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11 Fleischtheke, again

Hella ließ den Text sinken. Ab hier begann die Geschichte, von der sie zwar immer noch ein Teil, aber kein stofflicher mehr war. Ihre Aufregung stieg. Der Sog, hier auf ihrem Platz hinter der Theke für den Rest der Schicht weiterzulesen, nahm ebenso zu. Doch das Türglöckchen bimmelte.

»Gut, dass Sie zwischen den Jahren geöffnet haben«, rief der Kunde Hella entgegen und sie brauchte einen Moment, um Friedes Stimme aus ihrem Kopf zu verbannen.

Vor ihr stand ein Mann ihres Alters, der einen Stoffbeutel über der Schulter trug, merklich angespannt wirkte und hochdeutsch sprach. Hella seufzte.

»Hallo, was kann ich für dich tun?«, fragte sie, immerhin beinahe auf Hochdeutsch, mit der ihr anerzogenen Bedienungshaltung. Nach kurzer Irritation begriff auch der Typ, dass kein Siezen notwendig war.

Hastig strich er seinen Norwegerpullover einige Male glatt, was Hella direkt sympathisch war.

»Uns ist die Hauswurst ausgegangen«, sagte er, als würde er ein Gedicht aufsagen, das seine Mutti ihm eingebläut hatte.

»Also meiner Mutter, ich esse eigentlich keine«, fügte er mit entschuldigendem Blick in die Auslage hinzu.

»Ich auch nicht«, sagte Hella.

Der Kunde schaute verwirrt.

Hella grinste.

»Ich helfe hier nur ein wenig bei meinen Eltern aus«, erklärte sie. Der Kunde hielt inne und betrachtete sie.

»Ach, du ahnst es nicht, entschuldige!«, sagte er.

»So schlimm ist es nicht. Wir haben Burgfrieden geschlossen und arrangieren uns gar nicht so schlecht. Bis auf meine Schwester, die mosert viel rum, dass ich ihr jetzt auch noch ständig sage, was sie zu tun und zu lassen hat.«

»Nein! Hella, Mann! Es tut mir leid, dass ich dich nicht auf den ersten Blick erkannt habe. Deine Haare sind so lang, das macht was mit deinem Gesicht! Ich bin’s, Philipp Hasel, falls da noch was klingelt?«

Hella kniff die Augen zusammen, brauchte einige Sekunden und fand dann die passenden Erinnerungen zum Namen: Bolzen, Fahrradfange und Eisessen auf dem bei der Dorfjugend beliebten Friedhof. Warum hatte sie ihn so spät erkannt? Normalerweise konnte sie sich Gesichter hervorragend merken. Weil die Zähne anders waren, bemerkte sie. Im Erwachsenenalter haben Gebisse etwas sehr vertrautes, da sie viele Jahre kaum mitaltern. Doch diesen Mann hatte sie das letzte Mal als Jungen gesehen.

»Ach du liebes bisschen! Was machst du denn wieder hier? Bist du nicht schon Ende der Neunziger zum BVB-Star mutiert und in den Pott gezogen?«

Jetzt breitete sich auch über Hellas Gesicht ein Strahlen aus.

»Ja, aber nach einer schweren Hirnerschütterung wollte ich mit protzenden Kerlen in meinem Alter nichts mehr zu tun haben. Nächste Woche ist hier die Beerdigung meiner Oma. Ich helfe meinem Vater mit den Vorbereitungen und mache eine Woche Urlaub. Insofern man in dieser Hundegegend von Urlaub sprechen will.«

Schon wieder Thema Beerdigung, dachte Hella. Doch dann musste sie unpassender Weise lachen. Sie lachte, weil sie erst jetzt merkte, wie sehr ihr normale Menschen fehlten, wie gruselig Friedes Text sie absorbierte und wie massiv sie sich eingesperrt fühlte zwischen Theke und Torten.

»Hast du noch Zeit für einen Kaffee?«, fragte sie Philipp und deutete in die Ecke des Hofladens, in der ein Tisch mit Wachstischdecke und drei Stühlen stand. Hin und wieder tranken hier Nachbarinnen Kaffee mit Milch vom Hof. Hella selbst hatte seit Jahren nicht dort gesessen und sie hoffte, dass Philipp es nicht als Anmache fehlinterpretierte.

»Was machst du, wenn du nicht an der Fleischtheke deiner Eltern den Eiersalat auspreist?«, fragte Philipp und Hella erzählte ihm nach kurzem Zögern die ganze Geschichte der letzten Monate. Sie machte auch nicht halt vor den Erzählungen über die Klinik oder der Trennung von Suse. Sie erzählte ihm von ihrem Zweifel, ob sie überhaupt in der Lage war, einen derart verantwortungsvollen Job auszuüben, in dem es um Leben und Tod gehen konnte.

»An irgendeiner Stelle ist mir im Fall Friede ein eklatanter Fehler unterlaufen. Das Letzte, was mir übermittelt wurde, ist, dass sie in der Notaufnahme gesagt hat, ich habe Scheiße gebaut.« Hella hielt inne und spürte die Übelkeit in sich aufsteigen.

»Ich muss etwas gesagt haben, was sie in die Verzweiflung getrieben hat. Ich muss etwas übersehen oder nicht bemerkt haben. Während meines Studiums habe ich sämtliche Prüfungsliteratur für eine angehende Therapieausbildung durchgearbeitet. Ich dachte, ich wüsste zumindest in der Theorie Bescheid und dass ich in der Praxis nicht allzu viel Schaden anrichten könnte. Außerdem war der Problembereich klar, es ging um Bindungstraumata.«

Philipp hatte keine Ahnung, was Hella damit meinte, nickte aber dennoch und hatte das Gefühl, mehr brauchte sie auch nicht als genau das.

»Der Player!«, rief sie aus. »Der verdamme MP3-Player! Ich muss mir all diese vermaledeiten Mitschnitte noch einmal anhören, bis ich weiß, wo der Fehler liegt!«

Hella klärte Philipp über ihre Eingebung auf. Dann beendete sie ihre minutenlange Erzählung mit der Suche nach einer Intuition, nach einem inneren Kompass, der ihr eine Richtung jenseits logischer Überlegungen und Faktenabwägungen vorgab. Es tat ihr gut, dass ihr jemand gelassen und wertfrei zuhörte, der mit all dem Zinnober nichts weiter am Hut hatte. Optimistischer gestimmt, goss sie in zwei Gläschen Eierlikör ein, den sie aus der Kiste unter der Theke hervorholte.

Nach Hellas weiteren Ausführungen über die Anforderungen des Therapeutendaseins wurde Philipp still, nickte und blickte auf die Tischplatte.

»Du, sag mal, kann ich dir eine fachliche Frage stellen?«

Hella nahm automatisch eine aufrechte Sitzposition ein. »Klar. Schieß los!«

»Ich habe seit der Trennung von meiner Freundin immer wieder Schmerzen am Herzen. Das strahlt in die Arme aus, ich werde kurzatmig, kann nicht richtig gucken. Der Arzt konnte nichts finden, auch im Langzeit-EKG nicht, und sagt, das sei psychisch. Aber ich bilde mir das doch nicht ein, oder? Ich meine, ich fange dann an zu schwitzen, alles dreht sich, ich muss mich hinsetzen und wenn es richtig schlimm wird, hyperventiliere ich. Manchmal fühle ich mich fertiger als früher nach einem Spiel. Selbst mit MRT konnte nichts gefunden werden.«

Hella nickte.

»Es überkommt mich immer häufiger. Manchmal muss ich mich richtig zwingen, überhaupt noch das Haus zu verlassen.«

Hella holte tief Luft und zögert nur kurz, in den Psychologenmodus zu wechseln. Was sollte es. Er brauchte Hilfe.

»Das hat mit Einbildung nichts zu tun, dein Körper schüttet Stresshormone aus, die die beschriebenen Reaktionen hervorrufen und reagiert, kurz gesagt, über.«

Philipp sah sie mit gerunzelter Stirn an. Hella dachte kurz nach. Wie weit wollte sie jetzt wirklich ausholen? Hier? Im Hofladen? Sie wurde für den Verkauf von Wurstwaren bezahlt. Nicht mehr und nicht weniger. Andererseits spürte sie, wie die Kopfarbeit ihr fehlte. Philipp hippelte mit dem Bein. Hella sah sich im Raum um und stand auf.

Hinter der Theke fand sie einen Lappen. Wo früher eine richtige Schiefertafel für die Preise gehangen hatte, war seit drei Jahren eine große schwarze Glasplatte angebracht, auf die mit weißem Stift Angebote oder Neuigkeiten geschrieben wurden. Hella wischte die Tafel blank, zückte den Stift und drehte sich zu Philipp um.

»Unser Körper produziert die ganze Zeit Empfindungen. Meistens nehmen wir sie nicht wahr, weil wir mit der Wahrnehmung in unserer Umgebung sind. Manchmal registrieren wir sie aber, zum Beispiel wenn unser Herz nach Beanspruchung stark schlägt oder wir zur Ruhe kommen und in uns hineinhorchen, dann richten wir die Aufmerksamkeit nach innen. So weit, so gut. Problematisch wird es, wenn wir das, was wir bemerken, als untypisch, beängstigend, besorgniserregend oder gar gefährlich bewerten. Dann bekommen wir Angst vor unserem Körper mit all seinen Regungen und Angst löst eine hormonelle Stressantwort aus, in der Adrenalin und andere Botenstoffe ausgeschüttet werden, um Ressourcen in unserem Körper zu mobilisieren – nämlich, um wegzulaufen. Das Herz schlägt schneller, die Muskeln kontrahieren …«

Philipp hatte leichte Schweißtröpfchen auf der Stirn, presste die Lippen zusammen und nickte.

»… der Blick wird enger, wir sind wie im Tunnel, die Lunge zieht sich zusammen, das Blut wird aus der Peripherie in die Körpermitte transportiert und so weiter. Das erzeugt starke körperliche Reaktionen, auf die wir dann automatisch unsere Aufmerksamkeit richten.«

Hella malte einen Kreis an die Tafel, schrieb Begriffe wie Wahrnehmung, Fokus, Interpretation als Gefahr, Angst und Physiologie an den Kreis und verband sie durch Pfeile. »Und das Ganze schaukelt sich dann hoch. Wir werden zu dem Feind, vor dem unser Körper davonrennen will, entwickeln bald eine Angst vor der Angst, anstatt sie als das anzuerkennen, was sie ist: eine normale, adaptive Reaktion auf potenzielle Gefahr. Das meiste von all dem«, Hella wedelte mit dem Stift über die Zeichnung und musste sich dafür sehr strecken, »passiert innerhalb weniger Sekunden oder Minuten, unbewusst und automatisiert.«

Philipp war leichenblass geworden und nickte verständig.

»Häufig liegt eine grundlegende Angst vor dem Tod oder mindestens massive Angst vor Kontrollverlust einer initialen Panikattacke zugrunde.«

Philipp zog sich einen Pullover aus und fuhr sich mehrfach durch die Haare.

»O Mann, Hella. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darin wiedererkenne.«

Hella ließ die Arme sinken, betrachtete ihr enthusiastisch gekritzeltes Werk und seufzte. Doch, Hella glaubte. Hella glaubte mehr denn je.

»Aber wie komme ich aus der Nummer jetzt wieder raus?«, fragte Philipp mit hoher Stimme.

Hella lehnte sich an die Wand und machte dicke Backen. Vor allem glaubte sie, dass sie ihrem Schicksal niemals entkommen würde.

»Lass uns morgen auf dem Sportplatz treffen, ja? Für ein paar deftige Hockstrecksprünge.«

Hockstrecksprung

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