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1. Der normativ-wertende Oberbegriff des Behandlungsabbruchs

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Durch den Grundsatzentscheid des BGH im Jahr 2010 wurde die traditionelle Differenzierung in aktive und passive Sterbehilfe durch den normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs ersetzt, welcher sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden kann.[159] Der Sachverhalt dieses sog. „Fuldaer Falls“ oder auch „Fall Putz“ lässt sich folgendermassen zusammenfassen[160]: Die nach einer Hirnblutung im Wachkoma liegende Patientin befand sich in einem Pflegeheim und wurde durch eine Sonde künstlich ernährt. Sie war nicht ansprechbar und eine Besserung ihres Gesundheitszustandes nicht zu erwarten. Aufgrund früherer Äusserungen gegenüber ihren Angehörigen bezüglich der Einstellung lebensverlängernder Massnahmen im Falle ihrer Einwilligungsunfähigkeit bemühte sich die als Betreuerin bestellte Tochter um eine Einstellung der künstlichen Ernährung und wurde dabei vom behandelnden Arzt unterstützt. Dieser verneinte eine medizinische Indikation zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung. Nachdem die Heimleitung erst ihre Zustimmung erteilte, setzte sie jedoch auf Weisung der Geschäftsleitung die künstliche Ernährung fort und drohte der Tochter mit Hausverbot. Auf Anraten des sie in dieser Sache beratenden Rechtsanwaltes schnitt die Tochter daraufhin die Magensonde durch. Das Heimpersonal bemerkte den Eingriff und veranlasste kurzfristig die Anbringung einer neuen Sonde, worauf die Patientin wenig später aufgrund anderer Ursache verstarb. Die als Betreuerin bestellte Tochter wurde vom Landgericht Fulda vom Vorwurf des Totschlags aufgrund unvermeidbaren Verbotsirrtums basierend auf dem als vertrauenswürdig einzustufenden Ratschlag des Rechtsanwalts freigesprochen.[161] Der vom Landgericht wegen mittäterschaftlich begangenen versuchten Totschlags in einem minder schweren Fall zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilte Rechtsanwalt wurde vom BGH freigesprochen.[162]

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Das Grundsatzurteil bestätigt einerseits, dass es nicht sachgerecht ist, in Fällen des Behandlungsabbruchs an einer „naturalistischen“ Unterscheidung von aktivem Tun und Unterlassen festzuhalten und diese dann normativ umzudeuten, sondern dass für den Abbruch einer medizinischen Massnahme in der Regel eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen erforderlich sind, welche nicht klar den Kategorien des aktiven Tuns oder des Unterlassens zugeordnet werden können.[163] Ein Behandlungsabbruch, definiert als Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung, ist andererseits nur dann einer Rechtfertigung durch Einwilligung zugänglich, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmasslichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tod führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.[164] Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten beweismässig strenge Massstäbe – dies insbesondere dann, wenn keine schriftliche Patientenverfügung vorliegt.[165] Die Sterbehilfehandlung muss objektiv und subjektiv einen unmittelbaren Bezug zu einer medizinischen Behandlung aufweisen, wobei davon nur das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung oder deren Abbruch sowie Handlungen in Form der indirekten Sterbehilfe erfasst sind.[166] Beschränkt wird der zulässige Behandlungsabbruch zudem durch das Erfordernis einer lebensbedrohlichen Erkrankung der betroffenen Person.[167] Explizit erwähnt wird weiter, dass eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs nicht auf das Handeln der den Patienten behandelnden Ärzte sowie der Betreuer und Bevollmächtigten beschränkt ist, sondern auch das Handeln Dritter erfassen kann, soweit sie als von dem Arzt, dem Betreuer oder dem Bevollmächtigten für die Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden.[168] Damit sind im Ergebnis neu die dem Begriff des Behandlungsabbruchs immanenten Kriterien der Behandlungsbezogenheit und der Verwirklichung des auf die Behandlung bezogenen Willens der betroffenen Person anstelle der bisherigen Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln massgebend.[169]

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