Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 14
Оглавление5 Sommersonnenwende
Die kürzeste Nacht des Jahres. Der Himmel wird seit Tagen nicht richtig schwarz, sondern behält so einen zarten graublauen Schimmer. Der späte Mai und der frühe Juni – sie kreischen mich an, sie blenden mich! Sie rennen mich einfach über den Haufen. Seit Wochen bin ich übermüdet, weil mein Hirn solarbetrieben wird. Mit dem ersten Dämmerlicht wird es gegen drei Uhr angeknipst und spätestens ab vier ausgeleuchtet wie eine Lagerhalle für Chaos. In mannshohen Regalen purzeln dort Ideen für die Ausstellungseröffnung durcheinander. Daneben stapeln sich Aufgaben, die noch für die Masterarbeit erledigt werden müssen, zwischendrin fliegen Puzzleteile des letzten unausgesprochenen Konflikts mit Ramona, meiner biologischen Mutter, umher. In meiner Familie wird Nähe hergestellt, indem man gemeinsam andere abwertet, und auch darin ist sie die Königin. Sie ruft mich Mittwoch an und kotzt sich über meinen Bruder aus, der zu viel kiffe und sein ganzes Potenzial verschleudere. Dafür habe sie ihm schließlich nicht die teuerste Privatschule der Region bezahlt, sondern damit er mal in die Wirtschaft oder Politik gehe.
»Ich kiffe auch zu viel«, sage ich, um nicht auf ihr Angebot einer Lästerallianz einzugehen.
Daraufhin ruft sie meinen Bruder an und beschwert sich, dass aus mir nie etwas werde und ich dieses Studium ohnehin nur machen konnte, weil ihre Designerin meine Bewerbungsmappe zusammengeschustert hat, damals vor fünf Jahren. Tatsächlich ist es die Wahrheit. Dass ich nicht mit Geld umgehen kann, ist auch die Wahrheit. Deswegen rückt Ramona die mir zustehende Kohle von einhundertsechsundachtzigtausend Euro erst raus, wenn ich diesen Abschluss in der Tasche habe – mit Bestnoten, versteht sich. Ich tue gerne so, als wäre mir all das egal, überspiele es mit Großkotzigkeit, Zynismus und hochgeschlitzten Kleidern zu besonderen Anlässen. Dass ich in Wahrheit jeden Tag aufs Neue vor Versagensängsten sterbe, mich deswegen des Nachts im Bett herumwälze und Magenbeschwerden habe, ist mein Geheimnis. Und ich tue alles dafür, dass das auch so bleibt.
Also mein Hirn, die Lagerhalle. Überall werden Gedanken an- und abtransportiert: Zukunftsvisionen und Hoffnungen (eigenes Atelier, international gefeiert, verruchter Sex mit Galeristen, gleichzeitig natürlich Familie mit David, mindestens vier Kinder), Ängste und Sorgen (Kommen die rumänischen Trachten von Oma Suzana bis zur Ausstellung rechtzeitig an? Bekomme ich das Mieder schnell genug fertig genäht? Klappt das mit der Zwanzigerjahre-Band oder kriegt der Sänger immer noch keine Luft?) und Bilder, die sich, so lange ich denken kann, aufdrängen und gegen die ich machtlos bin (entgleiste Züge inklusive aller Menschen, die mir etwas bedeuten, ein bösartiger Tumor, der David dahinrafft, mein Bruder Arne, wie er doch noch von einem Mafioso umgelegt wird). Zwischendrin marschiert auf Pumps meine innere Kritikerin auf und ab, sagt, dass ich das niemals schaffen werde, scheiße aussehe und mich bis auf die Knochen blamieren werde. Mehr als vier Stunden schlafe ich nicht. Daraus ergibt sich zwar die Zeit, die ich dringend für die Organisation anstehender Dinge benötige, aber der Energieverbrauch ist unfassbar hoch, zehrt an mir und macht mich, ehrlich gesagt, gaga. Mein Herz kämpft gegen die chronische Übermüdung an, als würde es Kaffee pur durch die Blutbahn pumpen. Wie aufgezogen schieße ich durch den Tag und komme nur mit einer passenden Menge Gras überhaupt wieder runter. Auch heute werden wir nichts anderes mehr tun, als entspannt auf der Couch herumzugammeln und eine Folge »In Treatment« nach der nächsten zu suchten. Der Tag morgen wird schon aufregend genug, denn morgen Abend ist Sehen und Gesehenwerden angesagt.
»Was soll ich morgen eigentlich anziehen? Blaues Sakko oder schwarzes Sakko?«, hallt es dumpf aus dem Innern des Schrankes, dann taucht David daraus auf. Ich habe das Glück, mit dem fantastischsten Typen auf dem Planeten zusammen zu sein. Unsere Gespräche sind episch, der Sex ist bombastisch und unsere Witze so herrlich bescheuert. Den ganzen Tag könnte ich ihn mir entzückt angucken! Meistens zumindest. Letzte Woche wollte ich Schluss machen, aber das geht jetzt schon seit zwei Jahren so und langsam gewöhnen wir uns beide daran.
»Stell mir nicht solche Fragen«, feixe ich. »Ich will nicht, dass wir in einem Alter sind, in dem man solche Fragen stellt!« Nämlich Mitte zwanzig.
Vorfreude sprudelt durch meine Herzgefäße. Morgen wird gut. David nickt.
»In Ordnung. Dann trage ich meinen Fetischfummel von der letzten Hourglass Party?«
Ich grinse. Kopfkino in Erinnerung an die sexpositive Porn Party. Hunderte halbnackte Menschen, ein viel zu heißer Klub, Zungenküsse auf MDMA. Die Rückfahrt im Zug komplett verpennt, Genickstarre und Schädel nach dem Aufwachen.
»Hast du heute eigentlich noch was geschafft?«, reißt David mich aus meinen Erinnerungen und meint meine Masterarbeit.
»Läuft!«, höre ich mich sagen. »Hab acht Stunden durchgeschrieben und letzte Nacht die Ausstellung durchkonzipiert. Im hinteren Teil meines Schädels lief dabei ein hübsches Chanson von Emilie Lumière.«
David hält mich fest und sieht mir ernst in die Augen.
»Passt du noch auf dich auf, Friede?«
David hat keine Lust mehr auf mein Abschmieren, wenn meine Selbstsicherheit sich wieder mal verabschiedet, ich wochenlang versumpfe, den Blick stumpf gegen die Wand gerichtet. Meine Stimmungsschwankungen strengen ihn an. So sehr, dass er die Ursachen gegoogelt hat und mich fragte, ob ich schon mal was von Bipolarer Störung gehört habe. »Klar«, sagte ich. Schließlich hab ich es im Alter von fünfzehn schon mal nach einer Überdosis Tabletten wegen Liebeskummer in die Klapse geschafft. Dort hieß es dann: Verdacht auf ADHS. Konnten sie aber nicht nachweisen, nachdem ich jeden Tag unbeirrt fünf Stunden meine Kunsthochschule Burg Giebichenstein aus Peddigrohr geflochten habe. Aber ich habe keine Manien oder so. Ist ja nicht so, als ob ich wie von allen guten Geistern verlassen über den Marktplatz flitzen und die Apokalypse prophezeien würde! Ich gehöre einfach zu den Hypersensiblen und mein inneres Gleichgewicht kann schnell kippen. Für die Vorhersage von Hochdruck- und Tiefdruckgebieten brauche ich keinen Wetterbericht, das Spektrum akustischer Frequenzen, die ich wahrnehme, umfasst den ausgeschalteten Fernseher meines Vaters sowie das Summen von Rolltreppen. In einem früheren Leben war ich vermutlich Medizinmann, sage ich immer zu David, beziehungsweise Medizinfrau, wenn es so etwas gab. Vielleicht war ich auch eine begnadete Jägerin, Clan-Anführerin, die intuitiv wusste, wann der perfekte Zeitpunkt war, sich auf die Pirsch zu begeben. Was auch immer. In der Gegenwart ist es schwieriger. Da ist kein Platz für empfindsame und ahnungsvolle Synapsen.
»Klaro. Alles im Lot. Alles unter Kontrolle. Konzentration, Pause, Konzentration, lange Pause, durchatmen. Nichts Bewegendes mehr nach zweiundzwanzig Uhr. Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun und noch den Stapel Dokumente einscannen und hochladen, den Hella mir vorbeigebracht hat? Das ist echt wichtig, dass ich das noch für sie erledige, aber ich komme heute nicht mehr dazu. Sie braucht bis morgen dringend ihre Zeugnisse und Arbeitsbescheinigungen digital.«
David macht ein abschätziges Geräusch.
»Komm schon, du sitzt doch sowieso nachher noch am Rechner. Oder warum schmatzt du jetzt so entnervt?«
»Ich kann das machen«, sagt er. »Das ist überhaupt kein Problem. Ich frage mich nur, warum du dir wieder die Angelegenheiten aller Leute auf die Backe ziehst, wenn du ohnehin schon auf Anschlag läufst?«
»Was soll ich denn machen? Sie hat eben keinen Scanner und es ist immerhin Hella!«
»Das kann heutzutage jedes Handy.«
»Tu’s für mich, okay? Und mach dir keine Sorgen. Solange keine völlig unvorhersehbaren Katastrophen eintreten, kann mir nichts passieren. Mann, manchmal fühle ich mich wie jemand mit unsichtbarer Behinderung, wenn du mich so ansiehst.«
David schnalzt mit der Zunge.
»Ist ja vielleicht auch so.«
»Aber warum habe ich dann nicht fünf Urlaubstage gratis im Jahr?«, jammere ich.
»Weil du noch nicht arbeitest.«
»Ja, macht Sinn. Manchmal wünsche ich, mir würde ein Arm fehlen oder ein Auge oder so. Dann würde man wenigstens sehen, dass ich gehandicapt bin. Immer klopfen mir die Menschen auf die Schultern für meine Kreideschmierereien oder Installationen – dabei wünsche ich mir, dass einmal jemand zu mir kommt und sagt: Wow, Friede, wie du so den Alltag bewältigst trotz des ganzen Straßenlärms und dieses hässlichen Neonlichts im Institut!«
David küsst mich auf die Stirn. »Na, fühlst du dich wieder ungesehen? Ich sehe dich aber.«
Institutsgeburtstag. David mag die Lachsschnittchen und ich meinen Masterarbeitsbetreuer Professor Dassler, den ich gekonnt am Mandarinensorbet abfange. Ein Mann mit Stil. Ich mag seine Obstkrawatte, die er unter seinem kratzigen Wollpullover hervorblitzen lässt, den er konsequent zu jeder Gelegenheit trägt. Man munkelt, dass er ihn, seit er die neue Dozentin aus der Nachhaltigkeitsgeografie datet, auch im Bett trägt. Er erkundigt sich nach meinem Vater. Manchmal begegnen sie sich beim Sport, so wie man sich eben hier begegnet in dieser Provinz, aus der ich es zeit meines Lebens nicht herausgeschafft habe.
Ich plaudere aus dem Nähkästchen, Dassler und ich lachen und nicken und malen dann Erfolgsvisionen meiner Zukunft in den Raum. Ich soll aber noch unbedingt den Theorieteil kürzen, was mir einen unangenehmen Stich versetzt, denn in dem Teil habe ich mich besonders umfangreich über die Einzelheiten der Materie ausgelassen und brilliere mit Quellen, für die ich Nächte auf Datenbänken verbracht habe – mit Schlafsack, quasi. Aber er will, dass ich kürze! Das Hauptaugenmerk liege ohnehin auf der Ausstellung, behauptet er. Ich lenke ihn ab mit einer Anekdote über meine Ausstellungsvorbereitungen und die Unkosten, in die ich mich dafür stürze, in der Hoffnung, dass er das mit der Kürzung wieder vergisst; manchmal funktioniert das bei ihm.
Ich unterbreche, als ich aus den Augenwinkeln sehe, wie David auf mich zukommt, mein Handy in der Hand. Szenen aus »Saw« eins bis acht fallen mir für seinen Gesichtsausdruck ein. Anruf für mich. Ich verfalle in Paralyse, ehe ich weiß, was los ist. Am anderen Ende mein zwei Jahre jüngerer Bruder Arne. Seine Stimme klingt wie die eines Roboters. Er redet in einfachen und doch komplett sinnlosen Sätzen, erzählt immer wieder dasselbe im Kreis. Bis sie in meinem Hirn auf Substrat treffen. Mein Leben implodiert. Ich verschlucke alle meine Worte und alle meine Sinne.