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3 Diskus und Diskurs

Hella konnte nicht mehr stehen und sie fragte sich, warum sie ausgerechnet diese Haltung für die Dreißig-Minuten-Pose eingenommen hatte. Klar, sie hatte ihnen etwas bieten, ihre Aufgabe herausragend gut machen wollen, so wie immer eben. Aber falls es jemals noch einmal dazu kommen sollte, dass sie nackt und regungslos vor fünfzehn stumm auf Papier strichelnden und wischenden Kunststudenten saß, dann nicht als Diskuswerferin. Der Schweiß troff an ihr herunter und ihr Gesichtsausdruck wurde verkniffen. Seit anderthalb Stunden stand sie nun hier oben und spürte nur noch hin und wieder in Wellen ihren Puls ansteigen.

Das war jedoch nicht mehr mit dem Anfangsmoment zu vergleichen, als sie unter Erstickungsgefühlen ihren Bademantel abstreifte und dachte, sie beginne jeden Moment zu weinen. Seit dem Seminar zur Sozialen Phobie hatte sie begriffen, wie groß ihre eigene Angst vor der Bewertung anderer war. Ganz oben auf der Liste stand, keine Fehler machen zu dürfen, keine Angriffsfläche zu bieten. Sie listete auch ihr Sicherheitsverhalten auf, das sie vor Demütigung und Schmach schützen sollte: Klamotten zwei Nummern zu groß tragen, damit niemand sah, wie viel sie seit dem Ende ihrer Fußballkarriere zugenommen hatte; kontinuierliches Lügen, warum sie nicht zu Partys ging, weil ihr die Angst, am nächsten Tag nicht genug leisten zu können, zu peinlich war. Ständig kontrollierte sie ihre Kleidung auf Faltenfreiheit um ein tadelloses Bild abzugeben. Nun hatte sie beschlossen, ihre fundamentalen Befürchtungen gemäß der verhaltenstherapeutischen Therapievorgaben systematisch einem Realitätscheck zu unterziehen, schließlich war das ihre Pflicht, so als angehende Expertin. Schon am Vorabend bezifferte sie feinsäuberlich alle zentralen Befürchtungen mit der Stärke ihrer Ausprägungen. Der Theorie nach konnten Angst und Anspannung nicht ins Unermessliche steigen, wenn man sie zuließ, sondern sanken irgendwann ganz von allein ab, wenn man nur lange genug in der Situation verharrte, ohne sich gedanklich abzulenken oder zu beruhigen. Das hieß Exposition und funktionierte mit Spinnen genauso wie mit Blankziehen vor Gruppen, so lautete zumindest die gegenwärtige Lehrmeinung, dachte sie.

In der Ecke des Raumes kicherte jemand. Erst war sie sich nicht sicher, ob ihr Verstand ihr einen Streich spielte, doch dann hörte sie es ganz deutlich. Sie verfiel in Schockstarre. Wurde sie ausgelacht? Wegen ihres Bauchspecks? Die Zeiten des Sixpacks waren lange vorbei, das wusste sie selbst. Die von Bänderrissen, Hotpants sprengenden Oberschenkeln und gebrochenen Nasen aber Gott sei Dank auch. Oder lag es an der Pose? Oder an den blauen Flecken auf dem Schienbein? Stopp Hella, ermahnte sie sich. Realitätsprüfung! Deswegen war sie schließlich hier! Vorsichtig versuchte sie ihren Kopf ein paar Zentimeter zu drehen, ohne die Pose zu versauen. Da saß eine Studentin in der Ecke, die Hella zu Beginn schon durch ihr Zuspätkommen negativ aufgefallen war. Weil alle Stühle besetzt gewesen waren, hatte sie laut und umständlich einen Stuhl vom Rand des Raumes über den Boden geschleift. Die, ging es Hella durch den Kopf, zerbrach sich auf jeden Fall keinen Kopf darüber, was der Rest des Seminars gerade dachte. Ein Funken Neid keimte in ihr auf. So gut es ging versuchte Hella, ein Bild von der Störenden zu bekommen. Busenlange, wellige Haare in Nussbraun umrahmten ein auffällig hübsches Gesicht. Nur mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Die Sonnenbrille, mit der sie in den Raum gekommen war, hatte sie sich nur kurz in die Haare geschoben und Hella hatte deutlich gesehen wie gerötet sie waren. Sie kicherte schon wieder, fixierte Hella. Über irgendetwas an ihr machte sie sich definitiv lustig. Hella spürte Hitze in ihr Gesicht steigen und die Angst, rot wie eine Hagebutte zu werden, stieg mit. Nun sahen vermutlich alle, dass sie nervös wurde. Sie konzentrierte sich darauf, sich zu beruhigen, spürte die Trockenheit in ihrer Kehle und musste schlucken. Die Hitze in ihrem Kopf wurde schlimmer. Schmerzhaft zog es nun auch in ihrem lädierten Knie und sie versuchte, das Gewicht unauffällig zu verlagern, was ihr mäßig gelang. Das Kichern wurde lauter.

»Noch fünf Minuten«, sagte Professor Grothe, der den Kurs leitete und an der langen Seite des Saales mit einer Tasse Kaffee gelangweilt über Unterlagen brütete. Die ersten Studenten rafften ihre Papiere zusammen und flüsterten ihm zu, sie müssten los, nächste Veranstaltung. Türen klappten. Aus der Ecke, aus der Hella eben noch Gekicher vernommen hatte, hörte sie nun Geflüster. Sprach die Nusshaarige in ihr Handy? Ein Schmerz schoss Hella so stark ins Kniegelenk, dass sie aufstöhnte und zusammensackte. Sie fing sich mit dem anderen Bein ab und blickte in dreizehn mit den Augen rollende Gesichter, die ihrerseits aufstöhnten. Alle. Bis auf die Nusshaarige. Die lachte diebisch und klatschte laut ihren Kohlestift aufs Papier.

»Okay, ich bin auch raus«, sagte einer aus der ersten Reihe mit Karohemd.

»Gut für heute«, stimmte sein Nachbar zu und ließ sein digitales Zeichenpad im Rucksack verschwinden.

»Gut, beenden wir’s für heute, das war vielleicht auch eine etwas zu ambitionierte Pose für die letzte Episode, nicht wahr, Frau Schmott?«, sagte Grothe lachend und stand auf. »Besten Dank Ihnen auf jeden Fall. Füllen Sie das Rechnungsformular aus und schicken es an unsere Sekretärin Frau Strich, ja? Und für alle, die Samstag beim fulminanten Jubiläum dabei sein werden«, er hob die Stimme, »seien Sie bitte ausnahmsweise pünktlich! Die Performance beginnt um acht und es wäre ein Skandal, wenn Sie mitten in die Darstellung platzten!«

Weg war er. Hella fühlte sich wie eine Idiotin. Griff nach ihrem Bademantel. Sie überlegte angestrengt, wie sie sich möglichst unbemerkt aus dem Raum stehlen konnte, bremste dann aber ihre eigenen Gedanken. Sie hielt dieses unangenehme Gefühl jetzt aus, deswegen war sie hier. Verdünnisieren gab’s heute nicht!

»Darf ich mal sehen?«, fragte sie deswegen tapfer drei Studentinnen in der ersten Reihe, die ihre Sachen gerade zusammensammelten.

»Sorry, ist nicht so gut geworden«, sagte die Erste.

»Ich bin leider nicht fertig geworden«, sagte die Zweite.

»Ist mir immer zu peinlich«, sagte die Dritte.

Leute!, dachte Hella. Ich tanze fast zwei Stunden splitterfasernackt vor euren Köpfen herum, lasse euch jede Delle analysieren und skizzieren, schinde meine Gelenke – und ihr macht euch Sorgen, weil ich einen Blick auf das Ergebnis werfen möchte? Das hätte sie gerne gesagt. Tat sie aber nicht, sondern nickte nur verständnisvoll.

»Hier«, rief die Nusshaarige von hinten auf ihrem Klappstuhl und drehte ihre Zeichenunterlage um, als präsentierte sie eine Gemüseauslage oder Ähnliches.

Zögerlich machte Hella einen Schritt auf sie zu. Das Bild war mit Kohle gezeichnet, zeigte sie in der letzten Figur, der Diskuswerferin. Sie erschrak, wie detailliert ihrem Gesicht trotz der verwischten Kohle Angst und Nervosität anzusehen waren. Wieder bemerkte sie Hitze aufsteigen. Ihr Mund wurde trocken.

»Zum ersten Mal heute?«, fragte die Zeichnerin.

Hella nickte.

»Mit Sportvergangenheit, was? Sieht man, sieht man. Wie heißt du?«

Sah man? »Hella«, murmelte Hella.

»Hello Hella! Und nun? Kunststudentin, erstes Semester?«

Hella schüttelte den Kopf und resignierte angesichts der Schmach, ihre Unsicherheit dermaßen zur Schau gestellt zu haben. Jetzt war sie sogar auf Papier festgehalten worden.

»Psychologiestudentin«, sagte sie. »Ich will Psychotherapeutin werden.«

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es lachend der Zeichnerin. »Angehende Seelenklempnerin. Um die Leute schnell wieder fein arbeitsfähig zu machen, wenn sie mal eine Auszeit brauchen, weil ihr Scheißjob sie auslaugt, ja?«

»Darum geht es doch gar nicht!«, empörte sich Hella und straffte die Schultern in ihrem Bademantel.

»Sondern?«

»Es geht darum«, rang Hella nach Worten, »gesund zu werden und Leute davor zu bewahren, sich das Leben zu nehmen.«

»Sollte das nicht jeder Mensch für sich allein entscheiden können, wann er keinen Bock mehr auf diese Welt hat, die sowieso vor die Hunde geht und die ohne ihn ohnehin besser dran wäre?«

»Suizid ist ein emotionales Bombenattentat auf alle Hinterbliebenen. Es sorgt dafür, dass das Leid noch größere Kreise zieht als ohnehin schon. Ein Akt der Verzweiflung, natürlich. Aber darüber hinaus auch eine Form von Gewalt gegen andere. Oder mindestens unfair. Ich verhindere es lieber.«

Die Nusshaarige zuckte mit den Schultern und raffte mit einer Bewegung ihre Sachen zusammen, die sie in einen Seesack stopfte. Dann nahm sie das Gespräch wieder auf: »Aber was heißt das schon: gesund? Wer legt das fest?«

Hella strich ihre Bluse glatt.

»Na jeder selbst! Es geht darum, ein Leben nach eigenen Zielen und Werten führen zu können und dafür Probleme zu überwinden«, beeilte sich Hella zu entgegnen und fragte sich allmählich, warum sie auf diese Polemik überhaupt einging.

»Süß«, sagte die Nusshaarige süffisant, ohne eine Miene zu verziehen. »Vergiss es, der Mensch ist eh nur ein Produkt seiner Gene und seiner Sozialisation und damit determiniert.«

»Was für ein kompletter Unsinn!« Hella zitierte Studien zum Beweis neurologischer Veränderungen nach Psychotherapie, sprach über Transzendenz und Wachstum nach Krisen und redete sich weiter in Rage. Ihr Plädoyer für eine Berufssparte, der sie noch gar nicht angehörte, endete mit dem Satz: »Und deshalb ist die Psyche des Menschen relativ frei!«

»Wow, große Worte!« Die Nusshaarige grinste. »Fast so schön wie ein Schulaufsatz im Ethikunterricht. Möchtest du vielleicht noch Rousseau oder Sartre in den Ring schicken? Halt, stopp, das ist ein Scherz! Bitte nicht. Willst’n Kaffee? Oder besser einen Kamillentee? Ich heiße Friede«, sagte sie immer noch amüsiert.

»So richtig Friede?«

»Nein, so richtig Friedemarie, aber komm nicht auf die Idee, mich so anzusprechen.«

Hella war nach wie vor empört, inzwischen war aber außerdem ihr sportlicher Ehrgeiz geweckt, Friede zu überzeugen. Kurz wog sie die Optionen gegeneinander ab.

»Ein Veggi-Döner wär mir lieber«, antwortete sie nun deutlich entspannter.

Friede lachte.

»Einmal vegetarisches Fleischdreieck für die Weltverbesserin, kommt sofort!«

Bei näherer Betrachtung erschien sie Hella wie die Hauptfigur aus einem französischen Film, den sie vor wenigen Tagen bei einer Kommilitonin aus ihrer Lerngruppe gesehen hatte. Im Anschluss war sie leicht verstört gewesen. Seelenklempner ist ein irreführender Begriff, dachte sie, bevor sie aufstand. Selbst wenn es so etwas wie die Seele gab, bestand sie nicht aus Rohren und führte Wasser. Sondern übermittelte elektrische Signale. Seelenelektrikerin. Hella kicherte.

»Ich komme aus der Landwirtschaft«, sagte Hella, als sie im Campuscafé in einen Burrito mit labbrigem Salat biss. Genau genommen stammten ihre Eltern beruflich aus der Tierproduktion, aber sie kam nicht umhin, sich ein Stück weit dafür zu schämen und bevorzugte es, diesen Fakt sprachlich zu verschleiern.

»Mein Fleischbedarf ist deshalb bis ans Ende meiner Tage gedeckt«, fügte sie an.

Wieder musste Friede grinsen.

»Hast du jetzt eine halbe Stunde über meinen Kommentar von vorhin nachgedacht? Deine Essgewohnheiten sind mir mindestens so egal wie die Lottozahlen! Erzähl mir lieber«, Friede sah sich auf dem Campus um, als könnte jemand sie mit Hella zusammen sehen und als wäre das etwas, was dringend zu vermeiden wäre, »was deine Zunft so bei Persönlichkeitsstörungen veranstaltet.«

Eine sehr konkrete Frage, wie Hella fand. Spannend. Da hatte jemand wohl schon einmal Kontakt mit der Materie.

»Persönlichkeitsstörungen gibt es nicht«, antwortete sie. »Im Rahmen meiner Abschlussarbeit habe ich mich mit nichts anderem mehr beschäftigt.« Sie leckte sich die Finger ab. »Man kann nicht in seiner Persönlichkeit gestört sein. Man kann gestört sein und eine Persönlichkeit haben. Und selbst da gehen die Meinungen auseinander.«

Hella griff nach einem Gewürzstreuer. Friede taxierte sie.

»Was meinst du damit, da gehen die Meinungen auseinander?« Plötzlich hatte sie etwas Lauerndes.

»Es gibt auch Wissenschaftlerinnen, die davon ausgehen, dass alles Resultate aus den Lernerfahrungen unserer Vorfahren und uns selbst sind. Deshalb sind alle Seiten an uns veränderlich und neu verhandelbar. Es gibt dann nur Anteile in uns, die sich an besondere Situationen anpassen mussten. Wenn neue Erlebnisse alten ähneln, wird das gleiche Handlungsmuster abgespult, unbewusst. Dann fühlen, denken und handeln wir wie in der ursprünglichen Situation.«

»Sag mal, ist dir eigentlich klar, dass das Chili und kein Paprikapulver ist?«

»Natürlich.«

Ehrfürchtig riss Friede die Augen auf.

»Okay. Aber das steht doch sogar bei Wikipedia, das mit den Persönlichkeitsstörungen?«

Hella nickte und konnte sich gleichzeitig ein Augenrollen nicht verkneifen.

»Ja, es gibt den Begriff, und der wird immer noch verwendet, aber er ist historisch bedingt und die neue Sichtweise noch nicht in der breiten Masse angekommen. Dahinter stecken meistens frühe Traumatisierungen. Sehr frühe. Und wenn dich jetzt interessiert, was ein Trauma ist: Darüber zanken die Großen der Wissenschaft.«

»Nö, das interessiert mich null.«

Friede schlürfte laut Kaffee. Hella glotzte sie kurz an. Dann kehrte sie zu ihren Ausführungen zurück.

»Meine bevorzugte Definition ist die der unvollendeten biologischen Reaktion: Wenn das Nervensystem so überwältigt wird, dass es uns nicht mehr in Sicherheit bringen kann, hängen wir in der Immobilität fest, im Shutdown, so einer Art Totstellreflex. Da von der Stresstoleranz und dem Reifegrad des Systems abhängt, wann dieser Totstellreflex eintritt und ob man allein wieder rauskommt, ohne emotional steckenzubleiben, ist individuell höchst unterschiedlich. Bei kleinen Kindern ist es noch nicht fertig ausgebildet, das Nervensystem. Es reift in den ersten drei Lebensjahren durch das spiegelnde Verhalten der Mutter beziehungsweise anderer primärer Bezugspersonen – im Optimalfall. Und wenn nicht, ist es im Laufe des Lebens immer noch dazu in der Lage, wenn auch langsamer. Hopfen und Malz sind nie verloren. Also, wer hat behauptet, dass du persönlichkeitsgestört bist?«

»Wer redet denn hier von mir?« Friede knallte ihre Tasse auf die Tischplatte. »Mein Ex«, fügte sie dann so cool wie möglich an, »hat mich Borderlinerin genannt. Verfickte Borderlinerin.«

Hella atmete tief durch. Offensichtlich hatte sie den skeptischen Fisch am Haken.

»Und woran hat er das festgemacht?«

»Ich hab ihn feiges Würstchen genannt, ihn beschimpft, seine SMS gelesen und ihm eine Szene nach der anderen gemacht, wenn er Dinge unabhängig von mir tun wollte. Immer wenn er gesagt hat, er hält das nicht mehr aus, habe ich ihm einen geblasen. Da ist er aber schnell hintergestiegen und wollte das partout nicht mehr. Dann habe ich ihm damit gedroht mich umzubringen und ihm klargemacht, dass das dann seine Schuld wäre.«

Hella beschloss, von Friedes sprudelnder Offenherzigkeit komplett unbeeindruckt zu bleiben.

»Aha. Ich habe so eine Idee, wie er auf die Borderline-Nummer kommt. Aber lass dir gesagt sein: Persönlichkeitsstörungen gibt es nicht. Alles reparabel!« Genau genommen lehnte sie auch das Wort »Störung« ab. Wer oder was störte denn wen oder was? Es handelte sich um Erkrankungen. Behandelbare Erkrankungen. Die wenigsten davon so chronisch, wie in den Krankenhäusern behauptet, und jedes Trauma verhandelbar.

Friede nickte, zündete sich einen Joint an und sagte leise: »Aha. Aha, aha.«

Hella machte eine Pause. Pauline hatte an den Stellen der Geschichte, die ihr besonders wichtig vorkamen, brav genickt, denn Hella machte das auch immer so.

»Das Letzte, was ich von Friede gehört habe, war, dass sie vor drei Jahren nach einem Trip durch die halbe Republik ins Ausland gegangen ist.«

Das Detail mit dem Selbstmordversuch, an dem sie sich die Schuld gab, unterschlug sie. Das würde Pauline nicht verstehen. Das verstand sie selbst bis heute nicht. Das Letzte, was sie von Friede gehört hatte, war ihr schließlich nur von deren Bruder Arne übermittelt worden: »Hella hat Scheiße gebaut. Richtige Scheiße.«

Hella stellten sich die Haare zu Berge. Sie wusste nach wie vor nicht, worauf genau sich Friede damals bezogen hatte – ihre dilettantischen Therapieversuche? Ihren Aufenthalt in Damaskus? Bevor Friede aufgebrochen war, hatte Hella ihr geraten, ein paar ihrer Gedanken zu notieren. Um sich zu sortieren. Und nun hatte sie ein Paket erhalten. Mit einem MP3-Player, auf den Hella ihr damals alle Amateur-Therapiegespräche gespielt hatte. Die regelmäßige Wiederholung von Sitzungen diene der tieferen Verarbeitung, hatte sie gelesen. Der pädagogische Aspekt von Therapie würde häufig vernachlässigt, hatte sie gelernt. Die therapeutische Beziehung sei das A und O und solle stets im Blick behalten werden!

Ein Smartphone hatte Friede nie besessen – aus Paranoia. Deshalb hatte Hella mühsam alle Audiospuren der Videoaufnahmen extrahiert. Nun gab es diesen Stapel Text, der vermutlich das ganze Desaster verschriftlicht enthielt, das weiter seinen Lauf genommen hatte, nachdem Hella schon keine physisch anwesende Protagonistin in Friedes Geschichte mehr gewesen war. Dem Zimt maß Hella keine Bedeutung bei. Vorerst.

»Und jetzt fliegst du nach Indien?«, fragte Pauline aufgeregt, als Hella mehrere Minuten schon nichts mehr gesagt hatte.

»Was? Nein, natürlich nicht! Niemals würde ich mich in ein Land begeben, wo man sich an jeder Hausecke Bakterien holt, die Medizinstudenten nur in Wahlpflichtkursen besprechen. Selbst wenn ich das Geld hätte …, das ich nicht habe.«

Pauline öffnete den Mund zum Protest, wurde aber von einer Vibration in ihrer Hosentasche abgelenkt. Wie eine Irre grinste sie auf ihr Telefon und sagte: »Du, Xavi hat geschrieben. Er holt mich mit dem Auto ab.«

Nun blickte Hella ihre Schwester an, als begriffe sie erst jetzt, mit wem sie da eigentlich redete. Kurz überlegte sie zu fragen, seit wann denn Xavi seinen Führerschein habe. Dann nickte sie nur und sagte: »In Ordnung. Hau ab! Und: Kein Wort zu den Eltern. Das verstehen sie alles nicht.«

Pauline, die sich auch nicht sicher war, ob sie irgendetwas verstanden hatte, nickte, sprang auf und quatschte schon in ihr Telefon, ehe sie die Tür hinter sich zuzog. Hella nahm einen tiefen Atemzug. Sie fühlte sich etwas anders.

Besser, irgendwie. Nahezu ein bisschen erleichtert. Sie lachte selbstironisch auf. Nicht dass sie noch zu der Einsicht gelangte, dass Redekur bei Seelenleid helfen könne. Einen Moment überlegte sie, nach Friedes Text zu greifen. Dann entschied sie sich dagegen und ging gründlich Zähne putzen.

Hockstrecksprung

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