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a) Begriff

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Von passiver Sterbehilfe spricht man, wenn eine zur Lebensverlängerung notwendige Behandlung durch eine Betreuungsperson, in den meisten Fällen den behandelnden Arzt, unterlassen wird.[119] Der Begriff der „passiven“ Sterbehilfe ist insofern irreführend, als sich die Unzulässigkeit von ärztlichen Eingriffen bei entscheidungsfähigen Patienten bereits aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt; bei Unterlassen solcher Eingriffe kann somit nicht sinnvoll von „Sterbehilfe“ gesprochen werden.[120]

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Grundsätzlich sind der Arzt und sonstige Betreuungspersonen gegenüber dem Patienten als Garanten verpflichtet, das ihnen medizinisch Mögliche zur Wahrung der Belange des Patienten zu unternehmen.[121] Es besteht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Nichteinleitung oder Nichtweiterführung lebenserhaltender Massnahmen in der Sterbephase oder bei einem tödlich Kranken rechtmässig sein kann.[122] Aus der erforderlichen Einwilligung in ärztliche Heilmassnahmen als Kern des Arzt-Patienten-Verhältnisses ergibt sich, dass der Patient vom Arzt jederzeit die Einstellung der Behandlung verlangen kann, selbst wenn dadurch mit Sicherheit der Tod des Patienten eintreten wird.[123] Massnahmen künstlicher Lebensverlängerung gegen den Willen des Patienten sind mit dessen Selbstbestimmungsrecht unvereinbar.[124]

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Der Vorrang des Patientenwillens gegenüber dem Ziel eines Lebensschutzes durch künstliche Lebensverlängerung gilt unabhängig davon, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat (sog. Hilfe beim Sterben) oder nicht (sog. Hilfe zum Sterben), somit auch in Fällen einer infausten Prognose.[125] Wenn es sich um einen Patienten in entscheidungsfähigem Zustand handelt, tritt deshalb Straflosigkeit ein, weil ein Patient nicht gegen seinen Willen behandelt werden darf und damit die Garantenpflicht des Arztes entfällt.[126] Selbst die „Grundsätze“ der Bundesärztekammer lassen mittlerweile die Änderung von Therapiezielen bzw. die Nichtweiterführung einer lebenserhaltenden Behandlung im Vorfeld der Sterbephase zu.[127]

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Auch bei zur Einwilligung Unfähigen gestattet der BGH bereits seit geraumer Zeit einen Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, sofern es sich um Fälle der sog. Sterbehilfe im engeren Sinn[128] handelt.[129] Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn der entscheidungsunfähige Patient noch nicht im Sterben liegt, so etwa in Fällen irreversibel bewusstloser Patienten, welche mit Hilfe ärztlicher Massnahmen noch längere Zeit in einem Dämmerzustand weiter existieren können (apallisches Syndrom, Wachkoma) oder auch in Konstellationen, in denen eine rechtlich beachtliche Erklärung des unheilbar Erkrankten aufgrund seines aktuellen geistigen Zustandes nicht erlangt werden kann.[130] Doch auch in diesen Situationen gilt das Prinzip der Patientenautonomie. Wurde der Wille, auf lebensverkürzende Massnahmen zu verzichten, vorab in einer Patientenverfügung fixiert, muss diese Willensäusserung unabhängig davon, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat oder nicht, beachtet werden.[131] Seit Inkrafttreten des „Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts“ am 1. September 2009 wird dieser Grundsatz von § 1901a Abs. 3 BGB unmissverständlich statuiert; die Reichweite der Patientenverfügung unterliegt somit keiner zeitlichen Beschränkung.[132] § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB verdeutlicht weiter die Situationsbezogenheit als Kernvoraussetzung für die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung, d.h. die schriftlichen Anordnungen des Verfassers entfalten ihre Wirkung nur dann, wenn die aktuelle Lebens- und Behandlungslage seinen antizipierten Festlegungen über den Verzicht auf die Einleitung oder Fortführung näher bezeichneter medizinischer Massnahmen entspricht.[133] An die Detailgenauigkeit der Patientenverfügung dürfen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden, zumal ihre Verbindlichkeit nicht von einer vorhergehenden ärztlichen Beratung abhängig ist.[134] Nichtsdestotrotz muss aus einer Patientenverfügung erkennbar sein, dass die darin enthaltenen Anordnungen auch in der konkreten Behandlungssituation Geltung erlangen sollen. Hierfür müssen die Erklärungen hinreichend konkret erscheinen. Gemäss BGH ist eine genügende Bestimmtheit beispielsweise dann zu verneinen, wenn in genereller Art und Weise schriftlich festgehalten wird, dass „lebensverlängernde Massnahmen unterbleiben“ sollen. Eine solche Erklärung könne keine unmittelbare Bindungswirkung entfalten. Neben einer genügenden Spezifizierung ärztlicher Massnahmen kann die erforderliche Bestimmtheit aber auch durch Nennung konkreter Krankheiten oder Behandlungssituationen erreicht werden. Der Patientenwille in Bezug auf die konkrete Massnahme ist in solchen Fällen durch Auslegung der Patientenverfügung zu eruieren.[135] Wenn die Voraussetzungen ihrer Wirkung eingetreten sind, ist die Patientenverfügung für Betreuer, behandelnde Ärzte und Pflegepersonal bindend.[136] Der vom Betreuungsgericht zu bestellende Betreuer hat dem Patientenwillen Geltung zu verschaffen und trifft damit bei Einwilligungsunfähigkeit des Patienten die Entscheidung über die Vornahme oder das Unterlassen einer ärztlichen Massnahme; nur bei Uneinigkeit zwischen Betreuer und behandelndem Arzt über Inhalt oder Auslegung des Patientenwillens bedarf es einer betreuungsgerichtlichen Entscheidung (§ 1901b BGB).[137]

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Liegt keine Patientenverfügung vor, muss gemäss § 1901a Abs. 2 BGB auf den mutmasslichen Willen des entscheidungsunfähigen Patienten abgestellt werden.[138] Neben der Berücksichtigung der ethischen und religiösen Überzeugungen des Betreuten sowie dessen persönlichen Wertvorstellungen (§ 1901a Abs. 2 S. 3 BGB) besteht eine zusätzliche Möglichkeit für die Ermittlung von Anhaltspunkten in der Anhörung naher Angehöriger und sonstiger Vertrauenspersonen (§ 1901b Abs. 1 S. 2 BGB).[139] An die Annahme des mutmasslichen Willens sind insbesondere dann, wenn der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat, erhöhte Anforderungen zu stellen.[140] Ein nur mündlich geäusserter Wunsch auf Behandlungsbegrenzung bei anschliessend eintretender Einwilligungsunfähigkeit kann den Betreuer nicht unmittelbar binden, bildet aber gemäss § 1901a Abs. 2 BGB ein Indiz für einen entsprechenden individuell-mutmasslichen Willen zur Tatzeit.[141]

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Problematisch erscheint auf den ersten Blick die Empfehlung des BGH[142], bei nicht feststellbarem tatsächlichen oder mutmasslichen Willen auf allgemeine Wertvorstellungen zurückzugreifen, zumal damit der individuelle Entscheidungsrahmen verlassen wird.[143] Es ist jedoch nach wie vor rechtlich statthaft, in unklaren Fällen allgemeine Kriterien bei der Entscheidung über einen Behandlungsverzicht zu berücksichtigen, zumal diese auch bei der Ermittlung des mutmasslichen Willens in anderen Zusammenhängen herangezogen werden.[144] Die Vorschrift des § 1901a Abs. 2 S. 2 und 3 BGB ist offen formuliert und kann durchaus so verstanden werden, dass die dort aufgeführten Indizien zur Willensermittlung lediglich beispielhaft und nicht etwa abschliessend sind.[145] Der Grundsatz „in dubio pro vita“ kann ebenfalls nicht in jedem Fall als mutmasslicher Wille unterstellt werden, sondern allenfalls in unklaren Fällen Geltung beanspruchen, in denen bei Berücksichtigung sowohl der konkreten Indizien als auch der „allgemeinen Wertvorstellungen“ ein mutmasslicher Wille nicht zu ermitteln ist.[146] Im Einzelfall wird ein Behandlungsabbruch umso eher vertretbar sein, je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht.[147]

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