Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 13
Оглавление4 Heiligabend
Am nächsten Morgen wachte Hella mit Kopfschmerzen auf. Sie hatte wüste Träume von Szenen in der Klinik gehabt, von den Streits mit Suse, und natürlich hatte auch Friede in den absurdesten Kontexten vor ihr gestanden, zwei reife Mangos grinsend in den Händen haltend. Hella hörte Rumoren in der Küche. Es war der vierte Advent und sie konnte davon ausgehen, dass ihre Mutter gerade Helenenschnitten buk, so wie immer. Eigentlich liebte sie Helenenschnitten, doch ihr Kiefer schmerzte entsetzlich. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht geknirscht und gepresst und versucht, das eine oder andere Thema für sich durchzukauen. Der Inhalt des Päckchens verfolgte sie wie ein Fluch. Sie war die letzten Wochen mehr oder weniger damit klargekommen auszublenden, was geschehen war, und hatte sich für einen klaren Cut entschieden, vielleicht sogar dafür, noch einmal völlig neu anzufangen. Womit auch immer. Sie hievte sich aus dem Bett und merkte, dass auch ihr Rücken schmerzte. Vielleicht war es die neue Matratze? Hella beobachtete sich im Geiste dabei, wie sie zum Tisch torkelte und den Stapel Papier in die Hand nahm. Sie spürte den Impuls, das in ausländisches Zeitungspapier eingeschlagene Skript, so wie es war, in den Müll zu schmeißen oder ein Feuerzeug daranzuhalten. Gleichzeitig verspürte sie einen vertrauten Sog. Friedes Sog. Schnaufend überflog Hella die ersten Zeilen, wurde übermannt von Wellen Neugier, die abgelöst wurden von Wut und einem unbestimmten Ekel. Dieser Text war toxisch. So, wie es die Beziehung zu Friede gewesen war. Hella ließ das Papier sinken und blickte in den Spiegel. Sie erwartete, ein angewidertes Gesicht zu sehen, doch sie sah absolute Ausdruckslosigkeit. Ein leeres Gesicht. Die durchschnittlich langen, durchschnittlich straßenköterblonden Haare waren zerzaust, das fahle Gesicht von einigen Hautunreinheiten gerötet, die grünblauen Augen trüb. Seit sie mit dem Fußball aufgehört hatte, fiel es ihr schwer, ihr Gewicht zu halten. Ihr Blick glitt hinaus zu den Bäumen, hinter denen der Sportplatz lag. Manchmal kam es ihr so unendlich weit weg vor, dass sie dort ihre gesamte Kindheit und halbe Jugend verbracht hatte, bis sie die sechsmal Training die Woche plus die Punktspiele am Wochenende nicht mehr mit dem Abi unter einen Hut bekam. Manchmal fragte sie sich, ob sie es nicht bis zur Nationalmannschaft gebracht hätte. Außerdem konnte man beim Fußball niemanden lebensgefährden. Zumindest waren ihr keine Fälle bekannt.
Sie griff nach Friedes Manuskript und stieg die Treppen hinab, dem Helenenduft entgegen.
Ihre Mutter blickte erstaunt.
»Schon wach?«
»Bin ja keine achtzehn mehr«, schnarrte Hella, ging schnurstracks zum Küchenkamin, den ihre Mutter nur noch zu besonderen Anlässen einheizte und versenkte mit dem Wimpernschlag eines Zögerns das Skript im Feuerschlund.
»Das ist nicht gut, so viel Papier zu verheizen, das weißt du doch«, sagte ihre Mutter. »Was war das? Deine Doktorarbeit?«
»So ähnlich. Alte Uni-Sachen. Wann gibt’s die Helenenschnitten?«
Hella fühlte sich schlagartig erleichtert. Losgesagt von diesem Fluch. Niemand konnte sie zwingen, sich mit all dem noch einmal auseinanderzusetzen. Schon gar nicht hier bei ihren Eltern. Erst recht nicht kurz vor Weihnachten.
»Ich hab keine gemacht«, sagte ihre Mutter und wandte sich dem Herd zu, auf dem sie bereits das Mittag vorbereitete. »Hab ein neues Rezept ausprobiert. Die ollen Schnitten habe ich doch nun wirklich fast dreißig Jahre gebacken, irgendwann ist ja auch mal gut.«
Hella entgleiste das Gesicht. Diese Tatsache besiegelte ihr Gefühl, von der Welt betrogen zu sein. Wenn am vierten Advent keine Helenenschnitten mehr gebacken wurden, war es amtlich: Dies war nicht mehr ihr Leben. Sie begann wütend zu weinen, ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken und vergrub den Kopf in den Armen, bis ihre Mutter unbeholfen ihren Kopf tätschelte.
Heiligabend hielt auch diesmal, was er jedes Jahr versprach. Vater schimpfte, weil die Nordmanntanne nicht gerade in der Halterung stand, Pauline motzte, weil sie kein Bleilametta am Baum haben wollte, egal wie säuberlich gekämmt und aufbewahrt. Zum Nachmittag trudelte Großmutter, die alle nur Babu nannten, aus dem Nachbardorf ein. Sie hatte darauf bestanden, selbst zu fahren, wo sie doch extra vor zehn Jahren erst ihren Führerschein gemacht hatte. Den müsse sie jetzt noch abfahren, sonst habe sich die Stange Geld nicht gelohnt.
Die Bescherung bestand aus einem höflichen Warenaustausch und Babu wartete nicht lange, bis sie damit herausplatzte, dass Weihnachten schließlich ein Fest für Kinder sei und ohne Kinder absolut sinnfrei. Hellas Mutter warf einen strengen Blick durch den Raum, den Babu registrierte und geflissentlich ignorierte. Hella dachte an Suse und wie diese wohl entweder mit ihrer Patchworkfamilie in Steglitz unterm Baum saß oder sich entschieden hatte, mit Hannes und Gusti irgendwohin zu fahren, um sich zu betrinken. Hella hätte alles getan, um dabei zu sein.
»Und das hier ist für dich«, sagte Pauline mit flackerndem Blick.
Skeptisch nahm Hella das Paket entgegen. Gewissenhaft knibbelte sie den Klebestreifen vom Papier, streifte es von einem alten Markenschuhkarton und lupfte den Deckel an, der einen amüsanten Ton von sich gab. Batterien. Kleine Batterien.
»Außerdem kam mit der Post noch ein Paket, wie neulich schon«, flüsterte Pauline ihr zu. »Ich hab es im Heizungsraum versteckt, damit Mutti und Vaddern nicht neugierig werden.«
Hella starrte ihre Schwester an, ob sie sie auf den Arm nehmen wollte. Keine Anzeichen. Die Musik aus dem Hintergrund wurde penetrant laut. Lustig, Lustig, traleralera. Beinahe hätte sie irre aufgelacht.
Hella lag auf dem Rücken in ihrem Bett und wartete seit drei Stunden auf den Schlaf. Identisches Paket, identische Postkarte. »He Hella, falls du dich endlich von dem ganzen Familienkram losgesagt hast und in trauter Pärchenwohnung dein Weihnachten fristest: Bei deinen Eltern wartet ein Päckchen auf dich. Damit du aber nicht stirbst vor Neugier, hier schon mal ein Haufen Text. Komm mich besuchen, am besten nach Neujahr!! Gruß Friede.« Und eine Adresse in Kerala. Und das Manuskript, allerdings eine knittrigere Version dessen.
Friedes Text war eine Hydra. Sie konnte ihn noch so oft verbrennen, er existierte. Vermutlich war er auf einem Laptop im Mango Hostel gespeichert. Und wenn er existierte, dann gab es diese Geschichte, ob Hella sie nun las oder nicht. Und wenn diese Geschichte niedergeschrieben war, hatte Friede sie erlebt, und egal wie sie es drehte und wendete, sie war ein wesentlicher Teil davon. Dann konnte sie die Desaster-Doku und all das, was über drei Jahre zuvor geschehen war, auch getrost lesen. Sie starrte auf die ersten Zeilen und seufzte.
»Hello Hella, habe ich diesen Text für dich geschrieben? Nein, natürlich nicht. Aber jetzt ist er da. Natürlich habe ich ihn für dich geschrieben! Von Anfang an und bis zum letzten Wort. Hier ist sie: die unverblümte Wahrheit und nichts als die Wahrheit über den Auf- und Niedergang der Friedemarie Arnhild Keller alias Friede, Fritte, Fritzi vor nun schon über drei Jahren. Bitte stellen Sie Ihre Rückenlehne waagerecht und genießen Ihre Bloody Mary!«