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Die Erwählten sind abergläubisch
ОглавлениеNeben einer Reihe verschiedener Grundsätze und Pflichten gehört es zum Wesen einer Religion, auch eine gewisse willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit in Kauf zu nehmen.
Bestimmte Fragen gilt es, nicht zu stellen – und wenn doch, dann nur sehr zurückhaltend. Und egal wie unausgegoren: Die Antwort hat akzeptiert zu werden. Ein Christ darf fragen, warum die Bibel an vielen Stellen so widersprüchlich ist oder warum Gott es zulässt, dass schlimme Dinge passieren. Aber seit zwei Jahrtausenden hat niemand auf diese Fragen eine wirklich schlagkräftige Antwort gefunden. Allein der Glaube zählt.
Man internalisiert eine Verhaltensregel und fragt nicht weiter. Man ordnet diese Themen als tiefgründig ein. Damit ein stimmiger Zusammenhang mit rationaler Gedankenführung entsteht, behauptet man, dass sich aus den relevanten Fragen stets nur weitere Fragen ergeben.
Genau diesen Standpunkt setzt auch die Philosophie der Erwählten voraus. Man darf nicht fragen, warum Schwarze Menschen sich so über einen weißen Polizisten aufregen, der einen Schwarzen Mann ermordet hat, obwohl das Risiko für einen Schwarzen Mann, von einem anderen Schwarzen Mann ermordet zu werden, viel größer ist. Wer trotzdem fragt, bekommt nur schwammige Antworten, und weitere Fragen sind unerwünscht. Eine der gängigen Antworten ist, dass Schwarze Communitys sehr wohl gegen Gewalt zwischen Schwarzen protestieren. Aber alle wissen, dass die Empörung über weiße Polizisten viel, viel weitreichender ist. Nach dem März ging es 2020 um nichts anderes mehr. 2020 war der Ärger der Schwarzen Communitys darüber, dass ihre Söhne, Neffen und Cousins sich gegenseitig umbringen, nie Thema. Dabei verzeichnete dieser Trend im Sommer 2020 USA-weit in armen Schwarzen Vierteln neue Rekordzahlen – wie schon in zahllosen Sommern davor.
Gibt es hierfür eine Erklärung? Man bekommt zu hören, Schwarze Männer brächten sich innerhalb einer rassistischen ›Struktur‹ gegenseitig um. Aber als intelligenter Mensch weiß man, dass das nicht die Antwort auf die Frage ist. Eine elegante Antwort wäre: Es macht einen Unterschied, ob man von einem Mitbürger oder einem Vertreter der Staatsgewalt ermordet wird, ganz klar. Aber heißt das, es ist nicht schlimm, wenn wir uns gegenseitig Gewalt antun?
An diesem Punkt bekommt man keine Antwort mehr, sondern nur noch ein Augenrollen. Diese Frage darf schlicht nicht gestellt werden, und die Leute können an dieser Stelle recht explizit werden. Das »Gespräch« über Race, das wir, so sagt man uns oft, führen sollen, hat unausgesprochen so zu laufen, dass Schwarze Menschen ihren Kummer äußern und weiße dazu nicken. Wenn wir ihre Gespräche derart beschreiben, widersprechen die Erwählten: »Oh nein, nein, das stellen Sie überspitzt dar!« Aber dann sind sie nicht in der Lage, auch nur eine Sache zu benennen, die sie in besagtem Gespräch lernen könnten und die etwas fundamental anderes wäre als das, was wir Heiden (s.u.) daraus lernen würden. Ein Christ bekommt vielleicht gesagt: »Hauptsache, du glaubst.« Den Erwählten wird beigebracht: »Hauptsache, du bist kein Rassist.« Welche Konsequenzen dieser Glaube für die Menschen hat, für die angeblich gekämpft wird, spielt dabei keine Rolle.
Oder man sagt uns, einer der Hauptgründe, die Standards der Zulassungstests für die Hochschulen variabel zu gestalten, sei es, Diversität zu fördern und in den Seminarräumen die Perspektive von ›diversen‹ Studierenden zu Gehör zu bringen. Aber dann sagen uns diese ›diversen‹ Studierenden andauernd, wie sehr sie es hassen, für die Repräsentation der ›diversen‹ Perspektive im Seminar verantwortlich zu sein. Die Reaktion der Erwählten darauf? Beteiligung im Seminar zu erwarten sei schon per se rassistisch – womit eines der Hauptargumente für die Bevorzugung aufgrund der Hautfarbe in sich zusammenfällt. Wer hier genauer nachfragt, »hat es einfach nicht kapiert«. Wir sollen akzeptieren, dass manche Fragen nur zu immer neuen Fragen führen – und dass wir ab einem gewissen Punkt aufhören sollten, sie zu stellen.
Was man, wenn man zusammenhanglosen Positionen wie diesen doch noch irgendeine verdrehte Logik abgewinnen will, einfach nicht begreift, ist Folgendes: Der Kampf gegen Rassismus darf nur so infrage gestellt werden, dass die Erwählten in ihrem Bild bestärkt werden, eben doch recht zu haben – und sei es auf Kosten von Sinn und Verstand. Und das ist Aberglaube. Wenn wir auf Schwarz-Weiß-Fotos etwas über die Bolschewiken und Stalin von vor einem Jahrhundert erfahren, spötteln wir über deren stark vereinfachende Weltsicht. Was aber erst letzte Woche auf YouTube zu sehen war, und zwar im Namen Schwarzer Menschen in den USA, lassen wir unterwürfig als neues Paradigma durchgehen.
Das alles ist sehr abrahamitisch. So ist es eben mit den Religionen. Muslim, Islam – im Kern dieser arabischen Wörter stehen die Konsonanten s-l-m, die den Begriff der Unterwerfung ausmachen. Man unterwirft sich aber nicht nur einem Gott. Auch den eigenen Unglauben an den Nagel zu hängen ist eine Form der Unterwerfung. Es ist kein Zufall, dass viele weiße Erwählte instinktiv die Hände über den Kopf heben, wenn sie ihr Bewusstsein dafür signalisieren wollen, dass sie über ›weiße Privilegien‹ verfügen. Denken Sie nur daran, wie ein solcher Typ versichert: »Ich weiß, ich bin privilegiert!«, und dabei die Hände hochhält, Innenflächen nach außen, genau wie ein Mitglied der Pfingstbewegung. Vielleicht tun sie in diesem Moment auch ein wenig hip, so, als emulierten sie Schwarze Gestik – was sie nach nur kurzem Nachdenken ganz sicher als »kulturelle Aneignung« verdammen und weit von sich weisen würden. Sie bekunden das Wissen um ihre Privilegien mit dieser Geste deshalb so gern, weil sie vor allen Dingen signalisiert: Ich unterwerfe mich einer Macht, die von oben auf mich herabschaut.
Und dann noch das: Als Erwählte Weiße damit anfingen, bei den Protesten nach dem Mord an George Floyd für längere Zeit auf die Knie zu gehen, um ihre allgemeine Wokeness – ihr erwachtes Bewusstsein insbesondere für die rassistischen Strukturen unserer Gesellschaft – zu bezeugen, war das eine Unterwerfung unter Erwählte Imperative. Aberglaube äußert sich oft in ritualisierten Gesten, zum Beispiel indem man sich Salz über die Schulter wirft, um Glück zu haben, oder eben, indem man bestimmte Gebetshaltungen einnimmt.