Читать книгу Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz - Страница 27
Stellungslos
ОглавлениеDas war eine kurze, doch für meine Ungeduld noch zu lange Überfahrt bis Hamburg. Ich brannte darauf, Deutschland und meine Freunde wiederzusehen.
Aber die Freuden dieses Zurückseins genoß ich nur kurz. Denn es galt nun, ein neues Schiff zu suchen. Das war, wie ich hörte und bald erfuhr, sehr schwer. Mein Vater hatte sich an seine Freunde Schrenk und Detlev von Liliencron gewandt. Einer dieser Herren empfahl mich in Hamburg bei dem Reeder De Freitas. Der versprach mir freundlich, sich nach einer Stellung – einer »Chance« sagten wir – für mich umzusehen. Ich möchte mich nur ein wenig gedulden. Mit dieser Aussicht kneipte ich nachts mit meinen Freunden. Aber das Geld, das mir Vater gesandt hatte, ging schnell dahin, und das Sichgeduldenmüssen dauerte weiter. Ich suchte zwar selber eifrig nach Chance, stand jeden Morgen früh auf. Ging nach dem Seemannsamt und nach den Heuerbüros der Schiffahrtslinien. Doch da war keine Vakanz, und wenn eine war, so warteten schon hundert früher Vorgemerkte. In der Angelegenheit De Freitas wurde ich bald hierhin, bald dorthin bestellt, mußte weite Wege laufen und stundenlang in Büros warten. Endlich bot mir der Reeder eine Stellung auf der »Thekla« an. Leider nahm ich das nicht an, weil Thekla ein Dampfer war. Ich brauchte für meine Karriere, das heißt für das künftige Steuermannsexamen bescheinigte Fahrzeit auf Segelschiffen. So dankte ich De Freitas und ging nun selber mit doppeltem Eifer auf die Suche. In aller Frühe stellte ich mich am Seemannsamt an. Ich ging auch persönlich auf die neu eingelaufenen Segelschiffe. Die lagen verstreut in den sich weit ausdehnenden Hafenanlagen. Das kostete mich stundenlange Fahrten und Wanderungen. Und ich holte mir doch immer nur abschlägigen Bescheid.
Um Geld zu sparen, wohnte ich anfangs für 40 Pfennig pro Tag in der Herberge zur Heimat. Es ging dort recht unordentlich zu, so daß ich meine Briefe lieber postlagernd bestellte. Der Beamte auf dem Postamt kannte mich bald. »Es ist kein Geld da«, sagte er ironisch. Andermal lächelnd: »Sind Sie schon wieder da! Fahren Sie nicht bald einmal nach China?«
Dann zog ich wieder zu Hermann Krahl. Seine Frau war eine Schwägerin von Kerner, der mich seinerzeit ausgerüstet hatte und mir nun hoch und teuer schwur, ein erstklassiges Schiff für mich zu verschaffen. Bei Krahl logierten wieder neu ausgerüstete Jungen, aber auch schon befahrene Jünglinge. Alle warteten auf Stellung und gingen wie ich jeden Tag auf die Suche. Denn Kerner ließ uns völlig im Stich. Als der Oktober so verging, entschloß ich mich, auch Stellung auf Dampfern anzunehmen und, wenn es sein müßte, auch als Heizer, Trimmer oder Steward. Tag für Tag lief ich nach den Heuerbüros der Hapag und anderer großer Schiffahrtslinien. Ich wartete unter einem Gedränge von Arbeitslosen zu einer bestimmten Stunde vor dem englischen Seemannsamt auf der Straße. Wenn der Manager dann rief: »I want a sailor!« dann stürzte ich mit vielen anderen vor. Aber selbst wenn ich als erster oder dritter die Tür erreichte, wurde ich abgewiesen, weil man Engländer bevorzugte und weil ich zu jung wäre.
»Leider noch immer keine Chance«, mußte ich immer wieder nach Hause berichten. Kein Wunder, daß Vater mißtrauisch wurde. Er fürchtete, daß ich in ein liederliches Leben geriete. Es waren aber wirklich schlechte Zeiten für Seefahrer und besonders für so junge wie ich. Ich suchte von früh bis abends. Ich versprach den Heuerbasen eine halbe Monatsgage, wenn sie mir irgendwelchen Schiffsposten verschafften. Sogar vor dem allgemeinen Arbeitsamt stellte ich mich an, um als Nietenwärmer oder Hafenarbeiter anzukommen. Dabei lebte ich ganz einfach, trug keinen Kragen, sondern nur einen blauweiß gestreiften Jumper zu einer alten Hose und eine Schirmmütze. Allerdings zechte ich nachts mit meinen Leidensgefährten von Krahl. Wir verkehrten in einer kleinen Bierkneipe am Kraienkamp gegenüber der Michaeliskirche. Die Witwe Seidler führte dieses Kellerlokal. Sie hatte zwei erwachsene Töchter, Alwine und Meta, und ein kleines Töchterchen Ella. In Meta verliebte ich mich mehr und mehr. Es ergaben sich Romane und dramatische Szenen. Unter uns Krahlsbrüdern war ein Zwerg, ein ehemaliger Jockey, namens Seppl. Den ohrfeigte ich, weil er Meta eine Hure nannte. Ich hatte aber in derselben Zeit mit Seppls Frau ein heimliches Techtelmechtel. Meta wurde von vielen von uns verehrt. Zu der Rechtschaffenheit, die allen Seidlers eigen war, hatte sie eine besonders sichere, aber scharmante Schroffheit. Auch war sie die Intelligenteste in der Familie. Mein Hauptrivale war der Böhme Irak, ein hübscher und schmissiger Kerl. Mit ihm hatte ich erbitterte Schlägereien um Meta.
Der Sachse Rienchen. Er saß über einen Brief gebeugt, und ich merkte ihm an, daß er Kummer hatte.
»Rienchen, was fehlt dir?«
»Nichts.« Er wehrte ab, wischte sich verstohlen die Augen.
»Sag' mir's doch. Hast du schlechte Nachricht?«
Er seufzte. »Laß mich! – Ihr werdet mich bald los sein.«
»Rienchen, was ist geschehen?«
»Geschehen?« er lachte bitter und zerknitterte den Brief. »Mutter tot, Schwester tot. – Was kümmert's euch.«
Ich tröstete ihn leise. Bald erfuhr ich, daß kein wahres Wort an seiner Erzählung war, daß er vielmehr öfters solche Komödien spielte, um bei uns Rührung zu erwecken. Wir gewöhnten ihm das rasch ab, indem wir ihm Messer, Revolver und Stricke hinlegten und ihm zuredeten, doch endlich seinem geplagten Leben ein Ende zu machen.
Meine besten Kameraden waren Handloß, Schumacher und ein Schlesier, dessen Vater Dienstmann in Görlitz war. Schumacher war der einzige von uns, der so reichlich Geld von Hause erhielt, daß er gelegentlich ein Faß Bier auflegen konnte. Das taten sonst anstandshalber aber meist nur auf Pump diejenigen, die Chance fanden. Jedesmal ein seltenes, aber dann eben für alle erfreuliches Ereignis. Für gewöhnlich machten wir nur bescheidene Zechen.
Die gutmütigen Seidlers, die an unseren Schicksalen von ganzem Herzen teilnahmen, borgten und schenkten so viel, daß sie darüber nie auf einen grünen Zweig kamen. Abgesehen von unserem Stammtisch verkehrten dort nur noch Bürstenbinder und ein paar Hafenarbeiter. Ab und zu kam eine viel Geld verstreuende Bordellwirtin aus der Nachbarschaft.
Diesen an sich ganz begreiflichen Wirtshausverkehr mit meinen Kameraden und die damit verbundenen Ausgaben verschwieg ich törichterweise meinen Eltern. Ja, ich schrieb ihnen sogar immer wieder, sie möchten nun kein Geld mehr senden, ich käme mit dem zuletzt Gesandten noch lange aus. Dann aber erhielten sie plötzlich Rechnungen von Krahl und Kerner und fragten erstaunt an, ob das seine Richtigkeit hätte. Kurz, ich berichtete nicht aufrichtig. Und so glaubten meine Eltern wohl auch nicht recht daran, daß ich mir tagsüber soviel Mühe gab, um endlich unabhängig von ihnen zu sein.
Ich hatte De Freitas wieder aufgesucht. Ein etwas peinlicher Gang, den ich dann vielmals wiederholen mußte. Weil der Herr mich für andermal bestellte, andermal aber verreist, ein drittes Mal in einer Sitzung und beim viertenmal nicht anwesend war. Schließlich versprach er oder versprachen andere Leute, an die ich weiterempfohlen wurde, mich auf der »Potosi« unterzubringen, dem größten Segelschiff der Welt. Ich möchte mich nur noch ein wenig gedulden. Warum? Das schilderten sie mir einleuchtend, und ich hinterließ meine Adresse.
Da war also ein Lichtblick. Trotzdem lief ich weiter meine gewohnten Bettelwege zu Heuerbasen und Heuerbüros und auf eingelaufene Schiffe. Auch an Bord der »Lutetia«, die noch im Hafen lag, fragte ich an, ob man mich nach England zurücknehmen wollte. Die Arbeitsverhältnisse für Seeleute sollten ja überall günstiger sein als in Deutschland. Aber »Lutetia« wies mich ab. Vielleicht war man auf der Herfahrt mit meinen Leistungen nicht zufrieden gewesen. Dann machte ich die Adresse einer entfremdeten Verwandten von Mutter ausfindig, nur weil ich dachte, daß sie Beziehungen zu Seefahrtskreisen hätte. Ergab auch nichts als Zeitverlust. In der Potosi-Angelegenheit rührte sich nichts. Sonst überall Lichtblicke, Vertröstungen, Hinhaltungen. Nichts Positives. Es lag nun so, daß ich mich mehr vor meinem Vater schämte, als daß dieser mir Vorwürfe machte. Ich wurde ganz deprimiert. Als auch der November ergebnislos verstrichen war, hielt ich's nicht mehr länger aus.
Ich verdingte mich in einer Schlangenbude auf dem Hamburger Dom (Jahrmarkt). Eine Riesenschlange wurde dort vorgeführt. Fünf Männer in Matrosenanzügen trugen sie auf den Schultern. Der kleinste davon und der einzige, wirkliche Seemann war ich. Ich trug das Schwanzende. Herr Malferteiner, der Budenbesitzer, im dunkeln Anzug und mit Lackschuhen, erklärte mit durchdringender Stimme: »Die Rriesenschlange! – Bo – a – – constrrictorr! – Ihre Heimat ist Südamerika. Der Biß derselben ist nicht gefährlich, da dieselbe nicht giftig ist. Menschen und Tieren wird sie gefährlich durch ihre gräßliche Gewalt und durch die Kraft ihrer Muskeln. Denn sie ringt in der Freiheit mit dem Löwen und dem Tiger und besitzt auch die Kraft, dem größten und stärksten Büffelochsen mit ihren Muskeln alle Knochen zu zerbrechen, sobald sie ihn umschlungen hat.« (Pause zum Staunen.) »Gefüttert wird sie alle drei bis vier Wochen mit lebenden Schweinen, auch Schaflämmern oder Ziegenlämmern.« (Pause. Dann mit gehobener Stimme.) »Tausend Mark bietet die Direktion jedem Besucher Prämie, der beweisen könnte oder würde, wo er schon jemals in Europa ein zweites Exemplar dieser Riesenschlange gesehen hätte.« (Es brauchte nur jemand den Deckel der großen, grünen Kiste in unserer Bude aufzuheben. Da hätte er ein gleichgroßes zweites Exemplar dieser Boa entdeckt, das dort zur Reserve aufbewahrt wurde.) »Herrschaften, welche zu spät kamen und nicht alles gesehen haben, können ruhig noch bleiben bis zur nächsten Vorstellung. Vorsichtig! Schnell!«
Die letzten Worte richtete er, wie erschrocken, an uns Matrosen. Wir mußten nun hin und her schwankend so tun, als würde die schwere Schlange wild. In Wirklichkeit war sie leicht und ganz apathisch, beinahe leblos. Unter lauten Kommandos, wie »Alle Mann« – »Deckel auf« wurde sie nun in einen zweiten Kasten zwischen Decken gelegt. Die Vorstellung war zu Ende. Magnus, der älteste von uns Angestellten, beantwortete übertrieben oder unwahr die Fragen der sich langsam entfernenden Zuschauer.
»Wie lang ist sie?«
»Vierundzwanzig Fuß!«
»Wieviel wiegt sie?«
»295 Pfund.«
»Wie alt ist sie?«
»Über tausend Jahre.«
»Kann sie stehen?«
Magnus lief manchmal plötzlich davon. Es wurden die dümmsten Fragen gestellt. Es fielen auch immer wieder dieselben Witze und Bemerkungen. »Ein netter Aal!« Auch immer wieder dieselben Antrage: Ich sollte doch einmal den Salamander in den Schwanz zwicken oder dem Pelikan eine Feder ausrupfen. Der hatte ja fast keine mehr.
Zum Schluß der allerletzten Vorstellung abends pflegte Herr Malferteiner noch dem Publikum für den freundlichen und zahlreichen Besuch der Ausstellung zu danken. Auch wenn er gelegentlich nur zu einem Zuschauer oder zu zwei Zuschauern sprach. Er dankte dann »im Namen der Direktion«. Hinterher gab's für uns noch mühevolle Arbeit bis weit über Mitternacht.
Einmal erlebte ich, daß die eine Riesenschlange gefuttert wurde. Sie verschlang hintereinander ganz langsam fünf lebende, aber sich fügende Opfer. Drei Hühner, ein Kaninchen und ein ganz junges Ferkel. Nur das Ferkel gab Tone von sich, quiekte jämmerlich. Damit sollte die Schlange für die nächsten vier Wochen gespeist sein. Aber am nächsten Tage erkrankte sie und gab die fünf Tiere tot und schleimbedeckt wieder von sich.
Die Riesenschlange war der Clou und der Schluß der Vorstellung, die etwa fünfundzwanzig Minuten dauerte. Vorher führten Alex und Bruno eine Felsenschlange, eine Rieseneidechse, eine Abgottschlange und einen mit Sägespänen panierten Riesensalamander vor. Ich stand derweilen neben dem Kasten der Python tigris und dem dürren Pelikan Peter, der nie überfüttert wurde, damit er recht gierig nach den ihm zugeworfenen Schellfischbrocken schnappte. Dabei fiel er zwar meistens um, so alt und gebrechlich war er, aber das war der Moment, wo das Publikum in lautes Lachen ausbrach. Vielleicht aus Hunger zwickte er mich oft in die Beine.
In der Mitte des grell beleuchteten Zeltes sah man in einem seichten Bassin ein paar Krokodile.
Wieviel Arbeit war um solch Theater! Ich hatte Dienst von sechs Uhr morgens bis zwei Uhr nachts. Dann erhielt ich fünfzig Pfennige Lohn und schlief mit den anderen männlichen Angestellten in einem Wagen auf Strohsäcken. Meine Wolldecke wies helle Flecke auf, von der Boa constrictor.
Das Aufstehen fiel schwer. Ich mußte in einer fahrbaren Tonne Wasser von weit herholen. Draußen war's eklig kalt. Ich mußte unter einem rostigen Wasserkessel Feuer anmachen. Um neun Uhr sollte es kochen. Das Wasser im Krokodilbassin wurde damit auf 20 Grad gebracht. Die Überzüge von den Kisten mußten abgeschnallt werden. Wir trieben die Krokodile mit Rohrstockhieben und Fußtritten ins Wasser. Der durch Wärmflaschen geheizte Kasten, worin sämtliche Schlangen übernachteten, wurde geöffnet und die einzelnen Tiere in Sonderbehälter verteilt. Draußen nagelten wir Blechschilder an, die gräßliche Ungeheuer im Kampfe mit wilden Völkerstämmen zeigten oder Inschriften trugen wie »Eintritt heute nur 10 Pfennige«. Und so weiter. Viel Arbeit mit dem üblichen Geschimpfe und mit Schikanen.
Der Chef setzte sich an die Kasse. Der heisere Rekommandeur erschien, kämmte sich die Haare und lockte auftretend die Dombesucher herein: »Das Neueste der Neuzeit, die Riesenschlange!« Dann schlug Herr Malferteiner mit einem Holzklöppel gewaltig an einen Eisenteller, ein letztes Zeichen, daß die Vorstellung nun unwiderruflich begann.
Im allgemeinen freuten wir uns, wenn ein Zuschauer eine Frage an uns richtete. Es war dann möglich, auf eine Zigarre oder auf ein Trinkgeld hinüberzuleiten oder einen derben Witz öffentlich anzubringen. Kleine, nette Scherze begaben sich. Manchmal war das Leben dort behaglich. Ich kam während und nach der Arbeit mit den Angestellten der anderen Schaubuden und Lustbarkeiten zusammen. Leute vom Dampfkarussell, vom Hippodrom und vom »Theater der Aufsehen Erregenden«. Mit Tilde von der Schießbude erneuerte ich eine ältere Bekanntschaft. Peter, der Pelikan, war mein treuer Freund.
Malferteiner wohnte mit Frau und Kindern in einem zweiten Wagen. Sein Dienstmädchen Mathilde brachte uns zu den Mahlzeiten die derbe Kost. Tagsüber befanden wir uns in einem Strudel von Musik aus vielen Drehorgeln. Nachts kamen die Domartisten in einer kleinen Kneipe zusammen, wo es recht heiter und bunt herging. Dort tranken wir Pfefferminzschnaps, rauchten Pfeife und klönten.
Wenn ich bei dieser Lebensweise auch leider nicht dazu kam, mich nebenher nach einem Schiff umzusehen, so tröstete es mich doch, daß ich wenigstens nicht mehr meinem Vater zur Last fiel.
Aber nicht lange blieb ich in der Bude. Herr Kerner benachrichtigte mich, daß er ein Schiff für mich hätte. Ich möchte gleich mit Sack und Pack zu ihm kommen.
»Hurra! Habe Chance!« depeschierte ich glücklich an meinen Vater. Und dann kündigte ich Malferteiner und zog mit meinem Gepäck davon.
Doch die Schiffsnachricht war nur eine Erfindung von Kerner. Er hatte erfahren, daß ich in einer Schlangenbude arbeitete und meinte, das wurde meinen Vater sehr peinlich berühren. Deshalb hatte er mich mit falschem Alarm dort weggelockt. Enttäuscht und zornig war ich. Nun mußte ich wieder ein Dementi nach Köln senden, wo Papa derzeit seine alljährlich größte Einnahme dadurch verdiente, daß er eine Tapetenfabrik als Farbenkenner beriet Zu Malferteiner mochte ich nicht mehr zurück, weil ich bei meinem Abschied ziemlich hochnäsig aufgetreten war. So zog ich nun zu dem Heuerbas Persson und begab mich wieder auf die Stellungssuche, nahm auch die alten Beziehungen zu De Freitas und anderen wichtigen Herren auf. Zufällig lief die »Potosi« gerade an diesem Tage ein. Ich ging sofort an Bord der stolzen Fünfmastbark. Aber es ergab sich hier nichts und anderwärts nichts. Vater sandte mir Geld, schrieb aber ziemlich betrübt, daß ihm das auf die Dauer sehr schwer fallen wurde. Er hatte für meine Geschwister viel Ausgaben. Wolfgang studierte in Freiberg i.S. Bergfach, war Korpsstudent und mit einer Stadtratstochter verlobt. Meine Schwester war Schauspielerin geworden und erlebte an einer Provinzbuhne hübsche, künstlerische Erfolge, aber auch die üblichen Enttäuschungen.
Persson wurde mir zu teuer. Ich zog wieder zu Krahl, wo ich meine Miete schuldig bleiben konnte, wenn ich für Frau Krahl gelegentlich Messer putzte oder Holz hackte. Es herrschte dort noch dasselbe wüste Schiffsjungenleben wie bisher. Man schlug und beschimpfte sich. Ein Rachsüchtiger warf sogar eine Gewehrpatrone in den Ofen. Bei der Explosion ging dieser und ging eine halbe Wand in Trümmer. Man suchte nach neuen Quellen zu Anborgereien und versetzte Kleider und Wasche. Abends ersäuften wir die Ängste des Tages in Schnaps und Bier in der Seidlerschen Wirtschaft. Da ging das bißchen Geld von daheim im Nu dahin Ich verheimlichte meine Notlage. Ich belog meine Eltern. Das taten die meisten von uns. Mantel, Schuhe, alles hatte ich versetzt. Sogar meinen Ebenholzstock von Onkel Martin. Meine fadenscheinige Wasche wusch und flickte ich selber Ich fror ohne Mantel, und da meine Schuhe entzwei waren, getraute ich mich nicht mehr in die vornehmen Kontors von Reedern und Kaufherren. Die kleinen Heuerbase hörten mich gar nicht mehr an. Mit Schrecken sah ich meine Logisschulden bei Krahl anwachsen. Deswegen gab ich dieses Boardinghouse auf und ging nur noch morgens hin, um nach Post zu fragen. Nachts trieb ich mich dann mit dem Sohn des schlesischen Dienstmannes herum, der auch so heruntergekommen war. Es gab Tage, da wir nicht mehr als eine Semmel zu zweit zu verzehren hatten. Wir schämten uns, Seidlers Großmut noch länger in Anspruch zu nehmen. Wir nächteten in Hauswinkeln oder auf den Bänken in der Wartehalle auf einem Hafenponton. Stetig in der Furcht, von Polizisten überrascht zu werden. Mit diesem Freund teilte ich das Eßbare eines Weihnachtspaketes, das mein Vater viel zu frühzeitig abgesandt hatte. So war von diesen Fressereien und dem beigelegten Bargeld zu Weihnachten nichts mehr übrig. Ich wanderte am Heiligen Abend hungernd und frierend durch die Straßen der reichen Stadtviertel. Mein Gedenken war bei den Eltern. Ich wußte um jede Stunde, was da zu Hause vorging. Jetzt aßen sie den italienischen Salat, jetzt sang Mutter am Flügel das schöne Lied »Ich will dich nicht vergessen, wenn alles dich vergißt«. Ich wußte auch, daß Vater vor der Bescherung durch die Straßen gewandert war, um arme Kinder zu beschenken. Und während ich durch die erleuchteten Fenster der Hamburger Patrizier Lichterbäume sah und Weihnachtslieder vernahm, hegte ich so etwas wie eine leise Hoffnung, daß man mich beobachten könnte und daß plötzlich jemand aus einem dieser Häuser herauseilen und zu mir sagen würde: »Kommen Sie zu uns herein, junger Mann, und essen Sie sich erst einmal ordentlich satt.«
An die Eltern schrieb ich andern Tags einen völlig verlogenen Brief, worin ich lang und breit schilderte, wie ich mich in der Heiligen Nacht an ihren Gaben delektiert hätte und daß ich ihrer gedenkend mit guten Freunden auf das Wohl unserer Lieben angestoßen hätte.
Es war eine oft beschworene Vereinbarung zwischen dem Dienstmannssohn und mir: Wer zuerst Chance bekäme, würde den zurückbleibenden Freund mit allen Lebensmitteln versehen, die habhaft wären. Der Schlesier fand zuerst Stellung. Auf einem Dampfer, der an dem Pier lag. Wir waren beide gleich glücklich darüber. Es wurde ausgemacht, daß ich den Dienstmannssohn nach seinem ersten Arbeitstag abends an einem bestimmten Poller am Kai erwarten sollte. Er wollte mir dann mindestens reichlich Brot bringen, womöglich aber noch begehrtere Dinge. Ich wartete dann auf ihn viele Stunden. Bis tief in die Nacht. Er kam nicht. Ich sah ihn auch nie wieder.
Als meine Not noch hoher gestiegen war, fand auch ich endlich eine Schiffsstellung.