Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 10
Оглавление1 Bastteppich, Kerala
»Schuld und Scham sind der Siegeszug menschlicher Empfindungen gegenüber dem Tierreich!«, deklamierte Friedemarie und stellte sich energisch auf den kleinen Bastteppich ihres Privatzimmers im Mango-Hostel. Es herrschten subtropische Temperaturen in subtropischen Breitengraden mit der dazugehörigen Luftfeuchtigkeit. Bis auf die Fußkettchen war sie nackt. Ihre kinnlangen, nussbraunen Haare wippten auf und ab und ihre Augen leuchteten wie vor dem Aufbruch in ein Abenteuer. Fieberhaft hantierte sie mit Papierschnipseln unterschiedlichen Materials herum. Da waren abgerissene Ecken eines Reisemagazins, ein Einkaufszettel, zwei Bahnen Klopapier, Notizklebezettelchen und ein Flyer für den nahen Wildlife Sanctuary Park, eine der unzähligen Attraktionen Südindiens. Sie ließ einen weiteren Schnipsel zu Boden kreiseln und hielt sich den nächsten mal dichter, mal ferner vor die Augen, um ihre eigene Schrift zu entziffern.
»Oder der hier: Scham ist der Detektor auf dem Minenfeld menschlicher Interaktionen, doch meiner hat einen zu empfindlichen Sensor?«
»Zu militant«, wiegelte ihr so betitelter Lebensabschnittsstabilisator Pindu ab, der sich, ebenso unbekleidet, verkehrt herum auf einen Stuhl gesetzt hatte, um seine Arme auf der Lehne abzustützen. Hinter ihm flimmerte die Anleitung zu einer Tantraübung über einen Monitor. Klangschalenklänge drangen leise aus knackenden, schlecht verlöteten Boxen. Es war einer dieser Momente gewesen, die sich seit einigen Wochen schon häuften und immer stärker eskalierten. Wenige Minuten zuvor war Friede ausgerastet, hatte Pindus Hände von sich geschlagen und ihn angeschrien – weil er ihr gesagt hatte, wie viel sie ihm bedeutete und dass er sie nie wieder loslasse.
Friede strich sich eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Der nächste Schnipsel segelte zu Boden.
»Oder der hier: Scham ist der Sprengstoffspürhund im Fußballstadion sozialer Konventionen, meiner arbeitet in einem Dynamitwerk?«
Pindu verzog schmerzlich das Gesicht und machte eine Weiter-weiter-Bewegung. Er fragte sich, wie lange Friede diese gewaltintellektuellen Aphorismen wohl bereits unter ihrem Kissen sammelte, ohne dass er es mitbekommen hatte – und ob es noch den Hauch einer Chance gab, dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten, bevor Friede ihn einen hirnverbrannten Vollpimmel genannt hatte.
»Okay, der hier ist es: Scham ist der Feuermelder im Schwelbrand menschlichen Miteinanders, aber meine Gesichtsröte wird das Löschwasser sein. Was hältst du davon?«
Pindu lachte sarkastisch auf und klatschte sich die Hand gegen die Stirn. »Auweia Friede! Was hältst du von: Entschuldige Hella, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich habe mich einfach nicht getraut und das ist mir furchtbar peinlich? Ich weiß, das mit dem Entschuldigen ist immer noch nicht deine Stärke, aber ich glaube ganz fest daran, dass du es ohne dieses gestelzte Blabla schaffst! Und ganz ehrlich: Warum ist das nach all den Jahren immer noch so kompliziert mit euch? Vielleicht solltest du dich zuerst sortieren! Mach dir erst mal ein paar Stichpunkte, was du deiner Freundin wirklich zu sagen hast!«
Friede setzte sich aufs Bett und zog sich ein Laken um den Körper. Freundin. War Hella nach über drei Jahren Funkstille noch eine Freundin? War sie es überhaupt jemals gewesen? Eines war Fakt: Hella war auf jeden Fall die Einzige, die Friede helfen konnte, ihre völlig unplausiblen Hassattacken gegen Pindu in den Griff zu bekommen, bevor er ein für alle Mal das Handtuch schmiss. Wahrscheinlich waren sie auch nur ihr selbst so unplausibel und Hella würde sofort das System darin erkennen. Darin war sie spitze. Vielleicht sogar besser als ein Tresorknacker oder Philosoph. Das mit dem Sortieren hatte Friede im Übrigen schon einmal gehört: Schreib ein paar Dinge auf, während ich weg bin. So Tagebuch, weißt du? Das hilft, sich zu sortieren! Die letzten Worte, die sie von Hella gehört hatte, bevor alles für beide in einem Desaster geendet hatte. Vielleicht hatte Pindu recht, so kompliziert konnte es nicht sein, zu sagen: Sorry, ich habe mir ins Hemd gemacht, dass du mich vielleicht verurteilst. Dann wurden die Hemmungen immer größer, aber ich brauche dringend deine Hilfe, um meine letzten Dämonen zu exorzieren. Buff, aus, fertig! Oder?
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie von mir nicht etwas anderes erwartet, weißt du?«, gab Friede kleinlaut zu bedenken. Pindu stand mit einem schmatzenden Geräusch vom Stuhl auf und begann seine im Raum verteilten Klamotten zusammenzusammeln.
»Was meinst du? Dass sie dich nicht wiedererkennt, wenn du dich nicht mehr wie eine schmerzbefreite Vollidiotin ohne Verstand und Reue verhältst?«
»Ey, das war nicht ich, sondern der Film, den ich geschoben habe!«, protestierte Friede. Sie schmiss die restlichen Schnipsel auf den Boden. Das Klopapier landete auf einer kleinen Pfütze neben einer Teetasse und sog sich voll.
»Und genau das wird deine Hella verstehen. Das ist nämlich ihr Job. Ich wette mit dir, dass sie inzwischen als selbstbewusste Freiberuflerin in einer lichtdurchfluteten Privatpraxis sitzt, Geld wie Heu verdient und mit einem nachsichtigen Lächeln auf eure Geschichte blickt. Die wird sich einen Ast freuen, von dir zu hören! Ganz sicher, sogar!«