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2 Physiologische Komponenten des Schluckaktes und ihre Bedeutung für das Verständnis der Schluckpathologie
ОглавлениеDer sichere und vollständige Bolustransfer ist ein Produkt aus neuronal vermittelter Muskelaktivität und Sphinktermechanismen, die durch das Erzeugen sich kontinuierlich verändernder intraluminaler Drücke den Bolus vorantreiben (McConnel et al. 1989) und die Trennung von Atem- und Schluckpassage koordinieren. Dieser hochkomplexe Mechanismus muss dabei fortwährend durch sensorische Rückkoppelungsschleifen kontrolliert und ggf. modifiziert werden. Hieraus folgt, dass Störungen einzelner oder mehrerer dieser funktionalen Ebenen entweder zu einer Fehlleitung des Bolus oder einem inkompletten Transport führen und nur mittels unterschiedlicher instrumenteller Verfahren differenziert untersucht werden können.
Um die Komplexität dieses Vorgangs besser abzubilden und die physiologischen Abläufe zu strukturieren, teilt man den Schluckakt in verschiedene Phasen ein, die zum einen willkürlich und bewusst, zum anderen reflektorisch ablaufen (Dodds und Stewart 1990; Logemann 1995). Unabhängig von der Nahrungsaufnahme wird allerdings auch regelmäßig und häufig unbewusst Speichel geschluckt, der tagsüber mit einer Frequenz von etwa einem Schluck pro Minute realisiert wird. Des Nachts sinkt die Schluckfrequenz und kann insbesondere bei neurogenen Grunderkrankungen, wie z. B. den Parkinson-Syndromen reduziert sein.
Willkürlich gesteuterte Schluckphasen
• Präorale/antizipatorische Phase
• Orale Vorbereitungsphase
• Orale Transportphase
Reflektorisch gesteuerte Schluckphasen
• Pharyngeale Phase
• Ösophageale Phase
Die präorale Phase bzw. antizipatorische Phase, die sich z. B. auf das visuelle und olfaktorische Erkennen der Nahrung, Hinführen der Nahrung zum Mund (sog. »Hand-Mund-Bezug«) und kognitives Erfassen der Essenssituation etc. bezieht, spielt in der instrumentellen Diagnostik oropharyngealer Dysphagien zwar nur eine untergeordnete bis gar keine Rolle, bildet jedoch einen wichtigen Aspekt in der klinischen Schluckuntersuchung ( Kap. 5.3.2).
Bei der nun folgenden Darstellung des physiologischen Schluckvorgangs und seiner Pathophysiologie erscheint uns ein Fokussieren auf die wesentlichen neuromuskulären und biomechanischen Aspekte der einzelnen Schluckphasen wichtig, deren Störung die typischen dysphagischen Symptome hervorrufen und die im Mittelpunkt der Diagnostik stehen. Dabei ist eine isolierte Betrachtung dieser einzelnen Faktoren nur aus didaktischen Gründen sinnvoll, da sie sich in verschiedenen Phasen des Schluckaktes und in einem fließenden Übergang vollziehen. Erst in ihrer koordinierten Orchestrierung führen sie zu einem vollständigen und sicheren Bolustransfer. Die Illustration dieser Ebenen erfolgt dabei anhand videofluoroskopischer und endoskopischer Aufnahmen, um den Leser bereits hier an die wichtigsten anatomischen Landmarken der an anderer Stelle dargestellten apparativen Verfahren der Schluckdiagnostik heranzuführen.
An der neuronalen Steuerung der einzelnen Schluckphasen sind die Hirnnerven V (3. Ast aus dem N. trigeminus), VII (N. facialis), IX (N. glossopharyngeus), X (N. vagus) und XII (hypoglossus), die Ansa cervicalis (C1–C3) sowie eine Vielzahl gepaarter Muskeln beteiligt. Einen ausführlichen Überblick zur neuronalen Kontrolle des Schluckens geben Leonard und Kendall (2008), Prosiegel und Weber (2010) sowie Warnecke und Dziewas (2018).
In Anlehnung an Engelke (2007) wird die Schluckpassage als ein »multifunktionelles Hohlorgansystem« verstanden, in dem Sphinktermechanismen verschiedene Räume miteinander verbinden und wieder trennen, um durch kontinuierliche Druckveränderungen sowohl den Bolustransport als auch den Schutz der Atemwege zu gewährleisten. Dieses hochkomplexe biofunktionelle Zusammenspiel soll im Folgenden beschrieben werden.