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12. Kapitel: Hurra, Europa!

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Inhaltsverzeichnis

Am 1. September schlug mich der Steuermann mit einem eisernen Instrument auf den Kopf und trat mich mehrmals in den Leib. Er behauptete, ich hätte, als ich Hartbrot aus dem Zwischendeck holte, den Deckel nicht wieder über das Faß gedeckt. Die Katzen wären hineingeklettert und hätten das Brot verunreinigt. Ich wußte, daß Napoleon das Brot geholt hatte. Im Gefühl meiner Unschuld wehrte ich mich diesmal verzweifelt gegen den Steuermann, während mir vor Wut die Tränen in die Augen stürzten. Außerdem drohte ich, den Steuermann in Liverpool beim deutschen Konsul zu verklagen.

Als der rohe Mensch mich so aufgebracht sah, bereute er wohl sein ungerechtes Vorgehen, denn er sagte nach einiger Zeit zu mir: »Es tut mir leid, du hast das eigentlich so halb unschuldig gekriegt.« Dann, um das Geschehene wieder gutzumachen, nahm er sich Napoleon in ähnlicher Weise vor wie mich.

Schwarze, drohende Wolken stiegen am Horizont auf. Weiße Gischtstreifen hoben sich von der dunklen Wasserfläche ab. In der unheimlich drückenden Schwüle bereiteten wir uns auf einen Orkan vor. Und er kam. So hoch hatte ich die See noch nie gesehen. Wasserberge wechselten mit Wassertälern. Eine einzige Welle verdeckte oft wie ein Riesenwall die Aussicht auf den Horizont.

Von Gehen war nicht die Rede. Wir zogen uns oder krochen vorwärts. Die Masten schwankten so stark hinüber und herüber, daß ihre Rahen auf jeder Seite fast das Wasser berührten. Dabei ergab das Zusammenstoßen hängender oder locker stehender Gegenstände ein monotones Klirren, Klappern, Rasseln und Donnern. Das Schiff ächzte in allen Fugen. Aus dem verschlossenen Schiffsraum erscholl ein dumpfes Gepolter, das von den durcheinanderrollenden Holzklötzen herrührte.

Heute waren alle Gesichter ernst. Keiner scherzte. Jeder verrichtete die ihm übertragene Arbeit mit stillem Eifer. Gegen Abend mochten wir wohl den Kurs geändert haben, denn wir hatten Sturm und See von der Seite, und das Schiff war stark nach Steuerbord geneigt.

Ich hatte nachts Ausguck auf der Back. Unausgesetzt war ich von gewaltigen Wassermassen eingehüllt. Der strudelnde Wasserschwall bedeckte die Back oft in Meterhöhe. Ich mußte mich an der Wasserpumpe festklammern, um nicht fortgespült zu werden. Aber ich war stolz auf meinen Posten und empfand, obgleich ich von Wasser triefte und schrecklich fror, doch eine hohe Befriedigung. Einmal kam der Steuermann nach vom und steckte mir einen Priem in den Mund, der unter den obwaltenden Umständen köstlich mundete.

»Steuermann«, redete ich ihn an und mußte lächeln, weil ich daran dachte, wie ich ihm die Frage schon früher einmal vorgelegt hatte, »Steuermann, ist das ein Sturm?«

»Nein«, entgegnete er diesmal ernst, »das ist ein Orkan.«

Nach und nach nahm die Gewalt des Sturmes ab, und es trat eine Windstärke ein, die der Kapitän mit dem freudigen Ruf »Frische Brise, heia!!« begrüßte. Er hatte sich ausgerechnet, daß wir unter günstigen Umständen nächsten Sonntag in Liverpool eintreffen könnten. Welche Freude!

Er erklärte mir auch mit loyaler Miene, daß er mich vielleicht als Leichtmatrosen behalten würde. Ich dachte nicht daran, das anzunehmen, schwieg aber.

Famoser Wind! Die Segel standen steif.

Also, man wollte mich an Bord behalten. Ich wußte nichts, was mir unsympathischer gewesen wäre. Dagegen war ich sehr gespannt, ob man mir in England meine volle Heuer auszahlen oder, wie angekündigt, ein Strafgeld für meinen Belizer Reißaus abziehen würde. Ich wollte mir doch an Land eine Menge Geschenke für die Angehörigen und für mich eine Ziehharmonika, ein neues Scheidemesser, eine Pfeife, Tabak und hunderterlei anderes kaufen. Außerdem besaß ich weder ein Paar Landstiefel noch eine andere Kopfbedeckung als eine wollene Zipfelmütze mit blauer Troddel.

Wieder nahm der Sturm zu, und der nächste Tag brachte hohe Böen mit sich. Das Vormarssegel war am Saum schon ganz zerfetzt. Es konnte jeden Augenblick zum Teufel gehen. In der Speisekoje, das heißt in der leeren Koje, die zur Aufbewahrung unseres Eßgeschirres und des imaginären Proviants diente, ging es schauderhaft zu. Dort wogten schmutzige Teller und Schüsseln, zwei- und einzinkige Gabeln, ein Salzfaß, eine leere Essigflasche und ein umgefallener Farbtopf in einer Soße von Margarine, Seewasser und weißer Ölfarbe durcheinander.

Die Mahlzeiten nahmen wir nur noch auf dem Fußboden ein, und auch da beeilten wir uns, das Essen so schnell wie möglich hinunterzuwürgen, weil wir bei dem Schaukeln des Schiffes kaum unsere Schüsseln balancieren konnten. Viel Hunger, sehr viel Hunger und wenig Essen, ganz wenig Essen. Kaffee existierte nur noch dunkel in der Erinnerung. Man setzte uns Zichorienwasser vor, das sehr bitter schmeckte. Keinen Zucker mehr, kein Frischbrot, keine Kartoffeln, keinen Speck, keinen Essig. Es war viel zu wenig Proviant an Bord genommen. Der Leichtsinn und der Geiz, die uns so hungern ließen, füllten den Geldsäckel des Kapitäns, und doch hielt dieser es nicht für nötig, uns betreffs der täglich neuen Einschränkungen ein entschuldigendes Wort zu sagen. Wir wußten alle, daß er damit gegen die gesetzlichen Vorschriften der Seemannsordnung verstieß. Schon wurden im Logis Äußerungen der Empörung laut. Auch anderes war unvorschriftsmäßig auf der »Elli«. So besaßen wir weder Korkjacken noch Beile an Bord, und die Rettungsboote waren kielaufwärts auf Deck angebracht, statt umgekehrt. Schwere Arbeit und der daraus resultierende Schlaf, der uns trotz der starken Schiffsbewegung nicht entging, brachten uns immer wieder von revolutionären Gedanken ab.

Da der Sturm tagelang anhielt, ging die See sehr hoch und spielte mit der »Elli« wie mit einer Nußschale.

In meiner Koje zerbrach eine Anzahl sehr schöner Muscheln, die ich in Belize für meinen Bruder erworben.

Am 11. September schossen wir mit 10 Meilen Geschwindigkeit dahin. Als ich den Ausguckposten antrat, mußte ich mich mit einem Tau an den Mast festbinden lassen, um nicht von dem überdampfenden Wasser weggespült zu werden. Zum Unglück hatte ich noch meine Ölhose vergessen, so daß ich im Nu durchnäßt war und sehr fror.

Die steife Brise brachte uns ein gutes Stück vorwärts. Wir schimpften nur darüber, daß der Steuermann nicht die Courage besaß, mehr Segel zu setzen. Doch kam uns in dieser Beziehung der Zufall zu Hilfe. Wir sichteten eine eiserne Bark, die beim Näherkommen die deutsche Flagge hißte. Nachdem wir einige Signale mit dem Schiff gewechselt hatten, entspann sich unverabredet, wie das bei Fahrzeugen mit gleichem Kurs auf hoher See häufig geschieht, ein Wettfahren. Wir beobachteten, daß die Bark Bramsegel setzte. Sofort ließ der Steuermann ebenfalls Bramsegel setzen. Darauf hißte der andere sein Großsegel. Wir taten das gleiche. Da die Eisenbark jedoch größer war und mehr Segel hatte, überholte sie uns und kam gegen Abend außer Sicht.

Ich studierte mitunter in der Bibliothek, die der Koch besaß und die aus einem Taschenatlas und einer deutschen Rechtschreibung bestand; beides für mich recht nützliche Bücher. Auch die Politik kam bei uns zu ihrem Recht. August hielt mitunter lange Vorträge auf diesem Gebiet. »Bismarck«, sagte er, »wollte zwei Parteien, die Reichen und die Armen. Er selbst stand natürlich auf Seiten der Reichen.«

Wir rechneten damit, uns in zwei bis drei Tagen in Liverpool zu amüsieren. Ich hoffte, dort schnell eine Stellung auf einem Fischerboot oder sonstwo zu erlangen.

»Du sagst wohl auch: Gott sei Dank! wenn die Reise fertig ist?« wandte sich der Steuermann an mich.

»Ja«, erwiderte ich offen.

»Willst du nicht nächste Reise wieder mit?«

Aha! dachte ich. Also daher pfeift der Wind.

»Nein, Kapitän will mich gar nicht behalten.«

»O ja, warum nicht?« Steuermann ging. –

Der Sturm nahm noch immer zu. Große Brecher fegten über Deck. Am Sonntag herrschte dicker Nebel, so daß ich mich zum Ausguck mit einem Nebelhorn bewaffnen mußte, ein richtiges Nachtwächterhorn, dessen klägliche Stimme mich in Gedanken auf die Leipziger Messe versetzte. Die ganze Back war unausgesetzt unter Wasser. Wir fuhren bei dem Winde, und das Schiff lag stark über. Ich hatte schauderhafte Zahnschmerzen.

Es war sehr interessant, was ich sah und hörte auf dieser Reise, und ich war voll von neuen Bildern, aber die Bitterkeit, mit der ich meiner drückenden Stellung gedachte, der tiefe Haß, den ich gegen die empfand, die mein Leben dort lenkten, wie sie wollten, verdunkelten alle anderen Gefühle und Gedanken. Ich hätte gern mancherlei, was ich beobachtete, ausführlich niedergeschrieben, aber ich war meistens zu niedergeschlagen und zu ermüdet. Besonders wenn ich auf Wache stand, in den stillen, ungestörten Nachtstunden, verfiel ich in endlose Grübeleien.

»Viele Dampfer, viel Hunger, und der Steuermann schlägt mir eine blaue Nase«, trug ich am Sonntag in mein Tagebuch ein. Wir signalisierten mit einem Dampfer und erkundigten uns, wo wir uns befänden.

Am Montag, dem 16. September um zwölf Uhr, kam Land in Sicht. Am nächsten Abend konnten wir in Liverpool sein. Feuertürme leuchteten in der Nacht. Europa, hurra! Ich verschlang den Streifen Land am Horizont mit glücklichen Blicken.

»Der Bengel ist so neugierig«, sagte August grimmig. Wir trafen nun die zur Landung erforderlichen Vorbereitungen. Anker und Ketten wurden klargemacht, Taue und Lampen bereitgehalten und so weiter.

Steuermann war auf einmal auffallend freundlich. Die Angst vor Rache. Ich war jedoch um so kühler zu ihm. August gab mir stundenlange Ermahnungen, wie ich mich in England verhalten sollte. Besonders warnte er mich vor den Halsabschneidern. Damit bezeichnete er die deutschen Schneider und Schuster, die in Menge die ankommenden Schiffe bestürmen.

Bei guter Brise wahrscheinlich schon heute abend an Land! Hurra! Hurra! Hurra! und nochmals Hurra! Hurra! Hurra!

Wenn's auch viel Arbeit gab, Anker werfen und wieder heben, und wieder werfen und wieder heben, – es winkte ja Land, es winkte nach langer Zeit wieder einmal eine ordentliche Mahlzeit zum Sattessen. Es winkten Briefe von den Angehörigen, und es winkte vielleicht die Heimat selbst. Napoleon schüttelte mir die Hände, und ich griff in überglücklicher Stimmung mit voller Hand in Steuermanns Tabakskasten. Nochmals Hurra!

In der Nacht von Dienstag zu Mittwoch tauchten die ersten Lichter von Liverpool auf. Wieder hatte der Sturm mit plötzlicher Gewalt eingesetzt, und wir mußten alle aufs äußerste aufpassen, um uns zwischen den Bojen, Feuerschiffen und Fahrzeugen aller Art hindurchzusteuern. Es war eine kritische Nacht. Obgleich wir mit größtem Eifer unsere Schuldigkeit taten, klappte doch alles nicht. Wir wurden nach oben geschickt, um die Segel festzumachen, die davonzufliegen drohten. Bei den Marssegeln waren die Zeisinge abgerissen. Wir halfen uns mühsam mit Schümannsgarn, das aber auch nicht gleich zur Stelle war. Ein erregtes Durcheinanderlaufen und Durcheinanderrufen. Einmal rannten wir fast ein Feuerschiff an. Ich hatte gerade den Ausguckposten abgelöst, aber das Feuerschiff noch rechtzeitig gemeldet. Es war also Schuld des Rudermannes, daß wir beinahe kollidierten, aber es war andererseits auch die kaltblütige Geschicklichkeit des Rudermannes, daß wir noch im letzten Moment haarscharf an dem Feuerschiff vorbei kamen.

Kapitän Pommers rauhe Stimme rief: »Klar zum Ankern!«

Der Alte hatte, wie immer in ernsten Momenten, seinen Kalabreser aufgesetzt.

Wir eilten alle unter die Back, wo die Ankerkette in großen Buchten aufgeschossen lag. Segelmacher, Jahn und August bedienten das Spill, irgendein anderer den Stopper. Napoleon, Paul, Hermann und ich standen auf der Kette, um etwaige Verschlingungen derselben beim Auslaufen zu verhindern. Der Raum, in dem wir uns befanden, war düster und so niedrig, daß wir nur gebückt darin hocken konnten.

»Steck' aus!« kommandierte der Kapitän vom Deck her.

Die am Spill ließen den Anker polternd fallen. Die Kette rollte unter unseren Füßen hinweg, und wir mußten scharf aufpassen, um nicht mitgerissen zu werden.

»Stopp!«

Der Anker hielt. Die Kette lag still. Nur zeitweise machte sie ein paar Sprünge.

»Zwölf Faden Wassertiefe!« sang derjenige aus, der auf der Back mit dem Lot hantierte.

»Steck' aus!« – Wieder raste die Kette über die Spillwalze durch die Klüse hinunter.

»Stopp!«

August zog den Bremshebel an, aber das Schiff schoß jetzt in so schneller Fahrt dahin, daß die Kette nicht mehr hielt.

Das war ein aufregender Moment. Wir auf der Kette standen in Gefahr, fortgerissen und durch die enge Klüse gequetscht zu werden. Die Kette, deren Ende nicht, wie das eigentlich sein sollte, befestigt war, mußte in wenigen Sekunden ausgelaufen sein, und abgesehen davon, daß sie ein Vermögen an Wert repräsentierte, wäre das Schiff dann haltlos irgendwo angetrieben.

Der Alte kam aufgeregt unter die Back gestürzt, konnte aber auch nichts machen. Steuermann, der kreideweiß im Gesicht war und den die Verantwortung dafür traf, daß der Kettentamp nicht festgelascht war, schrie wie besessen: »Stopp ab! Stopp ab!«

Aber die Kette rauschte weiter, und schon waren nur noch wenige Buchten übrig. In diesem Moment sprang der alte Segelmacher, der bisher keinen Ton gesagt hatte, der faule, bissige Norweger, plötzlich mit staunenswerter Geschicklichkeit vor, griff blitzschnell die schwere, sausende Kette mit beiden Händen und warf sie kaltblütig zu einer Schlinge über den Spillkopf.

Ein Ruck, und die Kette stoppte. Das Schiff lag still.

Bravo, Segelmacher!

Er grinste aber schon wieder wie gewöhnlich und fletschte grimmig die Zähne.

Als ich an Deck kam, glaubte ich, ein Phantom zu sehen.

Liverpool lag vor uns, ein märchenhaftes Gebirge von vielfarbigen Lichtern. Eine feenhafte Riesenillumination, terrassenförmig aufgebaut. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und es wirkte nach der vorangegangenen Aufregung in der herrlichen Nacht mächtig auf meine Phantasie.

Am andern Morgen kam ein Schlepper mit dem stolzen Namen »Tiger« längsseits, um uns ins Kanadadock zu bringen. Er brachte auch Zollbeamte mit. Unterwegs, während wir den Anker an Deck brachten und den Klüverbaum abnahmen, beobachtete ich das interessante Treiben in dem englischen Hafen, wofür mich der Steuermann verschiedene Male recht unsanft anhauchte. Er bedachte mich auch noch zu guter Letzt mit der unangenehmen Arbeit des Kohlenholens. Seine Schadenfreude prallte jedoch an meinem plötzlich erwachten übermütigen Humor ab. Ich stieg mit fidelstem Gesicht in den Kohlenschacht hinunter. Es war ja das letztemal.

Als wir kaum im Dock festlagen, trafen wirklich Augusts Prophezeiungen ein, das heißt, wir wurden von einer Schar von Schustern, Schneidern und dergleichen belagert, die uns mit »Landsmann« und »Du« begrüßten, uns Geld anboten und sonstwie schön taten.

Der erste, der ihnen ins Netz ging, war August. Er zog mit ihnen Arm in Arm an Land und kam abends stockbetrunken zurück.

Der Pastor der deutschen Seemannsmission besuchte uns. Er verteilte religiöse Schriften und lud zum Besuch des Seemannsheimes ein. Jedoch fand er gar keine Beachtung, bei einigen sogar offenen Hohn.

Am Abend stellte sich ein hagerer junger Landsmann ein, der Koch auf einem großen deutschen Segler war. Das Schiff lag nicht weit von uns. Wie er erzählte, war das Fahrzeug infolge langanhaltender Windstille hundertachtzig Tage von der Westküste Mexikos bis nach Liverpool unterwegs gewesen. Die Nahrungsmittel waren ausgegangen, und die ganze Besatzung bis auf vier Mann an Skorbut gestorben. Der junge Deutsche, ich glaube, er war aus Bonn, schilderte uns entsetzliche Szenen, die sich an Bord unterwegs zugetragen.

Gleich nach unserer Ankunft wurden wir zum Kapitän gerufen und gefragt: Wer abmustern wolle.

Alle bis auf Gustav und Willy traten vor. August und Napoleon blieben unentschieden aus Feigheit.

Ich stand in der vordersten Reihe.

Die »Elli« sollte von England aus mit einer Ladung Kohlen nach Brasilien und von da wieder nach Belize gehen.

Am Donnerstag, dem 19. September um zwei Uhr, gingen wir zum Abmustern nach dem deutschen Konsulat. Ich hatte die Wollmütze mit der Kindertroddel auf.

Augusts Gönner, die Halsabschneider, warteten wie Raubtiere am Konsulat, wo das verdiente Geld uns ausgezahlt werden sollte. Sie waren übermäßig besorgt, daß ihnen ihr Opfer durch die Lappen gehen könne.

Besonders ein gewisser Lehmann war vor habgieriger Aufregung ganz außer sich.

Während wir vor dem Konsulat in der Old Hall Street warteten, bot sich uns ein zerlumpter Mulatte als Stiefelputzer an.

Obgleich es vorher geregnet hatte, warf er sich doch für eine Kupfermünze der Länge nach auf der schmutzigen Straße hin und brachte die alten versalzten Seemannsstiefel zu nie geahntem Glanz.

Wir wurden einzeln der Reihe nach zum Konsul gerufen.

August war der erste, der seine Heuer und sein Musterbuch erhielt. Als er herauskam, klammerte sich Lehmann an ihn fest und hielt ihm eine lange, eindringliche Rede mit dem kurzen Inhalt: »Geld her!«

Auch Hermann und Paul mußten gleich bluten.

Dann wurde ich hineinzitiert und erhielt als Heuer:

Einunddreißig Mark!

Der Alte erklärte mir, daß er vierzehn Mark als Strafe für meine Belizer Flucht von meinem Lohn abgezogen hätte. Es wäre dies der Betrag, der damals für meine Ergreifung ausgesetzt und auch ausbezahlt sei.

»Ich meine es eigentlich noch gut mit dir«, schloß er, »ich könnte dich noch einsperren lassen.«

Einunddreißig Mark – –!! Aber das schien mir doch ein Kapital! Was konnte ich mir alles dafür kaufen!!

Ich eilte mit Jahn und Hermann sogleich in ein Lokal. Wir erquickten uns an ham and eggs, Butterbrot und Kakao.

Dann trennte ich mich von meinen Begleitern, um mich nach einem Schiff umzusehen, das mir gegen Dienstleistungen freie Fahrt nach Deutschland geben könnte. Die weiten, modernen Docks entlang schlendernd, erblickte ich zwei deutsche Dampfer, »Lappland« und »Westmorland«, die, wie ich erfuhr, nach Hamburg bestimmt waren. Bei beiden sollte jedoch der Kapitän erst am nächsten Tage zu sprechen sein. Ich kehrte deshalb wieder auf die »Elli« zurück, die inzwischen ihren Liegeplatz verändert hatte. Unterwegs genoß ich noch eine Menge Lunchkeks. Leider hielt ich es auch für angebracht, mich an Brandy zu betrinken. »Na«, empfing mich Steuermann, »ist die Geschichte auf dem Konsulat gut abgelaufen?«

»Ja, nur zu glatt!« erwiderte ich sarkastisch.

»Wieso?«

»Nun schon gut.«

»Ja, dann mache andermal solche Dinge nicht.«

Ich schlief die Nacht natürlich an Bord. Gesetzmäßig durften wir uns noch vierundzwanzig Stunden nach der Abmusterung auf dem Schiff aufhalten.

Am nächsten Morgen weckte mich der mit dem Löschen der Ladung verbundene Lärm und die äußerst laute Unterhaltung der Schauerleute. Ich holte noch einmal wie bisher den Kaffee ins Logis. Dann machte ich mich wieder auf die Schiffssuche.

Nachdem ich verschiedene nötige und unnötige Einkäufe besorgt hatte, fuhr ich mit der Hochbahn nach dem Nelsondock, wo ich nur noch die »Lappland« vorfand. Man wies mich hier aber ab.

Ein Hamburger Dampfer mit dem Namen »Lutetia« war eingelaufen. Ich wandte mich an den Steuermann des Schiffes mit der üblichen Frage:

»Kann ich eine Chance nach Hamburg bekommen?«

»Sind Sie utgerüst?«

Ich wies ihm meine Papiere und erzählte ihm von meiner Stellung auf der »Elli«.

»Ja, Sie müssen um 12 Uhr mal mit dem Kapitän sprechen.«

Ich faßte Hoffnung, bummelte einstweilen durch die Straßen, kaufte mir ein Scheidemesser, aß einen frischen Hering und fand mich pünklich auf der »Lutetia« wieder ein.

Der zweite Steuermann des Schiffes fragte mich nochmals gründlich aus und verwies mich dann an den Kapitän.

»Was wünschst du?« fragte dieser und verbesserte sich dann – was eigentlich ein ungünstiges Zeichen war – »Was wünschen Sie?« »Der Konsul muß Sie doch hinüberschicken«, meinte er, als ich ihm mein Anliegen vorgetragen hatte.

Ich erklärte ihm, daß dazu keine Verpflichtung vorliege, da ich nicht in Deutschland, sondern in Frankreich angemustert sei.

»Hast du Sachen?« forschte er weiter.

»Ja, an Bord.«

»Hol' sie mal rüber.«

»So haben Sie also Chance für mich?« fragte ich erfreut.

»Ja, mußt aber fix mit arbeiten.«

»Ja, natürlich.«

»Mach' schnell, es geht bald ab.«

Jubelnd schwang ich mich auf die Ringbahn und eilte nach der »Elli«. Dort stand Napoleon, noch immer unschlüssig, was er machen solle. Im Logis traf ich Hermann, Gustav und Paul an.

Vor Freude und Aufregung ganz nervös, geriet ich mit Hermann wegen irgendeiner Lappalie in Streit und gab ihm eine Ohrfeige. Da taute aber plötzlich Gustav auf. Der sonst so phlegmatische Riese ergriff mich mit seinen Bärentatzen, legte mich regelrecht übers Knie und verdrosch mich wie einen Schuljungen. Komischerweise war mit diesem Schlußeffekt sofort eine allgemeine Versöhnung hergestellt.

Ich packte meine Sachen, nahm von Willy, Gustav und dem guten Napoleon Abschied und bestieg mit Hermann und Paul gemeinsam einen Wagen. Dem Kutscher versprach ich zwei Schillinge extra, wenn er mich recht schnell zum Nelsondock brächte.

Pauls Ziel war Cardiff. Er hatte eine Empfehlung an den dortigen Konsul. Hermann wollte zu einem Onkel nach Manchester. Obgleich beide mehr Heuer als ich erhalten hatten, ließ ich es mir doch nicht nehmen, den Wagen zu bezahlen.

So schied ich, als unsere Wege sich trennten, in bestem Einvernehmen von ihnen.

Dann brachte ich mich und meine Sachen auf der »Lutetia« unter.

Mein Schiffsjungentagebuch erzählt nichts weiter.

Der Verlag gab meinem gedruckten Schiffsjungentagebuch aus Reklamegründen eine Bauchbinde mit. Auf der ist folgende Zeitungsnotiz vom 16. November 1911 abgedruckt: »Untergegangenes Schiff. Von dem deutschen Schoner ›Elli‹, der von England nach Cuxhaven unterwegs überfällig war, sind nun Schiffsteile in der Nordsee gefunden worden. Hiernach ist der Schoner mit der ganzen Besatzung untergegangen.«

Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)

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