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Die Erwählten haben einen Klerus

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Etwas, das im Jahr 2014 für mich nie so ganz aufging, illustriert ganz gut, wie dieser Klerus aussieht. Konkret: Warum wurde Ta-Nehisi Coates’ Essay »The Case for Reparations« so begeistert aufgenommen?

Ja, er ist gut geschrieben, aber dass es wirklich Leute gab, die den in The Atlantic veröffentlichten Essay in Tränen aufgelöst retweeteten, lag nicht an seinem eleganten Stil. Da war etwas Größeres im Schwange, vor allem vor dem Hintergrund, dass in den Medien erst fünfzehn Jahre zuvor endlos über Entschädigungszahlungen für die Zeit der Sklaverei diskutiert worden war. Unter anderem war Randall Robinsons Bestseller The Debt in den USA landesweit eifrig gelesen worden, genau wie später Coates’ Essay. Hätte es in den frühen 2000er Jahren die sozialen Medien schon gegeben, würde The Debt auch heute noch viel gelesen. Aber nach der Veröffentlichung von Coates’ Artikel hätte man den Eindruck gewinnen können, die US-amerikanische Öffentlichkeit sei noch nie zuvor mit der Entschädigungsidee konfrontiert worden.

Oder zumindest seien noch nie überzeugendere Argumente für Reparationen gefunden worden. Dabei kann man eigentlich nicht behaupten, dass Coates’ Text Robinson (und viele weitere) in argumentativer Hinsicht in den Schatten stellte, vor allem, weil Robinson ja damals gleich ein ganzes Buch zum Thema geschrieben hatte. Außerdem wurde Coates (wie Robinson auch) nicht wirklich konkret in dem Punkt, wie es mit den Entschädigungen denn eigentlich funktionieren könnte. Die Frage lautet also nicht, ob Coates einen guten Essay geschrieben hat, ja oder nein. Das hat er – und danach noch einige mehr. Aber warum dieser Text einen ähnlichen Widerhall fand wie Ralph Naders Unsafe at Any Speed oder Rachel Carsons Stummer Frühling, ist für mich per se ein Rätsel.

Und hier kommt auch gleich des Rätsels Lösung: Coates’ Text wurde nicht als politische Äußerung so heiß geliebt. Schließlich geht fast niemand davon aus, dass Entschädigungszahlungen so abgewickelt werden könnten, dass diejenigen, die sie fordern, tatsächlich zufrieden wären. »The Case for Reparations« wurde vielmehr als Predigt wahrgenommen. Und als Predigt war dieser Text auch wirklich gut. Sein Publikum wollte Proklamation, nicht Information. Sicher, einige Leserinnen und Leser, vor allem die jüngeren, hörten zum ersten Mal von der Idee der Entschädigung. Für den Großteil der Leserschaft aber traf das nicht zu. Schließlich hatten viele, die diesen Artikel abfeierten, als wäre er eine neu entdeckte Schriftrolle vom Toten Meer, mehr als nur ein paar graue Haare. Für sie war das alles eigentlich nichts Neues mehr.

Von daher ist Coates, obwohl er es wohl kaum darauf angelegt hat, für seine Fans nicht nur ein Lehrer, sondern ein Prediger. Diese klerikale Rolle in unserem Diskurs wurde überdeutlich, als A. O. Scott Coates’ Buch Zwischen mir und der Welt als »so lebensnotwendig wie Luft und Wasser« bezeichnete. Dass die US-amerikanische Intelligenzia dieses Zitat dann so überaus wohlwollend aufnahm, war wiederum ein Signal per se, klang Scotts Loblied doch so, als bezöge er sich auf die Heilige Schrift selbst.

Wer diese Form von Kommunikation so behandelt, als sei sie für die Weitergabe von Informationen gemacht, verfehlt ihren Wesenskern. Die wenigsten nehmen das, was diese Denker und Denkerinnen von sich geben, als etwas Neues wahr. Man stelle sich eher Geistliche vor, die von aus der Kirche strömenden Menschen für ihre Predigt gelobt werden. Dabei sind die meisten wohl eher nicht von der Predigt selbst begeistert, sondern davon, wie schön sie das ausgestaltet hat, was sie vorher schon wussten. Davon fühlen sie sich getröstet.

Beim Thema Race schätzen die Erwählten bestimmte hochkarätige Intellektuelle für ihre Gabe, als zentral erachtete Punkte kunstvoll in Worte zu fassen und variantenreich zu wiederholen. Diese Denkerinnen und Denker sind ihre Priester, ihr Klerus. Geistliche haben die Aufgabe, die Wahrheiten einer Religion immer aufs Neue zu verkünden, denn der abergläubische, nicht-empirische Flügel einer Ideologie driftet im harten Zugriff des Alltags auf das Leben schnell ab.

In Scharen strömen Weiße herbei und bezahlen sogar dafür, um sich von Robin DiAngelo kontraintuitiv belehren zu lassen, dass sie rassistische Zahnrädchen in einer rassistischen Maschinerie sind und dass gesellschaftliche Veränderung nur möglich ist, wenn sie das zugeben und ihren Rassismus abschütteln (was arme Schwarze Menschen wann und wie genau weniger arm sein lässt?). Weil sie religiöses Denken lehrt, ist DiAngelo eine prominente Wanderpredigerin in der Tradition von Aimee Semple McPherson. Das Center for Antiracist Research, das die Universität von Boston extra für Ibram X. Kendi eingerichtet hat, ist mit seinem Fokus auf Kendis religiöse Herangehensweise an Rassismus eine theologische Fakultät. Der Lehrstuhl wurde gegründet für einen Mann, der sich formal zwar als Wissenschaftler qualifiziert hat, in seiner wahren gesellschaftlichen Funktion aber Priester ist.

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