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ОглавлениеEin Abend bei Familie Petrov
St. Petersburg 2006
»Katherina! Lusi! Kommt, Kinder, das Abendessen ist serviert!«, rief Nadina Petrova aus dem riesigen Treppenhaus in die Wohnung im Erdgeschoss.
»Wir kommen sofort, Ms Nadina!«, riefen die beiden zurück und standen wenige Augenblicke später bereits im Speisesaal im ersten Stock, wo sich die gesamte Familie bereits zusammengefunden hatte. Sie saßen an einer langen Tafel. An einen Ende hatte Nadina selbst Platz genommen. Ihr gegenüber saß ihr Bruder Igor und daneben dessen Frau Eleonora. Neben Lady Eleonora nahmen die gemeinsamen Kinder, Vladimir mit seiner Frau Irina, Anatol mit seiner Frau Feodora und schließlich Tanja und Iwan Platz.
Gegenüber von ihnen saßen ihre Kinder. Vladimir und Irina hatten nur einen Sohn, der bereits erwachsen und verlobt war. Ihn sahen Lucy und Faye heute zum ersten Mal. Dima hatte ihnen aber erzählt, dass er Andrej hieß und seine Verlobte Tatjana aus einem noch wohlhabenderen Elternhaus als dem ihren stamme – was Faye sich nur schwer vorstellen konnte –, weshalb sie sich eher selten bei den Petrovs und Petrovas blicken ließen.
Neben den beiden saßen die Kinder von Anatol und Feodora. Zwei Mädchen mit den Namen Alexandra und Marija. Und neben ihnen folgten schließlich Iwans drei Kinder Galina, Dima und Natascha. Faye nahm gegenüber von Dima, neben dessen Vater, Platz, während sich Lucy der kleinen Natascha gegenübersetzte.
Dann trat auch schon die Köchin Nadja hinzu und servierte allen ihr Abendessen. Eine russische Suppe mit irgendwelchem Fleisch darin, welches Faye noch nicht genau zuordnen konnte. Dima schien ihren verwirrten Blick zu bemerken und half ihr. »Das ist Svinina. Auf Englisch Schweinefleisch«, sagte er und lächelte ihr über den breiten Tisch hinweg zu.
»Danke für deinen Hinweis, Dimitrij, ich bin sicher, die junge Lady weiß das sehr zu schätzen, aber könntet ihr wenigstens beim Essen versuchen, Russisch zu sprechen? Verzeihung, dass wir die englische Sprache nicht alle astrein beherrschen. Außerdem müssen deine kleinen Freundinnen schließlich unsere Sprache lernen, um in der Schule zurechtzukommen«, belehrte ihn sein Cousin Andrej auf Russisch. Obwohl er sehr gebildet war, denn er wollte einmal die Firma seines künftigen Schwiegervaters übernehmen, verstand er kaum ein Wort Englisch.
»Was hat er gesagt?«, flüsterte Faye Dima über den Tisch hinweg zu.
»Mein liebenswürdiger Cousin meint, du siehst heute Abend wirklich fantastisch aus«, flüsterte dieser zurück.
Faye wusste natürlich, dass er das nicht gesagt hatte, musste jedoch über Dimas Scherz schmunzeln. Außerdem hatte er ihr gerade ein Kompliment gemacht, oder nicht?
»Ich merke schon. Meine Worte haben in diesem Haus keine Bedeutung und mein kleiner Vetter keinen Respekt mehr vor mir«, fuhr Andrej sichtlich verärgert fort. »Komm, Tatjana«, sagte er zu seiner Verlobten. »Lass uns oben essen, da sind wir ungestört vor diesen Hinterwäldlern. Diese Engländer wissen doch rein gar nichts über Respekt. Die versauern nur alle auf ihrer Insel. Sind dort abgeschottet von jeglicher Zivilisation.«
Empört fuhr Iwan, Dimas Vater, hoch.
»Das reicht jetzt, Andrej!«, sagte er mit fester Stimme und klopfte zur Verdeutlichung seines Ärgers mit seiner rechten Faust mit solcher Wucht auf den Tisch, dass Faye dachte, die Tischplatte würde darunter zerbrechen. Sichtlich empört mischte sich nun auch Vladimir ein.
»Was fällt dir ein, so mit meinem Sohn zu reden, kleiner Bruder? Ich habe ihn dazu erzogen, seine eigene Meinung zu haben und diese auch zu äußern.«
»Er hat soeben alle Engländer beleidigt, Vladimir! Das ist eine Unverschämtheit, wo man bedenkt, dass wir zwei englische Gäste in unserem Heim beherbergen und meine Kinder ebenfalls halbe Engländer sind!«
»Ruhe jetzt!«, unterbrach nun Nadina die Streitenden. »Gerade weil wir Gäste haben, solltet ihr euch verdammt noch mal zurückhalten! Seit Iwan seine Olivia geheiratet hat, haben wir uns doch darauf geeinigt, Engländer von nun an in diesem Haus zu respektieren! Und nun setzt euch und genießt das hervorragende Essen. Nadja soll sich nicht umsonst die ganze Mühe gemacht haben.«
Auf einmal waren alle still. Nadina hatte eine besondere Macht und Autorität über diese Familie und diese dazu gebracht, nun friedlich ihr Essen weiter zu essen. Selbst Andrej hatte sich wieder beruhigt und wieder gegenüber von seinem Vater Platz genommen.
Faye und Lucy hatten von dem ganzen Streit so gut wie nichts verstanden, doch war ihnen klar, dass es um sie gegangen war und dass dieser Andrej sie aus irgendeinem Grund nicht leiden konnte. Auch wenn er den ganzen Abend kein Wort mehr sagte, spürte Faye die kalten Seitenblicke, die er ihr zuwarf. Und es fröstelte sie, als sie gegen Ende des Essens selbst einen Blick in seine Richtung wagte und in seine starren grauen Augen blickte.
Später am Abend schlichen sich Lucy und Faye heimlich in die Dachgeschosswohnung in Dimas Zimmer. Er hatte zum Glück sein eigenes, während sich seine Schwestern Galina und Natascha eines teilten.
»Was hat dieser Andrej nur gegen uns?«, fragte Faye, die es sich mit Lucy auf Dimas Bett bequem gemacht hatte.
»Ach, macht euch nichts draus«, antwortete Dima. »Andrej war, genau wie sein Vater Vladimir, schon immer gegen Engländer. Deshalb habe ich mich auch nie wirklich gut mit ihm verstanden, da meine Mutter schließlich Engländerin war.« Er schaute traurig auf die Bettdecke.
»Ach Dima, wir können dich nur zu gut verstehen«, meinte Lucy voller Mitgefühl in der Stimme.
»Genau!«, stimmte Faye ihr zu. »Wir alle haben bereits jetzt nahe Erfahrungen mit dem Tod gemacht und alle mindestens einen Elternteil verloren. Das ist doch echt grauenvoll!« Alle schwiegen für eine Weile, bis Faye versuchte, die bedrückende Stimmung zu lockern und ihre Freunde etwas aufzumuntern.
»Hey! Habt ihr eigentlich bemerkt, wie Anastasija versucht hat sich an Alexander ranzumachen? Letzte Pas de deux Stunde?«
Lucy, froh darüber, dass ihre Freundin ein neues Gesprächsthema gefunden hatte, stimmte gleich in die kleine Lästerei mit ein.
»Und ob ich das gemerkt habe, er ist schließlich – bedauerlicherweise – mein Tanzpartner«, sagte sie und stöhnte bei dem Gedanken an Alexander Vinogradow genervt auf.
Der Einzige, der immer noch etwas ungläubig dreinblickte, war Dima. Er schien noch nicht ganz zu verstehen, was seine beiden Freundinnen daran hatten, sich nun über Anastasija und ihre ständig wechselnden Freunde auszutauschen.
»Ehrlich gesagt ist mir das gar nicht aufgefallen«, meinte er und verursachte damit bei Faye und Lucy einen Lachanfall. »Ich verstehe wirklich nicht, was daran komisch ist«, sagte er gespielt beleidigt, aber dann konnte auch er nicht mehr an sich halten und wurde von dem Lachen der Mädchen angesteckt.
Als Faye sich wieder etwas gefasst hatte, sagte sie: »Die arme Anastasija. Schmeißt sich an jeden Typen ran, um ihren wirklichen Schwarm eifersüchtig zu machen, und er bemerkt es nicht einmal.«
Nun ging auch Dima endlich ein Licht auf. Anastasija war schon früher in ihn vernarrt gewesen, das hatte er Faye und Lucy ja selbst schon erzählt. Dass sie sich aber jeden Monat einen neuen Lover suchte, um ihn eifersüchtig zu machen, war ihm bislang wirklich nicht klar gewesen.
»Och nein, die arme Anastasija. Sie kann einem beinahe leidtun«, sagte Lucy, als sie Dimas verdatterten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Aber eben auch nur beinahe«, unterstrich Faye die Worte ihrer Freundin, woraufhin alle Drei wieder anfangen mussten zu lachen.
Auch den restlichen Abend verbrachten sie damit, über Anastasija Sokolowa herzuziehen, bis Faye und Lucy sich schließlich wieder nach unten in ihre eigenen Betten schlichen. Morgen würde die Schule weitergehen und da mussten sie ausgeschlafen sein, denn nicht nur der Pas de deux Lehrer Sergej Saizew, sondern auch die Lehrerin für klassischen Tanz, also Ballett, Irina Iwanowa, sollte sehr streng sein.
London 2006
Katherine Summer hatte Angst. Er konnte es doch wohl nicht wirklich gewesen sein. Nein, er war vor langer Zeit aus ihrem Leben getreten. Man hatte ihn nie aufgespürt. Es hatte zwar immer die Möglichkeit bestanden, dass er noch irgendwo da draußen war, aber nie hatte Katherine sich Gedanken darüber gemacht, was geschehen könnte, wenn er zurückkäme. Dass er überhaupt irgendwann wieder in ihr Leben treten könnte. Sie hatte sich fernab von ihrer Vergangenheit, die sie täglich versuchte zu vergessen, ein neues Leben aufgebaut. Es konnte doch nicht sein, dass ein Teil ihres Lebens, der womöglich grauenhafteste Teil, der Teil, den sie am meisten versucht hatte zu verdrängen, und welcher ihr doch jede Nacht wieder Albträume bescherte, nun wieder in ihr Leben trat und es mit bitterer Kraft drohte zu zerstören.
Doch sie hatte ihn gesehen. Er war gealtert, aber Katherine hätte ihn unter hunderten von Männern sofort erkannt.
Nun quälte sie bloß noch eine Frage. Was zum Teufel wollte er hier?