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Neue Wege

London und St. Petersburg 2006

Und so geschah es, dass die Zwillinge Faye und Elizabeth Summer im Sommer 2006 voneinander getrennt wurden.

Faye musste bereits einen Tag nach dem Wettkampf, nach welchem sich ihre Zukunft völlig verändert hatte, nach St. Petersburg fahren, um die Ferien über die fremde, neue Sprache zu lernen. Zum Glück hatte sie ihre beste Freundin Lucy an ihrer Seite, sonst hätte sie die Trennung von allem was ihr am Herzen lag womöglich nicht überstanden.

Doch nicht nur ihr Umfeld änderte sich abrupt. Auch ihren englischen Namen musste Faye ablegen, solange sie in Russland wohnen würde. Hier wurde sie nun von allen, mit Ausnahme natürlich von Lucy, Katherina Zummernova genannt.

In London wurde wie geplant berichtet, dass Kate Summer wegen persönlicher Gründe nicht nach St. Petersburg ziehen konnte und somit Lucy Anderson allein ihren Platz einnahm, sodass Lizzy hier ungestört weiter zur Royal Ballet School gehen konnte.

Es würde sich ab dem nächsten Schuljahr vieles verändern. Sie würden, sowohl in London als auch in St. Petersburg, nicht nur Unterricht im klassischen Tanz und Spitzentanz erhalten, sondern würden zusätzlich mit Pas de deux Unterricht beginnen. Für Letzteren wurden allerdings lediglich die Schülerinnen ausgewählt, denen man eine Karriere als Solotänzerin zutraute. Sowohl Faye, Lizzy und Lucy und auch Georgiana Fitzgerald wurden für diese Art von Unterricht ausgewählt. In St. Petersburg standen noch einige andere auf der Liste, doch deren fremdklingende Namen sagten den beiden Engländerinnen noch rein gar nichts. In London blieb es jedoch bei den beiden härtesten Konkurrentinnen Georgiana Fitzgerald und Kate Summer.

Ms Brooks hatte bemerkt, dass die beiden sich nicht leiden konnten, weshalb sie beschlossen hatte, sie in Zukunft nebeneinanderzustellen und mehr miteinander tanzen zu lassen, damit sie aus ihrem persönlichen Konkurrenzkampf einen Nutzen ziehen konnten. Dieser war, dass die beiden sich noch stärker gegenseitig hochpuschten, da beide versuchten besser auszudrehen, länger die Balance zu halten, mehr Pirouetten zu drehen, höher zu springen und ihre Beine beim Dehnen bis hinters Ohr zu ziehen und dort zu halten. Wenn das so weiterginge, dachte sich Miranda Brooks, würde sie bald zwei kleine Stars in ihrer Klasse haben.

Nach einem langen Flug kamen Faye und Lucy früh morgens am Flughafen in St. Petersburg an, wo sie eine rundliche alte Dame erwartete. Ihr Name war Nadina Petrova, eine streng, doch sogleich liebenswürdig wirkende Frau, die die beiden Mädchen aufgrund ihres strammen Dutts sehr an ihre ehemalige Ballettlehrerin Ms Brooks erinnerte.

Nadina Petrova war früher einmal selbst Balletttänzerin gewesen und hatte es sich, da sie selbst nie Kinder bekommen konnte, zur Aufgabe gemacht, die englischen Gäste hier in St. Petersburg bei sich zu Hause aufzunehmen.

»Ihr müsst Lusi Andersyn und Katherina Zummernova sein«, begrüßte sie die beiden und reichte ihnen die Hand.

»Es ist mir eine Freude Ihre Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Lucy mit einem kleinen Knicks.

Zu ihrer eigenen Verwunderung bekam Faye kein Wort heraus und stand nur wie angewurzelt da.

»Gleichfalls Lusi. Und was ist mit dir?«, fragte Nadina die perplexe Faye in einem strengen Tonfall, doch hatte bereits im nächsten Augenblick ein neckisches Grinsen aufgelegt. »Dir hat es wohl völlig die Sprache verschlagen. Na kommt, Kinder, Dimitrij wartet im Wagen auf uns. Er ist ja so aufgeregt, euch endlich kennenzulernen. Ihr müsst wissen, seine Mutter, die Frau meines Neffen, war Engländerin und deshalb spricht er Englisch fast genauso gut wie Russisch.«

Während Nadina Petrova weiter über ihren geliebten Großneffen berichtete, trat Faye eine einzige Frage immer weiter ins Unterbewusstsein.

Wer war dieser Dimitrij?

Am Abend ihres ersten Tages in Russland schrieb Faye ihrer Schwester ihren ersten Brief. Das mit den Briefen war so ein altmodischer Tick von Elizabeth. Es ginge zwar viel schneller, sich einfach eine E-Mail zu schreiben oder zu telefonieren, aber Faye wollte ihrer Schwester den Gefallen tun und bei ihrem veralteten Spielchen mitmachen.

Liebe Lizzy,

Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie anders alles hier im kalten Russland ist.

Man sieht es schon an den Häusern und Straßen, die ganz anders gebaut sind als die in London. Ach, wie ich unser schönes Stadthaus jetzt schon vermisse ... Zum Glück habe ich Lucy dabei, sonst würde ich mich hier womöglich kaum zurechtfinden. Doch nicht nur die Stadt ist unübersichtlich und groß. Auch das Haus, in dem wir wohnen dürfen, in welchem die Familie Petrov lebt, ist groß und unübersichtlich. Es ist eine richtige alte Villa, die wirklich schön und atemberaubend ist, keine Frage, aber dennoch gruselt es mich ein wenig, wenn ich durch die alten Flure laufe und mein eigenes Echo hören kann, sobald ich mit Lucy rede.

Lucy und ich wohnen in einem großzügigen Zimmer im Erdgeschoss, bei Ms Nadina Petrova. Sie ist schon sehr alt, was man an ihren altmodischen Gewohnheiten merkt (ihr würdet euch sicher mögen), doch kümmert sie sich auch sehr liebevoll um uns, als wären wir ihre eigenen Kinder (oder Enkelkinder).

Wir haben zwar noch nicht die ganze Familie kennengelernt, die in diesem Haus lebt, aber ich kann dir sagen, sie könnten beinahe die ganze Stadt bevölkern, so groß ist sie! Dass jemand so viele Verwandte haben kann, die dann auch noch alle im selben Haus leben, hätte ich mir bislang nicht vorstellen können. (Wie du mich kennst, übertreibe ich gerade mal wieder ziemlich, aber ich schreibe dir einfach alles so, wie ich es auch empfinde).

Hier bei uns im Erdgeschoss wohnt außer Ms Nadina nur noch Vitali. Er ist so eine Art Hausdiener oder Butler, also erinnert er mich etwas an Joseph, Lucys Butler in London. (Auch wenn Vitali eindeutig einen mürrischeren Gesichtsausdruck draufhat).

Im ersten Stock ist ein großer Salon, der als Wohn- und Essbereich genutzt wird, und die Küche, in welcher sich die Köchin Nadja fast den ganzen Tag lang aufhält. Sonst wohnen in diesem Stockwerk nur Nadinas Bruder Igor und seine Frau Eleonora, welche ich aber noch nicht kennengelernt habe, genauso wenig wie eigentlich den Rest der Familie, obwohl ich dir sagen kann, dass ich noch sehr viele Petrovs und Petrovas kennenlernen werde.

Ach, fast hätte ich es vergessen! Im Dachgeschoss wohnt Dimitrij mit seiner Familie. Er ist der Großneffe von Nadina und bislang (Nadina ausgeschlossen) der Einzige, der mich und Lucy verstehen kann. Er ist wirklich sehr höflich, du würdest ihn bestimmt mögen. (Obwohl du ja jetzt deinen Luke hast). Und das Beste ist, er geht sogar auf unsere Schule! Wenn wir Pas de deux Unterricht bekommen, werden wir ihn jeden Tag sehen. Und wer weiß, vielleicht dürfen Lucy oder ich sogar einmal mit ihm tanzen. Du musst wissen, Schwesterchen, bislang dachte ich echt, das wäre nichts für mich (also mit Jungs tanzen und so was), aber seit ich Dima (so dürfen wir ihn nennen) kenne, freue ich mich geradezu auf den Pas de deux Unterricht.

Ich muss jetzt Schluss machen, Lizzy. Nadja hat irgendetwas zum Abendessen gekocht, von dem ich noch nie zuvor gehört habe. (Das Essen ist hier ziemlich gewöhnungsbedürftig).

Herzliche Grüße

Deine Schwester Katherina

Während Faye ihrer Schwester diesen Brief schrieb, saß jene wieder einmal bei ihrem Luke im Wohnzimmer und trank Tee. Sie verbrachte während der Ferien sehr viel Zeit bei ihm, da sie nicht wusste, wo sie sonst hinsollte.

Faye war weg, Lucy war weg, und ihre Mutter hatte eine neue Arbeit als Modeschneiderin gefunden und war nun Tag und Nacht damit beschäftigt, Kleider für die High Society Londons zu nähen.

Wie schön, dass sie Luke hatte, dachte sie sich immer vorm Schlafengehen. Doch sie hatte nun, anders als Faye, Angst vor dem Pas de deux Unterricht. Was wäre, wenn Luke das nicht gefallen würde, wenn sie mit anderen Jungs tanzt. Sie konnte nur hoffen, dass er verstehen würde, dass sie für keinen anderen Jungen jemals so empfinden könnte, wie für ihn.

Die sechs Wochen Ferien vergingen wie im Flug. Während Lizzy die meiste Zeit mit Luke verbracht hatte, lernte Faye ihre neue Heimat kennen und allmählich auch die komplizierte russische Sprache.

Sie und Lucy hatten sich sehr gut mit Dimitrij, den sie Dima nannten, angefreundet. Auch seine kleine Schwester Natascha, die nun ihr erstes Jahr die Waganowa-Ballettakademie besuchen sollte, verbrachte liebend gerne ihre Zeit mit den beiden Engländerinnen. Dimas Zwillingsschwester Galina schien ihnen wiederum aus dem Weg zu gehen. Als Einzige aus der Familie ging Galina nicht auf die Ballettschule, denn sie saß seit einem Autounfall, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war, im Rollstuhl. Dafür spielte sie hinreißend schön Klavier und Geige und war eine wahre Augenweide.

Wahrscheinlich wollte sie nichts mit Faye und Lucy zu tun haben, weil sie sie an ihre englische Mutter erinnerten oder vielleicht aber auch, weil sie einfach nur wahnsinnig eifersüchtig auf sie war, da es insgeheim immer ihr Traum gewesen war, Balletttänzerin zu werden.

Das Phantom der Kate Summer

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