Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 17
Оглавление8 Aufbruch
Während ich diverse erklärende Briefe schreibe, warte ich auf den Kollaps. Ich reiße drei Fotos aus den Familienalben. Auf dem ersten sitzen Vati und ich gegenüber First Mum und meinem Bruder auf der Wippe. Auf dem zweiten nähe ich. Meine Giraffe hatte Halsweh und bekam einen Verband. Aus medizinischer Sicht ergibt das natürlich keinen Sinn und ich frage mich, warum Vati nicht gleich erzieherisch-korrigierend einschritt. Andererseits - egal. Auf dem dritten sieht man meinen Vater und seinen Bruder. Genau genommen mochte ich ihn nie sonderlich, auch wenn ich fast keine Erinnerungen an ihn habe. Aber mein Vater hat ihn unendlich geliebt. Als Ramona und er sich getrennt hatten, rettete Thomas ihm den Arsch. Wir sind komplett bei ihm untergekrochen: Arne, Vati und ich. Bis Ramona sich beruhigt hatte.
»Hella, du musst mitkommen«, sage ich bei unserem nächsten Treffen unter dem Dach. David wird schließlich nicht mitkommen, er glaubt, ich sei wahnsinnig geworden, insbesondere weil ich schon wieder von Trennung rede.
»Wohin?«, fragt Hella.
»Na, die Frau suchen. Die Frau, die mein Vater liebt. Oder geliebt hat. Ich glaub, er hat sie wiedergetroffen. Vor Kurzem. Auf einem Kongress. Vielleicht war er unglücklich ihretwegen oder weil er Sonia nicht das Herz brechen wollte und hat sich deswegen lieber fahrlässig umgebracht? Vielleicht hat er keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Sie weiß, was mit ihm ist. Sie weiß, ob diese Scheiße, die passiert ist, ein Unfall war oder Absicht oder Fahrlässigkeit.«
Hella schnalzt. In ihrer Stimme schwingt Unruhe mit.
»Friedemarie Arnhild …«
»Don’t call me Friedemarie Arnhild!«
»Glaubst du, das macht ihn wieder lebendig? Außerdem: Ich kann nicht mitkommen, Friede. Ich habe die Zusage. Jemand ist abgesprungen, ich werde nach Damaskus fliegen. Nächste Woche schon.«
Wir starren uns an. Keine bewegt sich. Ich atme. Ich vermute, Hella atmet auch. Ich furze aufgeregt ins Sofa. Hella legt den Kopf schief.
»Und überhaupt, Friede. Hast du jetzt nicht einen Vogel, um den du dich kümmern musst?«
Janis. O Janis! Sie klingt aufrichtig besorgt. Wusste gar nicht, dass ihr der Vogel so wichtig ist. Kurz überlege ich.
»Den nehme ich mit.«
Es ist Zeit. Ob mit Hella oder ohne. Ich ziehe das durch. Mutti und Mutti schütteln den Kopf und sagen, es sei kein guter Zeitpunkt, um zu verreisen. Es gebe noch so viel zu regeln: Nachlass, Abos abbestellen, Dankeskarten schreiben, sagt Ramona. Trauerrituale, sagt Sonia. Bei mir macht es nur error, error, error. Ich spüre Wut und Verzweiflung und Angst und weiß nicht, ob das ihre Gefühle sind oder meine.
Dieses Problem habe ich schon, so lange ich denken kann und vermutlich noch länger. Die Köpfe von gesunden Menschen befinden sich unter gläsernen, polierten Käseglocken. Sie können klar hindurch in die Welt blicken. Wenn es regnet, sehen sie etwas schlechter, sind aber immer gut geschützt. Wenn der Wind rauscht, hören sie ein Geräusch, scheren sich aber nicht weiter darum. Ihre Gedanken, Gefühle und ihre Wahrnehmung bleiben behaglich abgeschirmt und getrennt wie ein mittelalter Gouda vom Bergkäse. Nichts kommt durcheinander. Die Gedanken, Gefühle und Schwingungen eines Gegenübers nehmen sie wahr, ohne damit zu verschmelzen.
Mein Hirn hingegen ist Schmelzkäse unter einer halbdurchlässigen Membran. Alles diffundiert ungebremst hindurch, mitten in mich hinein. Es ist Fluch und Segen: Ob ich will oder nicht, ich besitze mehr Empathie als Mutter Teresa und Malala Yousafzai zusammen. Ich kann es nicht abstellen. Ich kann die Dinge – den Schmerz, das Leid der Welt – nicht nicht sehen. Diese Tatsache geht mit der gefühlten Verantwortung einher, etwas dagegen tun zu müssen. Ich will aber diese Verantwortung nicht, weder die Gabe noch die damit einhergehende Verpflichtung, habe nie darum gebeten. Ich kann schließlich nicht mal für mich selbst Verantwortung tragen. Das Einzige, was mir zum Schutz meiner Schmelzkäsemurmel von Kopf bleibt, ist die Betäubung. Und das Wegsehen, das Weggehen. Deswegen gehe ich. Sofort.
Tschüssikowski, sage ich meinen Müttern.
Ihrer beider Kraft reicht nicht aus, mir ernst zu nehmende Vorwürfe zu machen. David schüttelt den Kopf, doch seine Vorstellungskraft reicht nicht aus, um daran zu glauben, dass ich morgen nicht wieder da sein werde. Meine auch nicht. Doch das Ende deiner Vorstellungskraft ist das Ende deiner Welt, sagte schon mein Deutschlehrer. So oder so ähnlich. Hella trägt eine Bluse, als ich Tage später versuche, mich von ihr zu verabschieden. Hella trägt immer Blusen, wenn sie versucht, Dinge mit Fassung zu tragen. Blusen sind gewissermaßen ihre Fassung, die ihre Verfassung um- und überspielen und neurotisch zurecht gezupft werden. Zwei Koffer stehen geöffnet neben ihrem Bett. Ich verdränge das, aber Hella fliegt in den Nahen Osten. Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Sie gibt mir einen MP3-Player. Ich lache. So was habe ich ewig nicht gesehen.
»Soll ich da jetzt reinhören oder erst in der nächsten Vollmondnacht, wenn das Kaninchen an die Hyazinthen pisst?«
»Wann immer du mich brauchst.«
Ich sehe sie an. Mir schießen Tränen in die Augen.
Ich habe es mir ausgerechnet: Ramonas Kohle fürs Beerdigungs-Outfit reicht, um zwei Wochen lang alle zwei Tage in einen Zug zu steigen und fünf Stunden damit zu fahren. Natürlich habe ich sie nicht gespendet.
Dem Rest meiner Familie gegenüber behaupte ich also, eine Freundin in Süddeutschland zu besuchen, die ich aus dem letzten Italienurlaub kenne. So zur Ablenkung. Nur Arne sage ich die Wahrheit. Er sieht mich mit derselben fassungslosen Miene wie früher an, wenn ich ihm sein eigenes Spielzeug verkauft habe.
»Friede, es gibt keinen verdammten Anhaltspunkt, dass die Frau, von der Vati vor Äonen gesprochen hat, diejenige ist, die irgendetwas über ihn weiß. Wie kommst du also darauf?«
»Er hat auch neulich von ihr gesprochen.«
»Namentlich?«
»Nein.«
»Woher willst du dann wissen, dass es überhaupt um sie ging?«
»Ist so eine Intuition.«
Arne schnappt nach Luft. Kurz sieht er aus, als wollte er etwas zertrümmern. Dann atmet er buddhistisch aus.
»Wenn du Geld brauchst, sag Bescheid«, sagt er und zieht sein Portemonnaie aus der Arschtasche seiner Hose. Aber er holt etwas anderes heraus: einen plattgedrückten Penny mit Big-Ben-Motiv. Ich muss mich zusammenreißen, damit ich nicht erneut in Tränen ausbreche. Den hatte ich ihm mitgebracht, vor zwölf Jahren von meiner Klassenfahrt nach London. Er trägt ihn also seit einem Dutzend Jahren als Talisman bei sich. Arne umarmt mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich finde, das steht ihm nicht zu, weil das was Großgeschwisterliches ist und ich schließlich die Große bin, auch wenn er mich um einen Kopf überragt. Deshalb trete ich ihm zur Strafe kleingeschwisterlich vors Schienbein.
»Und warum nimmst du den Papagei mit?«, ruft er mir hinterher.
»Weil es eine Menge Entscheidungen zu treffen gilt«, sage ich ohne mich umzudrehen.
Kurze Zeit später sitze ich im Zug nach Berlin. Irgendwo muss ich ja anfangen. Um mich herum sitzen Menschen in meinem Alter, die aussehen, als wären sie meinem alten Französischbuch entsprungen: Hornbrillen, Hochwasserhosen, Trainingsjacken. Janis sitzt auf meiner Schulter und brüllt »Oooooh Looord!« durch den Zug. Ich frage mich, wie wütend sie ist. Ob sie nur trauert oder auch sauer ist. Und sie fragt sich, warum wir nicht im Mercedes Benz unterwegs sind. Ich falte eine Liste auseinander, auf der die Adressen der Anna Rittenlanzen stehen, die ich finden konnte. Google hat vier ausgespuckt.