Читать книгу Hockstrecksprung - Josephine Händel - Страница 15
Оглавление6 Bahnschienen und Beerdigung
Die nächsten Tage balanciere ich über Bahnschienen. Tagelang tue ich nichts anderes. Einen Schritt vor den anderen setzen. Und noch einen. Manchmal summe ich etwas dabei und grusele mich vor mir selbst. Normalerweise entspricht mein Denken einem Igelball im Flipperautomaten. Nicht heute. Heute sind meine Gedanken zähe Pampe und meine Bewegungen schwerfällig, als watete ich durch Teer. Das kenne ich sonst nur von Montagen und aus dem Herbst. Wobei in meinem Kopf der Herbst schon im Juli beginnt, wenn die ersten Felder abgeerntet werden und der Zeiger der Jahresuhr sich auf die zweite Hälfte zubewegt. Es ist Juli.
Beerdigungen erinnern immer an Beerdigungen. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie Vati fast zwanzig Jahre zuvor auf den Stufen zur Urne zusammenbricht, die die Asche seines verunglückten Bruders enthält. Nie hatte ich ihn derart kollabieren sehen wie an jenem Tag und mir wird schwindelig bei der Erinnerung daran. Heute wird Vati nicht zusammenbrechen. Heute ist er tot.
Mit den Fingern drücke ich eine Kerze aus und spüre, wie das heiße Wachs mich ganz kurz aus der Taubheit erlöst. Rüdiger Borchert, Vatis bester Freund und weit und breit höchstes Tier der Branche mit endlos langem Titel vorm Namen, dudelt »Veni Creator Spiritus« auf einem Stage Piano. Ich hätte nicht gedacht, dass er das fertigbringt. Es gab diese Nacht, in der die beiden stockbesoffen mit diesem Stück das Keyboard meines Bruders traktierten und abgesehen von Arne und mir wird niemand den Witz und die Ironie verstehen, ausgerechnet heute diese Nacht aufleben zu lassen. Dieses Lied ist nur für uns.
Vatis Studenten haben ihre schwarzen Metalkutten tief in die Stirn gezogen. Tief ist der Zynismus, mit dem ich dem kommenden Prozedere entgegenblicke, denn alles antizipiere ich fortan mit tiefem Zynismus. Er ist das Einzige, was mir bleibt, das Einzige, was mich davor bewahrt, als wimmernder Säugling auf dem Boden zu verenden. Herr Borchert erzählt mal wieder, wie Vati sich damals lieber während des Wave-Gothic-Treffens in Leipzig zu den Gruftis in den Zoo setzte und über medizinische Fehler im Sonntagabend-Fernsehen dozierte, statt zu seinem Vortrag auf dem Pathologen-Kongress zu erscheinen. Aber er erzählt es heute anders als sonst. Abwesend. Zittrig und nervös lachend. Er steht neben sich. Ich stehe neben mir. Wir stehen nebeneinander, kurz nur, während ich artig nickend am Kondolenzbuch Beileidsbekundungen entgegennehme. Meine menschliche Hülle ist so tot wie Vatis. Falls ich jemals mit diesem Körper oder dieser Welt verbunden war, so kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Blackout. Shutdown.
Bilder und Sätze aus diesen Stunden schwimmen im Wildwasser meiner Eindrücke wie Treibholz: lose und unverbunden. Sie schnellen an die Oberfläche, tauchen ab, strudeln und schießen an anderer Stelle empor. Oft habe ich das Gefühl zu ersaufen. Während ein archaischer Teil meines Gehirns versucht, lebensnotwendige Prozesse aufrechtzuerhalten, ist der jüngere Teil – keine Ahnung, was der tut. Lächeln und winken?
Während der Rede, die ein Profi hält, weil wir uns alle nicht einigen konnten, wer sonst, gleiten meine Augen im Raum umher. Links neben mir sitzt David und quetscht meine Hand.
Neben David sitzt mein Bruder Arne. Er trägt ein edles Stöffchen, das er sich vermutlich gut leisten kann, seit er auch noch die Schulen der Stadt mit Gras versorgt. Rechts neben mir sitzt Ramona, trägt bestimmt Suzanas Zorn, ihr allererstes Dessous-Modell, das ihr Kohle und Ruhm einbrachte. Wobei sie den Ausdruck Lingerie bevorzugt. Sie ist meine leibliche Mutter, auch First Mum genannt. Hinter uns sitzt ihre halbe rumänische Sippe versammelt, die ich das letzte Mal zu Arnes Einschulung gesehen habe. Ich frage mich, was die heute hier machen, außer meine georderten Trachten abzuliefern. Wahrscheinlich wollen sie noch einmal ihre Gesichter zeigen, damit meine Mutter weiß, unter wem sie im Zweifelsfall ihr Unterwäsche-Imperium aufteilen muss. Aufgewachsen als Tochter einer Näherin, witterte sie das große Geld, nachdem sie einigen Nachbarskindern selbst genähte Puppenkleider und anderes verklingelte. Ihre Rechnung ging auf, als sie sich auf Edelunterwäsche spezialisierte. Wer was auf sich hält, trägt Ramona Kellers. Meine Eltern sind seit so vielen Jahren getrennt, dass viele von Ramonas Familie sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an Vatis Namen erinnern:
Alf Keller. Gestorben an verschleppter Grippe und 2.000 000 Scoville beim Currywurst-Wettbewerb. Es braucht immer eine Prise Chili im Leben, meine Liebe – sein Leitsatz. Die Leute munkeln, einem Professor für Gerichtsmedizin hätte klar sein müssen, dass diese Art körperlicher Belastung bei akuter Krankheit lebensbedrohlich werden kann. »Vielleicht war es kein Unfall«, sagen sie hinter vorgehaltener Hand. Vielleicht war es fahrlässige Selbsttötung. Ich will das nicht hören. Ich will das nämlich nicht glauben.
Auf der anderen Seite der Kapelle sitzt auf gleicher Höhe Sonia, seine Frau. Second Mum. Sie ist mehr der Typ für das Dessous-Modell Panaji Spring aus der Frühlingskollektion 2011. Witwe. Zehn Jahre jünger als Ramona, klar. Neben ihr sitzt ihr Sohn aus dem Westen und massiert ihr den Nacken mit einer Hand.
Niemand in meiner engeren Familie ist religiös, auch wenn Arne mal so eine Phase hatte. Aber ich bete gen Himmel, dass es wenigstens dieses eine Mal nicht zwischen Ramona und Sonia eskalieren wird. Das fehlte mir noch zu meinem Glück. Ich schaue nach links. David schluchzt mehr als ich selbst, das liegt daran, dass er selten mit negativen Gefühlen umgehen muss. Er ist nicht so abgestumpft wie ich. Wenn ich weine, dann macht das keine Geräusche mehr. Und Arne? Entweder es liegt an seiner gläubigen Vergangenheit oder an dem jahrelangen Vater-Sohn-Konflikt oder an seiner ertragreichen Gegenwart als Edelticker, aber Arne geht es heute nicht ganz so beschissen wie mir, was immer noch ausreicht, um diese ganze Halle hier mit Leid zu malern, wäre es eine Wandfarbe. David und ich haben gemalert. Letzte Woche. Von David werde ich mich trennen, wahrscheinlich nächste Woche dann. Diese Woche ist die Verwandtschaft noch da.
Jemand schnäuzt sich so geräuschvoll, dass ich zusammenschrecke und mich umdrehe. In der Entfernung sehe ich eine Frau, deren Haare viel zu weiß sind für ihr nur mittelaltes Gesicht, in das der Schrecken eingemeißelt ist.
Sie kommt mir bekannt vor, ich kann sie aber nicht zuordnen, mein Gedächtnis sucht nach passenden matches, findet aber keine.
»Hatte deine Küchengerättante letztes Mal schon so Rüsseltitten?«, reißt mich meine Mutter aus meinen Gedanken und stiert ungeniert Richtung Fenster, wo Vatis ältere Schwester kummervoll an der Wand lehnt.
»Tante Rowena? Die Geräte heißen Rowenta«, zische ich.
First Mum nickt. »Aber ein Gerät ist sie trotzdem nicht mehr.«
David übertönt unseren Dialog kurz mit einem lauten Aufschluchzen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, meiner Mutter für diesen Kommentar eine Backpfeife zu erteilen. Doch keine Kraft.
»Ja, die hat sie schon immer. Habe als Kind immer Hamsterröhre zu ihrem Busen gesagt«, flüstere ich stattdessen und ergebe mich der Allianz.
Vor der Kapelle hält meine Mutter mir Vorträge, warum sie es immer noch für eine Unverschämtheit hält, dass ich dieses auffällige, knallrote Samtkleid trage, obwohl sie mir drei Tage zuvor ein halbes Vermögen für vernünftige Kleidung in die Hand gedrückt hat. Ihre größte Befürchtung: dass jemand von der Presse aufschlägt. Und ich in dem Kleid für meine Ausstellungseröffnung, die ich schon abgesagt habe, nicht standesgemäß angezogen bin. Was ich mit dem Geld stattdessen getan habe, will sie wissen. An die Caritas gespendet, sage ich. Bevor sie ausrasten kann, tritt Sonia neben uns und sagt, dass Alf das Kleid sicherlich gefalle, dort, von wo er auf uns herabblicke. Was von ihr nett gemeint ist, schlägt sofort Wellen wie ein Tsunami. Ramona regt sich auf, wie Sonia sich einmischen könne, überhaupt sei das hier eine Familienfeier, was sie sich eigentlich einbilde und ob sie auch einmal an Alfs Eltern und Kinder denke. Dann tut Sonia etwas, was sie in all den Jahren noch nie getan hat. Sie fällt Ramona ins Wort.
»Ruhe!«, sagt sie. »Ich habe seit Tagen Migräne und das Letzte, was ich brauche, sind Vorwürfe. Ich muss mit euch reden, mit euch allen dreien.«
Damit meint sie Ramona, Arne und mich. Perplex hält Ramona inne. Verächtlich scannt sie Sonias gelbes Häkelkleid.
»Der Vogel muss weg!«, kommt Sonia ohne Umschweife zum Punkt.
»Nicht zu mir!«, keift Ramona und hebt die Hände und Augenbrauen, als stünde sie auf einer Theaterbühne.
Arne überlegt kurz und sagt dann voller Bedauern: »Kein Platz.«
»Wie bitte? Warum?«, frage ich als Einzige. Ich weiß natürlich warum. Janis Joplin ist die Papageiendame. Sie war von Anfang an Streitthema. Sonia hat nämlich eine Hühnerphobie, die sie auf Janis übertragen hat. Es gab mal zwei von ihnen, weil Kongo-Graupapageien eigentlich nicht allein leben können. Nachdem Janis’ Partner Jimi gestorben war, verliebte sie sich deshalb untröstlich in meinen Vater. Das sei keine artgerechte Haltung, hatte Sonia geschimpft, in einem weiteren Versuch, den Vogel loszuwerden.
Vati hatte ihn verteidigt, mit Leib und Leben. Jetzt gibt es kein Leben mehr, sondern nur noch den langsam vor sich hin verwesenden Leib.