Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 18

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9 Dickes B

Der Hauptbahnhof von Berlin erinnert mich auch an mein Hirn. Auf mehreren Ebenen fahren Züge ein, die mal mehr und mal weniger miteinander zu tun haben, irgendwoher kommen und irgendwohin gehen. Mittendrin Gewimmel und Stimmen und Geräusche und Farben und Hektik. Manchmal quietscht es laut, sodass ich mir die Ohren zuhalten will. Ich habe einen Rucksack dabei, der zum größten Teil mit meinen Lieblingsdessous verschiedener Kollektionen von First Mum gefüllt ist, weil sie mir ein Gefühl von Zuhause geben. Einen Brustbeutel mit ihrer Kohle trage ich um den Hals unter meinem T-Shirt. Wie ein Schulkind. Schön wäre auch so eine Kordel mit Schlüsselbund oder eine Zahnspangendose in Apfelform mit Essensresten zwischen den Stellschrauben der Zahnspange. Oder diese hässlichen Kinderbrillen mit bunten Rahmen, die wiederum mit bunten Bändseln – Gugelhupf. Mein Stopp-Wort für Gedankensprünge.

Wo will ich hin? Ich stelle mich vor die Zeitanzeige und ziehe den Zettel aus meiner Hosentasche. Ich brauche jetzt eine Art Konzept. Süden, Osten, Westen? Janis gibt schrille Töne von sich, die mich an eine Dampflok erinnern. Auf meiner Liste stehen Bremen, Marburg, Wien und ein Kuhkaff kurz vor Polen, in der Nähe von Greifswald. Alles nicht gerade um die Ecke. Sinn ergäbe links rum oder rechts rum, das wäre ökonomisch. Oder so etwas Ähnliches. Neben mir wird auf einem Werbeschild für einen Spar-Hit geworben: Nachtzug nach Wien über Dresden und Prag. Greifswald ist von hier viel näher. Ich kann mich nicht entscheiden, rattere die Optionen immer wieder im Kopf durch. Dann schmeiß ich eine Münze, die Janis artig fängt. Zahl. Gleichzeitig reißt sie den Kopf in eine Richtung und wippt aufgeregt.

Ich schaue in die Richtung, die sie aufregt. Neben einem Pfeiler liegt in eine Jacke gewickelt ein Mann, der schläft. Drei Jugendliche schleichen um ihn herum und tuscheln. Einer gnatscht auf einer Bockwurst herum, der Grund für Janis’ Aufregung. Die Typen schubsen sich gegenseitig auf den Bodenschläfer zu. Einer versucht ihm die Flasche wegzuziehen, die der Mann mit engem Griff umklammert. Er zuckt und öffnet ein Auge, presst die Flasche dichter an sich und stößt einen ächzenden Laut aus. Dann fällt er wieder in unruhigen Schlaf. Einer der Bengel zieht eine E-Zigarette aus der Tasche. Wo sind denn hier die Sicherheitsmenschen? Ich blicke mich um, ob noch jemand außer mir beobachtet, was dort vor sich geht. Nein. Immer auf die Schwachen, ihr Idioten! So funktionieren Menschen nämlich. Da ist einer schon am Boden, krepelt herum wie ein geschwächtes Tier und schon werden alle zu Piranhas. Der da, der sich nicht wehren kann, der kriegt jetzt auf den Sack! Kenn ich. Aus der Grundschule. Kinder wittern drei Meilen gegen den Wind, mit wem man es machen kann. Der Bengel schraubt an seiner Elektrofluppe herum. Sein Kumpan dreht vorsichtig den Schraubverschluss vom Wodka ab.

»Sagt mal, seht ihr noch klare Bilder, oder was?«

Ich rausche auf sie zu, Janis spreizt die Flügel.

»Verpisst euch sofort oder ich rufe die Bullen!« Besonders glaubwürdig bin ich nicht. Sie bekommen einen Lachanfall, schmeißen aber vor Schreck ein Feuerzeug weg. Dann springen sie in die nächste Bahn, nicht ohne mir den Mittelfinger zu zeigen.

»Mädchen, was bölkst’n hier so rum?«, lallt der Schläfer und beäugt mich. Er stinkt selbst aus einem Meter Entfernung nach Fusel. Ich stecke das Feuerzeug ein. Gutes Zippo.

»Tschuldigung«, sage ich.

Er setzt die Flasche an.

»Halt!«, brülle ich ihn an. »Das ist giftig!«

»Ja, aber mein Körper ist den Billigfusel gewöhnt, mach dir keine Sorgen, Mädchen.«

»Nein, Ihnen wurde da gerade was reingetan!«

Der Alte sieht mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Vielleicht fragt er sich, wer von uns beiden im Delirium ist. Ich krame zwischen meinen Brüsten herum und befördere meinen Brustbeutel zutage. Mit einem Fuffi wedele ich ihm unter der Nase herum.

»Hier. Sie können sich eine neue Flasche kaufen, wenn Sie mir die da geben. Gönnen Sie sich mal was Edles. Jelzin ist doch eine Zumutung.«

Zögern.

»Ehrlich! Nehmen Sie das Geld, geben Sie mir die Flasche!«

Er hält mir die halbleere Buddel hin und greift mit vergilbten Fingern nach dem Schein.

»Passen Sie auf sich auf«, sage ich und gehe.

»Pass lieber auf dich auf, Mädchen«, sagt er und lacht. Er schüttelt den Kopf. Stiert zwischen meine Brüste. Ja, da gibt es mehr davon, aber nun ist gut, Nimmersatt! Ich bedeute ihm mit dem Finger sich umzudrehen. Er schüttelt den Kopf. Dann dreht er sich tatsächlich um und pennt weiter. Mein Herz wummert.

Das war aufregend. Wellen von Adrenalin gehen durch meinen Körper, nur habe ich das Gefühl, dass sie nicht wieder versanden, sondern sich aufschaukeln und dann irgendwo einrasten. Wellen, die einrasten. Ich lache. Jeden Tag eine gute Tat, Friede, denke ich und klopfe mir innerlich auf die Schulter. Den habe ich gerettet, finde ich, und schaue nach links und nach rechts in die Gesichter der Vorbeiströmenden, ob jemand meine Heldentat mitbekommen hat. Ich stelle mir vor, wie sich ein ganzer Ring von Menschen um mich versammelt und applaudiert und wie eine Sprecherdurchsage mein zivilgesellschaftliches Engagement lobt, daran solle man sich ein Beispiel nehmen. Doch nichts dergleichen passiert.

Schuhe. Ich sehe sie aus den Augenwinkeln in einem Schaufenster. Wenn mich schon keiner belobhudelt, dann muss ich mich wohl selbst belohnen.

»Wollen Sie noch einen Moment weiterschauen?«, fragt mich die Schuhfachverkäuferin, als ich nach einmaligem Probieren sage: »Die nehme ich.«

Dreimal hat sie sich vergewissert, ob Janis auch wirklich artig auf meiner Schulter sitzen bleibt, eigentlich seien Haustiere ja verboten im Geschäft. Glattleder aus Italien, elastisch und bequem – genau so etwas brauche ich für meine bevorstehende Reise. Ich schüttele den Kopf.

»Nein, die sind perfekt.«

»Brauchen Sie noch ein Reinigungsmittel dazu?«

»Klar«, sage ich.

»Pflegecreme?«

»Pflegecreme kann man nie genug haben.«

Die Verkäuferin ist sehr freundlich. Sie packt alles in eine Tüte und strahlt über das ganze Gesicht.

»Soll es noch diese spezielle Gel-Einlegesohle sein, die sich genau Ihrer Fußform anpasst? Die haben wir gerade im Angebot.«

»Klingt fancy, schmeißen Sie die auch mit rein«, sage ich und strahle ebenso freundlich.

»Bar oder mit Karte?«

»Hab keine Karte, Konto ist leer, bitte bar!«

Ich lache. Sie zögert einen kleinen Moment. Mustert mich. Dann nickt sie.

»Wie Sie wünschen. Das macht dann genau zweihundertsechsundneunzig Euro.«

Na so ein Glück!, denke ich und fummele dreihundert Tacken von Ramona aus meiner Brusttasche.

Meine Turnschuhe schmeiße ich direkt vor dem Schuhladen in den Müll, dann bewege ich mich eine Treppe aufwärts. Wohin eigentlich? Ich bin überfordert.

»Janis, was machen wir jetzt?«, frage ich den Papagei.

Was essen, sagt Janis. Du hast den ganzen Tag nichts gegessen. Ich hole aus meiner Tasche Studentenfutter und biete Janis eine Handvoll an. Dann schaue ich mich um. Die üblichen Verdächtigen reihen sich zu einer Perlenkette kulinarischer Widerwärtigkeiten rings um mich auf. Ich finde mich mit einer Tüte Quarkbällchen auf den Stufen vorm Bahnhof wieder. Janis hat ein paar Runden gedreht und streitet sich nun mit Tauben um ein paar Körnchen. Erschöpfung macht sich in mir breit. Ich höre ein dünnes Piepen im Ohr und umarme es, ehe es lauter werden kann. Als Antwort taumeln graue Punkte vor meinen Augen und tanzen mit, wohin ich auch den Blick wende. Hallo, liebe Punkte. Schön, dass ihr auch wieder da seid. Ich weiß eure Anwesenheit sehr zu schätzen.

Eine vertraute, sumpfige Lähmung überkommt mich. Die Stufen unter mir werden kalt. Die Stimmen um mich herum dumpf. Die Gedanken langsam. Das Schlucken wird schwieriger. Was macht First Mum gerade? Wie wütend ist sie über mein Verreisen? Und David? Packt er meine Sachen in Kartons oder bezieht er die Bettdecke mit meiner Lieblingsbettwäsche, in der Hoffnung, ich stehe morgen wieder in der Tür? Schmerz, lass nach! David, Sehnsucht. Sonia. Ist Sonia zu ihrem gestörten Sohn nach Bonn gefahren, um sich von ihm die Verspannungen aus der Nasenwurzel massieren zu lassen, in kleinen konzentrischen Bewegungen? Oder hat sie direkt wieder mit dem Koksen angefangen? Und wie sehr hätte ich all das verhindern können, verhindern müssen? War ich nicht die Einzige, die das Ausmaß von Vatis Unzufriedenheit erahnt hat? Friede! Vielleicht war es einfach nur ein Unfall, hallt Hellas Ermahnung in meinem Kopf wider.

Eine Stunde sitze ich reglos dort, vielleicht auch zwei, vielleicht nur zehn Minuten. Ich suche nach meinem Lieblingspullover, einem schwarzen Kapuzenpulli von David. Hellas MP3-Player liegt obenauf. Ein Anachronismus. Er sagt Hello, als ich ihn einschalte. Batterien voll, klar. Drei Alben von den Dresden Dolls, auch klar. Bisschen Tool, bisschen Modeselektor, bisschen Mingueo. Joa, hätte ich ihr auch raufgepackt. Und ein Album namens »Dachgespräche«. Hm. Play.

»Schneidet das jetzt vernünftig mit?«

»Ja.«

»Bist du dir sicher?«

»Klar, nun sprich!«

»Ah, okay. Wenn ich jetzt hier draufdrücke, dann ka…«

»Fritte, ich glaube, Hella kriegt es jetzt allein gebacken – pass auf dich auf!«

Mir schießen die Tränen in die Augen. Das ist Suses Stimme. Hellas neue romantische Zweierbeziehung. Hab sie nur einmal eher zufällig getroffen. Sie tut Hella gut, wenn sie mal wieder einen Stock im Hintern hat, weil Dinge sie nervös machen.

»Hey Friede!«, sagt Hella. »Wahrscheinlich sitzt du gerade in irgendeinem schlecht belüfteten Zug und die Landschaft zieht an dir vorbei. Vielleicht liegst du auch in einem rumpeligen Schlafwaggon nach Süden. Irgendwo schreit eine Mutter ihr Kind an und du würdest ihm gerne erzählen, dass es ihr in wenigen Jahren alles zurückzahlen wird, oder? Und der Typ neben dir hat gehörig Körpergeruch, sodass du ihn nicht mal in stillen Minuten tiefster Langeweile achseln würdest.«

Nein, denke ich. Ich sitze auf einer zugigen Steintreppe in Kack-Berlin und warte auf mein Sparangebot. Aber schön, dass du auch hier bist.

»Was auch immer du gerade tust, du realisierst, dass du alleine bist.«

Hella trägt mit ihrer liebevollen, aber penetranten Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Stimme vor. Mir geht das Herz auf.

»Vielleicht fühlst du dich gerade sehr einsam und verlassen, aber das bist du nicht. Ich bin auch bei dir. Und der gesunde, erwachsene Anteil in dir ist sehr stark und auch bei dir – auch wenn du ihn gerade schlecht spüren kannst. Damit du ihn nicht vergisst und damit du siehst, was du alles schon geschafft hast, anbei unsere Sessions unterm Dach. Und du weißt ja: Es wird eh viel zu wenig in Therapien wiederholt. Es geht also um die Erfolge und Durchbrüche, die wir zusammen hatten, die du hattest, vergiss sie nicht! Klar, es geht auch um Liebe und Todfilter und gesprungene Käseglocken. Es geht um überstandene Sachen. Du hast schon gewonnen, und deinen Gewinn wirst du nicht leichtfertig verspielen, stimmt doch, oder?«

Liest sie das gerade ab?

»Also wie gesagt: Hör dir an, wie viel Kraft du hast, was du kannst und wie widerstandsfähig du bist. Unsere gemeinsame Geschichte beginnt dort, wo alle Geschichten beginnen. Wie neugeboren habe ich deiner Meinung nach in der Geburtsstunde unseres Miteinanders ausgesehen: nackt, frierend und verstört. Ich bin sehr froh über den Weg, den wir gemeinsam bis hierher gegangen sind. Und ich freue mich auf die weitere, noch folgende Strecke. Durch gezielte Anwahl der entsprechenden Kapitel gelangst du nun in ein ganzes Menü von Erfolgserlebnissen deines Seins. Thanks for travelling with Deutsche Bahn, Ihre Hella von und zu Klugscheißer.«

Oha, denke ich. Das kommt überraschend. Ich weiß nicht, ob ich mich dem Scheiß noch einmal aussetzen will. Einmal: okay. Ein zweites Mal: Warum sollte ich das tun? Dafür brauche ich mehr Komfortzone. Ich habe Angst. Vor den Aufnahmen, vor der Wahrheit (wenn ich sie denn finde) und davor, sie nicht zu finden. Ich habe Angst davor, beobachtet zu werden, wie ich hier sitze und totally lost bin und ich habe noch mehr Angst davor, umzudrehen und heimzukommen, um zu realisieren, dass dort nichts so ist, wie es sonst ist, wenn ich irgendwoher heimkomme. Mich fröstelt und ich rücke der untergehenden Sonne hinterher beziehungsweise fliehe vor dem expandierenden Schatten. Aber mein Blick nimmt wieder mehr wahr als einen kleinen Kegel direkt vor meinen Augen. Die Enge in der Brust nimmt umso stärker ab, je mehr mir Hellas Stimme durch den Kopf geht. Ich bekomme langsam wieder Luft, die hier nach Straßenverkehr und Currywurst riecht. Janis zwickt mich ins Ohrläppchen, sie riecht die Currywurst nämlich auch. Chapeau, Hella! Langsam komme ich wieder auf die Beine. Du kriegst, was du willst. Ich komm zurück; nicht zu dir, aber zu mir. Die Energie deiner Stimme erweicht meinen verrosteten Eisenkörper und bewegt mich steif und behäbig zur nächsten Anzeigetafel.

Hockstrecksprung

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