiheitsgefühl als fahrender Musikant. Die Nachtfahrt mit Miß Hines. Am schönsten war gewesen – das Erlebnis mit dem geschminkten, nach Himbeeren duftenden Mädchen vom Wilberforcedenkmal. – Nein, noch schöner – das allerschönste war – das andere Abenteuer – das eigentlich nie gewesen war, das versäumt und verträumt war. Das erträumt und versäumt bleiben sollte. – »Ten o'clock Wilberforce-Monument.«

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