Читать книгу Das Phantom der Kate Summer - Josephine Katharina Groß - Страница 43

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Eine schicksalhafte Begegnung

London 1989

Als Katherine an diesem Morgen aufwachte, wurde ihr sofort klar, welcher Tag heute war. Genau heute vor einem Jahr hatte Jonathan um ihre Hand angehalten. Nicht zu glauben, dass sie nun schon ein ganzes Jahr verlobt waren. Am liebsten wäre Katherine damals gleich zum nächstbesten Standesamt gelaufen und hätte ihm offiziell das Jawort gegeben. Miranda konnte ihr noch so viel ins Gewissen reden, von wegen, sie solle sich mehr aufs Ballett konzentrieren und ihre persönlichen Angelegenheiten und Gefühle am besten ganz zu Hause lassen. Das konnte Katherine alles nicht mehr abschrecken. Sie wusste, was sie tat und wo ihre Prioritäten lagen, auch wenn sie es womöglich später einmal bereuen würde, sich nicht hundertprozentig auf ihren Job und auf ihren Traum, eine berühmte Solotänzerin zu werden, konzentriert zu haben. Aber damit konnte sie vorerst leben. Sie lebte schließlich im Hier und Jetzt. Was kümmerte es sie, wie ihr Leben möglicherweise in zehn Jahren aussehen konnte. Und wenn ihre Zukunft eine glückliche Familie für sie bereithielt, mit Jonathan als liebevollem Mann und vielleicht ein paar süßen Kindern, dann wäre sie ebenso glücklich, als wenn sie ihr Leben für das Ballett geopfert hätte, um jeden Tag auf der Bühne zu stehen, zu tanzen und Applaus zu ernten. Vielleicht wäre es sogar das Leben, das sie lieber ihr Leben nennen würde. Ein normales Leben, wie so viele Frauen es führten. Was konnte daran also so falsch sein, wenn die meisten Frauen doch ein solches Leben wählten?

Es stimmte. Früher hatte es eine Zeit gegeben, da hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als berühmt und beliebt zu sein. Dass jeder ihren Namen kannte und sie bewunderte, für das, was sie war. Aber diese Gedanken hatten vor genau einem Jahr langsam, aber sicher angefangen zu verblassen. Denn seit dem Augenblick, als sie den Verlobungsring zwischen ihren Zähnen gespürt und Jonathan ihr schließlich im Betty’s, vor so vielen Menschen, einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte sie sich verändert. Sie war erwachsen geworden.

Ja, Katherine war tatsächlich drauf und dran gewesen, die Hochzeit sofort stattfinden zu lassen. Letztendlich war es Jonathan gewesen, der noch warten wollte.

Erst hatte Katherine das nicht verstanden. Er war es doch schließlich gewesen, der ihr einen Antrag gemacht hatte. Was hielt ihn also davon ab, dem nun auch nachzukommen. Doch irgendwann war es ihr klargeworden. Jonathan hatte wie immer nur ihr Bestes im Sinn gehabt. Auch wenn Katherine ihm versichert hatte, dass sie sich darüber klar sei, was sie tue und was sie wolle, hatte er tief in ihr Innerstes geblickt und den winzigen Funken Zweifel gesehen, den sie selbst kaum wahrgenommen hatte.

Sie war viel zu aufgeregt gewesen, um selbst tiefer in sich hineinzublicken und sich zu überlegen, was sie wirklich wollte. In diesem Augenblick hatte sie lediglich ihn gewollt. Das hatte sie zumindest gedacht.

Ihre Gefühle fuhren Achterbahn und ihr Herz klopfte bei Jonathans Anblick noch mehr als es das vorher bereits getan hatte. Wie konnte sie sich da schon sicher sein, was sie wirklich wollte und sich selbst überlegen, ob sie vielleicht doch noch irgendwelche Zweifel an einer Hochzeit hatte. Er meinte, sie solle erst einmal sehen, wohin das Ballett sie bringen würde. Sie hatten schließlich Zeit und waren noch sehr jung. Das Heiraten lief ihnen ja nicht weg. Also hatte Katherine schließlich nachgegeben und sich damit zufriedengegeben, erst einmal zu warten.

Nun war sie auf dem Weg zu einem der kleinen Parks in Notting Hill. Ihrem und Jonathans Geheimtreffpunkt. Es war noch ziemlich frisch draußen. Der Winter gab sich gerade erst damit zufrieden, dem Frühling Platz zu machen, während sich die Sonne strikt zu weigern schien, sich ihren Weg durch die dicken grauen Wolken zu bahnen. Sehnsüchtig dachte Katherine an den heißen Sommertag vor einem Jahr zurück. Damals hatte die Wärme nicht früh genug kommen können und heute ließ sie scheinbar ewig auf sich warten. Fröstelnd zog Katherine ihren grünen Schal fester um ihren Hals, bevor sie sich zu beiden Seiten umschaute, um dann, als sie sicher war, dass sie niemand beobachtete, an einer Straßenlaterne über die hohe Mauer in den kleinen Grünzug zu klettern. Und als sie elegant auf der anderen Seite landete, sah sie im Licht der Dämmerung eine Gestalt auf der Parkbank sitzen.

Jonathan.

Ein Lächeln breitete sich auf Katherines Gesicht aus, ehe sie es verhindern konnte. Andererseits, warum sollte sie es auch verhindern? Sie stand schließlich zu ihren Gefühlen zu ihm und hatte kein Problem damit, der ganzen Welt zu zeigen, wie glücklich er sie machte. Und ehe sie sich versah, blickte Jonathan auch schon zu ihr hinüber, ebenfalls ein verschmitztes Lächeln im Gesicht, stand auf und kam auf sie zu. Katherine bekam bei seinem Anblick noch immer eine Gänsehaut. Er wirkte so geheimnisvoll, mit seinen blauen Augen, die so kalt schimmerten wie Diamanten, und seinem schwarzen glatten Haar, das ihm immer und immer wieder in die Stirn fiel. Er war zwar muskulös, wie alle Tänzer es waren, doch nicht zu übertrieben, sodass er noch ziemlich schlank war. Und groß war er. So groß, dass Katherine sich nun auf die Zehenspitzen stellen musste, um ihn zu küssen, obwohl sie mit ihren 1,76 m eine der größten Ballerinen ihrer Kompanie war. Es wurde ihrer Ansicht nach höchste Zeit, dass mehr große Tänzerinnen gefördert würden. Man konnte doch schließlich nichts für seine Größe. Ihrer Meinung nach zählte allein die Freude am Tanz und dass man diese auch zum Ausdruck bringen konnte. Als sie mit dem Küssen fertig waren, gingen die beiden Hand in Hand zu der Bank zurück und setzten sich.

»Hast du etwas Neues von James und Miranda gehört?«, erkundigte sich Jonathan, nachdem sie eine ganze Weile einfach nur so dagesessen und die Vögel und Enten zu ihren Füßen mit alten Brotkrumen gefüttert hatten.

»Ich denke, es ist jetzt endgültig aus zwischen den beiden«, antwortete Katherine und seufzte. Miranda hatte ihr ein Geheimnis anvertraut und sie hatte ihr versprechen müssen, keiner Menschenseele davon zu erzählen. Sie bekam ein ganz schlechtes Gewissen, weil sie Jonathan etwas verheimlichte, obwohl sie ihm sonst wirklich alles erzählte, und das Blut schoss ihr in den Kopf.

»Na ja, das war ja vorauszusehen. Miranda ist einfach eine gefühllose Frau. Eine wahre Ballettfurie. Tut mir leid, ich weiß, sie ist deine beste Freundin«, sagte Jonathan, ohne Katherine dabei anzusehen.

»Ach, es stimmt ja, was du sagst«, entgegnete diese und dachte wieder an Mirandas Geheimnis. »Jamie hat wirklich etwas Besseres verdient.« Sie musste daran denken, wie James Jackson ihr erst vor Kurzem erzählt hatte, wie sehr er sich eine Familie und Kinder wünschte. Katherine brach es das Herz, zu wissen, was er nicht wusste. Dass in Mirandas Körper ein Kind heranwuchs. Sein Kind. Und dass er nichts davon ahnte und es womöglich auch niemals erfahren würde. Sie hatte ihrer Freundin zwar versprochen, zu schweigen, jedoch war sie sich längst nicht mehr sicher, ob sie dieses Versprechen auch wirklich würde halten können.

»Ich hoffe nur, dass die beiden sich zusammenreißen können, wenn sie sich in nächster Zeit über den Weg laufen. Sonst wird unsere ganze Gruppe noch Schaden nehmen«, sagte Jonathan, und Katherine hörte deutlich die Besorgnis in seiner Stimme.

Es war nun noch gar nicht so lange her, dass sich aus den Tänzern des Corps de Ballet eine kleine Gruppe an Freunden abgesondert hatte, zu welcher auch sie beide, sowie James und Miranda gehörten. Sie hatten in einem alten Haus im Londoner Stadtteil Camden zwei kleine Wohnungen übereinander gemietet. In der oberen wohnten Katherine und Miranda und in der unteren Jonathan, James und der fünfte im Bunde, ein weiterer junger, begabter Tänzer des Corps. Es würde tatsächlich nicht leicht werden, ihre Gruppe unter den gegebenen Umständen zusammenzuhalten. Erst gestern hatte Miranda Andeutungen darüber gemacht, sie wolle vielleicht ausziehen und Jonathan könnte dann zu ihr nach oben ziehen. Aber noch immer hoffte Katherine, dass sich alles wieder einrenken würde.

»Na ja, du Harmoniefreak«, versuchte Katherine, die Stimmung aufzulockern und knuffte ihren Verlobten in die Rippen. »Wir haben doch immer noch uns. Vergessen?«

»Nein, natürlich hab ich das nicht vergessen«, sagte Jonathan und lächelte sie nun direkt an. Sowohl mit seinen Lippen als auch mit seinen Augen. Katherine konnte diese geradezu aufleuchten sehen und schob ihm sachte eine schwarze Strähne hinter sein Ohr, um sich noch tiefer in ihnen zu verlieren.

»Ich bin so froh, dass ich dich hab, Kate, meine kleine Ballerina«, sagte er mit seiner sanften Stimme und brachte Katherines Herz damit beinahe zum Schmelzen. »Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.«

»Na komm!«, rief sie, um zu verhindern, dass sie schon wieder auf Wolke Sieben verschwand und womöglich nicht so schnell den Weg zurück in die Realität fände, sprang auf und zog Jonathan hinter sich her. »Mr Berry wird nicht begeistert sein, wenn wir mal wieder zu spät zum Training erscheinen. Hast du in letzter Zeit eigentlich mal auf die Uhr geguckt? Wofür habe ich sie dir eigentlich zu Weihnachten geschenkt?«

Jonathans Lächeln war kaum noch aus seinem schmalen Gesicht wegzudenken, als er seiner Verlobten widerstandslos folgte. In einem Moment konnte er ihr noch sein Herz ausschütten und mit ansehen, wie sie seinem Charme erlag, während sich im nächsten Moment der Spieß umdrehte, die Zügel ergriff und er sich nur noch wie ein nichtsnutziges Schoßhündchen vorkam, das seiner Herrin bis ans Ende der Welt folgen würde.

Sie kamen gerade noch pünktlich im großen Trainingssaal des Royal Ballets an und stellten sich auf ihre Plätze, bevor Mr Berry wenige Augenblicke später den Saal betrat und es sich auf einem Stuhl in der Ecke bequem machte. Leicht genervt, wie jeden Morgen, teilnahmslos an seinem Kaffee nippend, gab er dem Pianisten ein Handzeichen, dass er mit dem Plié, der ersten Übung, beginnen sollte.

Und so zog sich das Training eine halbe Stunde lang. Die Tänzer machten ihre Pliés, Tondues, Ronde de Jambes und so weiter und so weiter, spannten jeden erdenklichen Muskel an, den ihr Körper besaß, achteten auf ihren Ausdruck und darauf, dass sie ihr Becken aufrichteten und immer maximal von der Hüfte ausdrehten, bis sie schließlich mit den Stangenübungen durch waren und alle sich zu ihren Getränken aufmachten, ehe sie mit den Übungen in der Mitte fortfahren würden. Katherine liebte die Mitte-Übungen. Die ganze Stange lang wartete sie sehnsüchtig darauf, dass sie endlich warm genug wäre, um frei tanzen zu können. Dann könnte sie so viele Pirouetten drehen und so hoch springen, wie es ihr möglich war und sich voll und ganz von ihrem Körper führen lassen.

Erst jetzt, als sich alle Tänzerinnen und Tänzer in der Mitte des großen Trainingssaals einfanden, bemerkte Katherine ein neues Gesicht unter der täglich gleichen Meute an jungen Corps-Mitgliedern. Ein junger Mann um die zwanzig, mit aschblondem, kurzem Haar und einem überaus durchtrainierten Körper. Ein Schauer überlief Katherine. Aber nicht aus demselben Grund, wie wenn sie bei Jonathans Anblick eine Gänsehaut bekam. Es schien ihr eher wie eine Art Instinkt. Als wolle ihr Unterbewusstsein sie vor etwas warnen.

Katherine wollte sich gerade wieder abwenden und sich lieber noch ein wenig dehnen, damit sie sich gleich auch ja nicht verletzen würde, als sie bemerkte, wie dieser Kerl nun ausgerechnet auf sie zukam.

»Hey!«, sagte er und lächelte. Na ja, eigentlich war es kein richtiges Lächeln. Kein schönes Lächeln, wie das von Jonathan. Der Fremde zog lediglich einen Mundwinkel hoch und entblößte die Zähne dahinter, zwischen welchen noch etwas Tabak steckte. Aus irgendeinem Grund musste Katherine dabei an einen Haifisch denken, obwohl seine Zähne sonst ganz gewöhnlich waren. Es war die Art seines Lächelns und seine allgemeine Aura, die ihn umgab, die sie erschaudern ließen.

»Hallo«, antwortete sie. Ihr gelang es nicht, ihre Verwunderung zu verbergen, obwohl sie eigentlich versucht hatte, ihre Stimme gleichgültig und desinteressiert klingen zu lassen.

»Ich bin Henry Pierce. Ich komme vom New York City Ballet. Und wer bist du?«, fragte er mit amerikanischem Akzent und hielt Katherine seine Hand entgegen. Widerwillig ergriff sie diese und schüttelte sie kurz. Dieser Fremde war ihr ganz und gar nicht geheuer.

»Katherine«, antwortete sie stumpf.

»Nun ich muss sagen, ich habe noch nie …«

Katherine erfuhr nicht mehr, was dieser Kerl noch nie hatte, denn in genau diesem Moment unterbrach ihn Mr Berry, indem er verkündete, dass die Pause zu Ende sei und sie nun mit dem Adagio in der Mitte weitermachen würden. Und ehe sie sich versahen, begann der Pianist bereits zu spielen. Noch nie war Katherine so dankbar für die viel zu kurzen Pausen während des harten Trainings gewesen!

Sie versuchte, die restliche Stunde über, diesem Henry Pierce aus dem Weg zu gehen, so gut es nur ging. Und als Mr Berry seine Tänzerinnen und Tänzer entließ, war sie die Erste, die sich ihre Sachen schnappte und ohne auf ihre Freunde zu warten, Richtung Covent Garden lief, um sich in die nächste Bahn nach Hause zu setzen.

Eine Woche verging und Katherine war dem unheimlichen Neuen aus dem Weg gegangen, so gut es ihr eben möglich war, wenn sie jeden Tag mehrere Stunden gemeinsam trainierten und so viel Zeit im selben Raum verbringen mussten. Bis es an diesem Abend, als die Freunde gerade dabei gewesen waren, sich vom täglichen Training bei einer Runde Doppelkopf zu erholen, an der Wohnungstür der Jungs, wo sie immer Karten spielten, klingelte und Katherine, welche gegen ihre Freunde sowieso keine Chance hatte und bereits ausgeschieden war, die blau gestrichene Holztür öffnete.

Sie zuckte unmerklich zusammen, als sie vor der Tür Henry Pierce mit einem großen Koffer stehen sah.

»Hallo Kitty«, begrüßte er sie mit demselben grausigen Lächeln, wie bei ihrer ersten Begegnung vergangene Woche.

»Was machst du denn hier?«, fragte Katherine nur, sichtlich verwirrt.

»Nun, ich hab dir doch erzählt, dass ich aus New York komme. Seit ich hier in London bin, lebe ich nur im Hotel, und als ich das deinen Freunden erzählt habe, waren sie so nett, mir einen Platz in ihrer Wohnung anzubieten.« Katherine hatte es die Sprache verschlagen. »Ich hab gehört, du wohnst auch hier im Haus?«, fragte Henry stattdessen. Doch bevor Katherine irgendetwas hätte antworten können, stand Jonathan schon neben ihr und begrüßte seinen neuen Mitbewohner. Katherine konnte nur versteinert danebenstehen und zusehen, wie dieser Kerl, bei dessen Anblick sich ihr noch immer die Nackenhaare aufstellten und sie ein noch nie da gewesener Fluchtinstinkt ergriff, seinen Koffer in die Wohnung direkt unter ihrer eigenen trug und ihre Freunde begrüßte, als wären es auch schon immer die seinen gewesen.

Das Phantom der Kate Summer

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