Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 20
ОглавлениеTake 1
»Sitzung Nummer eins, dritter Erster im Jahr der Zitronenpresse, jetzt auch für Sie da draußen die absolute Therapiepremiere von und mit Hella von und zu Klugscheißer und später auch als Mitschnitt für Youtube«, höre ich mich deklamieren. Ich sehe die Szene sofort vor mir. Hella stand hinter der Kamera und versuchte, die optimale Einstellung zu erwischen, während ich auf dem speckigen roten Sofa herumfläzte, das wir auf dem Sperrmüll gefunden und in das Zimmer unter dem Dach getragen hatten, in das alte Büro von Ramona alias First Mum.
Hella protestierte zaghaft, während sie weiter am Stativ an Schräubchen drehte.
»Also Premiere ist jetzt nicht das richtige Wort, wir haben auch im Seminar schon so Sequenzen geübt. Außerdem nix Youtube. Das ist nur für mich! Also, Friede. Du hast mich ja gebeten, heute herzukommen, weil du sagtest, du hättest immer wieder Probleme in deinen Beziehungen, richtig? Bevor wir näher darauf eingehen, würde ich gerne gründlich abfragen, in welchen Bereichen du außerdem belastet bist, damit uns auch nichts entgeht. Dafür habe ich mir dieses Interview aus der Institutsbibliothek ausgeliehen. Es dauert ungefähr zwei bis vier Stunden.«
»Nicht dein Scheißernst«, höre ich mich sagen.
Richtig, Hella kramte diesen enormen Stapel Papier aus ihrem Sportrucksack hervor, und ich habe kurz gedacht, sie mache einen schlechten Scherz. Machte sie aber nicht.
»Das ist wichtig, damit wir genau erfassen können, wo der Hase im Pfeffer liegt!«
»Kannst du knicken. Außerdem weißt du doch schon, was mein Problem ist. Typen sind mein Scheißproblem, ich will nur wissen, wie man es löst, wenn du schon behauptest, dass es Lösungen gibt.«
»Wow! Deine Reaktanz ist noch viel größer, als ich dachte.«
Ich erinnere mich, wie Hella den Stapel sinken ließ.
»Meine was?«, fragte ich.
»Dein Trotz. Okay, so einfach ist das nicht. Wir brauchen erst einmal eine Arbeitsgrundlage!«
Ich höre mich herummosern: »Und ich dachte, du machst jetzt mal einen Trick? Bevor ich hier mitarbeite, musst du mir erst mal beweisen, dass der ganze Kram etwas bringt!« Ich muss schmunzeln. Ja, das klingt nach mir.
»Okay Friede. Wie du meinst. Ich nehme wahr, dass du stark mit dem Bein hippelst. Vermutlich machst du das nicht nur jetzt, sondern ziemlich häufig, stimmt’s? Ich glaube, es ist gut, wenn du erst einmal lernst, dich zu entspannen. Nichts ist dafür so wichtig wie das Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden. Deswegen möchte ich jetzt mit dir einen Wohlfühlort erfinden. Hast du schon mal meditiert?«
»Nein.«
»Yoga gemacht?«
»Nein.«
»Okay, hast du Fantasie?«
Hella wird eine Nuance energischer.
»Mehr als genug«, sagte ich grinsend.
»Gut. Dann schließ doch mal deine Augen.«
»Häh?«
»Du willst doch einen Trick. Also werde ich jetzt eine kleine Fantasiereise mit dir machen. Dafür kannst du einmal deine Augen schließen.«
»Auf gar keinen Fall!«
»Oder du fixierst einen Punkt im Raum und lässt die Augen dort ruhen, einverstanden? Das geht auch.«
Hella sprach von einem Ort in meiner Vorstellungswelt, den ich erschaffen sollte. Dies war ein Ort, den nur ich betreten konnte, der geschützt war durch eine tatsächliche Begrenzung oder eine unsichtbare Kuppel. Alles ließ sie mich an diesem Ort erfinden. Ein Plätzchen zum Sein, Gerüche, Farben, Struktur. Ich kreierte ein Segelboot mit Hängematte unter einer Zauberkugel, Cocktails und eine warme Sommerbrise bei angenehmem Wellengang. Ich schmeckte Obstsaft mit Rum auf meiner Zunge, während die Sonne meinen Rücken wärmte und ich aufs glitzernde Wasser blickte. Das Geräusch des Bootes, wenn es wieder auf das Wasser klatschte, beruhigte mich wie ein Kinderlied. Während der Zug unter mir monoton dahinzuckelt, taucht mein Wohlfühlort in meinem Kopf auf.
Ich spüre wieder die langsame Bewegung der Hängematte unter mir, das sanfte Schaukeln, höre quasi das Knarzen der rauen Seile in der Aufhängung meiner Matte. Ich rieche beinahe das frische Meer, das Salz und eine fischige Note. Seetang.
Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht, meine Lippen. Es wird heiß auf meinen Wangen. Eine Möwe schreit. Und nur noch in der Ferne höre ich Geräusche, die nicht an diesen Ort gehören.