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7 Hungriges Braungesicht
ОглавлениеRising Sun meldete sich an seinem ersten Arbeitstag vereinbarungsgemäß bei Monsieur Représentant.
„Herzlich willkommen bei der UNO, Rising Sun. Bleibt es dabei, dass Sie sich für den Schutz bedrohter kleiner Völker engagieren wollen?“
„Ja, das ist weiter meine Absicht.“
„Gut. Da wir aber gerade eine Umstrukturierung vornehmen, müssen Sie sich erst in der Abteilung Konfliktlösungen allgemeiner Art einbringen. Dort herrscht sowieso immer akuter Personalmangel, weil sich die Konflikte allgemeiner Art in den letzten Jahren häufen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es keine Region mehr auf dieser Welt gibt, die konfliktfrei ist. Sind Sie damit einverstanden?“
Rising Sun nickte zustimmend, denn er war sich sicher, dass die Lösung von Konflikten einer seiner Stärken war. Monsieur Représentant schien nichts anderes erwartet zu haben. Er griff zum Telefonhörer und rief seine Sekretärin Madame Camille Luxuriant, eine junge Frau von der Elfenbeinküste, an.
Der Indianer hatte sie bereits kennengelernt. Als er das Sekretariat betrat – er war wie gewöhnlich mit einer blauen Jeans und einem blauen Baumwollhemd bekleidet und barfuß – und sich auf Französisch vorstellte, hatte sie ihn, ohne ein Wort zu erwidern, erst einmal in aller Ruhe von oben bis unten gemustert. Man sah ihr an, dass sie nicht zu einem abschließenden Ergebnis kam, denn Rising Sun passte in keine der Schubladen, in die sie sonst alle Männer sofort einsortierte.
„Sie sprechen sehr gut Französisch, Indianer, und scheinen einen sehr ausgefallenen Modegeschmack zu besitzen.“
Dann brachte sie ihre reichlich vorhandenen körperlichen Vorzüge in die richtige Position und fragte ihn, ob er am Abend schon etwas vorhabe. Er bejahte die Frage, denn er hatte wirklich schon eine Verabredung. Er beabsichtigte, sich mit Karl zu treffen, der für eine Woche bei Freunden in New York zu Besuch weilte und unbedingt wissen wollte, wie Rising Suns erster Arbeitstag bei der UNO verlaufen war. Mit einem ‚Vielleicht ein andermal.‘ hatte er die Konversation mit Madame Luxuriant beendet und den Raum Richtung Büro von Monsieur Représentant verlassen.
„Bitte schicken Sie mir den Inder Jonathan Confused, Madame Luxuriant. Er erwartet Ihren Anruf.“
Fünf Minuten später betrat ein dünner kleiner Mann den Raum.
Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine große schwarze Fliege und schwarze Lackschuhe. Eine Brille mit sehr großen Gläsern, eingerahmt von einer breiten weißen Fassung bedeckte fast sein ganzes Gesicht. Er hatte eine dunkelbraune Hautfarbe und sein kurzes schwarzes Haar war sorgfältig frisiert. Der Inder schien sehr nervös zu sein, denn er zuckte permanent mit den Augen. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte er sich neben Rising Sun.
„Rising Sun, das ist Jonathan Confused, Mister Confused, neben Ihnen sitzt Rising Sun, mit dem Sie die nächsten Wochen eng zusammenarbeiten werden. Ich bin mir sicher, dass Sie beide gut harmonieren werden, ein brauner und ein roter Inder.“
Monsieur Représentant schien der Meinung zu sein, einen guten Witz gemacht zu haben und lachte laut. Rising Sun zeigt nach Indianerart keine Reaktion und Jonathan Confused machte den Eindruck, als ob er seinem Chef überhaupt nicht zugehört hatte. Als Monsieur Représentant registrierte, dass sein Witz nicht die positive Resonanz auslöste, die er erwartet hatte, hielt er kurz inne und sagte dann missmutig:
„Das wäre es für heute, meine Herren. Mister Confused, bitte zeigen Sie Ihrem neuen Kollegen sein Büro. Au revoir, Messieurs.“
Ohne ein Wort zu sagen, stand der Inder auf und verließ das Büro seines Chefs. Rising Sun folgte ihm. Als die beiden das gemeinsame Büro erreicht hatten, zeigte der Inder auf den freien Platz, setzte sich auf seinen Stuhl und widmete sich sofort seinem Computer. Rising Sun blieb erst einmal stehen, sah sich in dem Büro um und genoss den Ausblick durch die großzügige Fensterfront. Er wusste nicht so recht, was er von dem Verlauf der letzten Viertelstunde halten sollte. Aber er war hier bei der UNO, um etwas zu bewegen und hielt es deshalb für angebracht, sofort die Initiative zu ergreifen. Er ging um den Schreibtisch herum, stellte sich hinter seinen neuen Kollegen, bückte sich und zog den Stecker des Computerkabels aus der Steckdose. Jonathan wollte aufspringen, aber Rising Sun drückte ihn sanft in seinen Stuhl zurück.
„Jetzt höre mir mal gut zu, mein Freund. Ich bin hier, weil ich den Wunsch habe, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, um wieder das Wohlgefallen Manitus zurückzugewinnen. Und falls du nicht weißt, wer Manitu ist: Er hat diese Welt nach seinen Vorstellungen erschaffen und uns Menschen beauftragt, gut auf sein Werk aufzupassen.“
Der Inder nahm seine Brille ab und sah seinen neuen Arbeitskollegen mit großen Augen an. Dann folgte ein Redeschwall, von dem Rising Sun kein Wort verstand. Jonathan setzte seine Brille wieder auf und nahm seinen Computer wieder in Betrieb. Dann glitten seine Finger mit einer Geschwindigkeit über die Tastatur des Computers, die Rising Sun noch nie gesehen hatte und ihn faszinierte. Der Indianer konzentrierte sich jetzt auf den Bildschirm und las mit:
„Indianer, ich habe ein Problem mit dem Sprechen. Deswegen ist es anfänglich besser, du sprichst und ich antworte per Computer.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst, Jonathan.“
Der Inder holte tief Luft, entspannte sich merklich und wandte sich wieder der Tastatur seines Computers zu:
„Wie du weißt, heiße ich Jonathan Confused. Mein Familienname scheint mein Schicksal zu sein. Solange ich denken kann, bin ich konfus und verwirre die Menschen, mit denen ich zusammenkomme. Das wird dich jetzt wahrscheinlich verwirren, Indianer. Also fange ich am besten am Anfang an, nämlich bei meiner Geburt. Ich wurde vor 40 Jahren in Kalkutta in Indien geboren, wo ich auch meine Kindheit verbracht habe.
Ich war das einzige Kind meiner Eltern, die, als ich zehn Jahre alt war, Indien verließen, um in New York für die UNO zu arbeiten. Ich war ein sehr schüchternes Kind und bin auch heute noch kontaktarm. Wenn andere gleichaltrige Kinder in ihrer Freizeit gespielt haben, bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mir Wörterbücher ausgeliehen, mit denen ich mich in jeder freien Minute beschäftigt habe. Ich hatte und habe eine sehr gute Auffassungsgabe. Schon nach wenigen Monaten beherrschte ich die jeweilige Sprache, mit der ich mich beschäftigt habe, allerdings mit einer Einschränkung: Ich war in der Lage, die Sprache zu lesen und zu schreiben, hatte aber Schwierigkeiten, sie zu sprechen. Denn in meinem Kopf herrschte bald ein Wörterchaos, dass ich nicht in den Griff bekam und mit der Zeit noch schlimmer geworden ist. Ich kann folgende Sprachen lesen und schreiben: Bengali, Hindi, Englisch, Russisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Chinesisch, Vietnamesisch und Japanisch. Zurzeit beschäftige ich mich intensiv mit Koreanisch und einigen afrikanischen Sprachen. Wenn ich aus meiner Sicht normal spreche, versteht mich niemand, weil ich alle Sprachen durcheinanderwerfe. Deshalb sage ich lieber gar nichts mehr und korrespondier lieber per Computer. Mein Vater war ein guter Bekannter von Monsieur Représentant und hat mich ihm als Back Office Mann empfohlen. Der Monsieur hat schnell meinen Wert für seine Karriere erkannt und mich eingestellt. Seitdem übersetzte ich für meinen Chef den ganzen Schriftverkehr und alle wichtigen und unwichtigen Nachrichten. Und nicht nur das. Ich bereite auch seine Reden vor und bin für die Verteilung und Überwachung des Budgets in seinem Bereich zuständig. Da es in der Vergangenheit nie Anlass zur Kritik an meiner Arbeit gab, lässt er mir absolut freie Hand.“
„Warum erzählst du mir das alles, Jonathan?“
„Ich bin kein religiöser Mensch, bin aber genau wie du der Meinung, dass wir alles tun müssen, um unseren Planeten Erde vor dem Untergang zu retten. Dazu müssten wir allerdings den Verantwortlichen auf dieser Welt klarmachen, dass wir Menschen uns unserer Verantwortung für alle Menschen, Tiere und die Natur bewusstwerden und unser tägliches Handeln schnellstens ändern. Hier bei der UNO denken die meisten Beschäftigten nur daran, wie sie möglichst stress- und unfallfrei ihren Feierabend erreichen, ihre reichlich vorhandene Freizeit sinnlos gestalten und ihre Altersvorsorge optimieren können. Ich habe nicht die Power und das Charisma, um hier etwas zu ändern. Aber du hast beides, Indianer, und deshalb das Potenzial, etwas zu bewegen. Lass uns zusammenarbeiten.“
Nachdem er den letzten Satz geschrieben hatte, stand er auf und streckte Rising Sun seine rechte Hand entgegen. Ohne zu zögern, ergriff der Indianer die angebotene Hand und drückte sie.
Den restlichen Arbeitstag zeigte der Inder dem Indianer auf seinem Computer, an welchen Stellen in der Welt es zurzeit aus der Sicht der UNO Konfliktherde gab und welche Konflikte als nächstes in der Abteilung von Monsieur Représentant zur Lösung auf der Agenda standen.
Um 17.00 Uhr verließen die beiden neuen Arbeitskollegen das Bürogebäude der UNO, und zwei Stunden später traf sich Rising Sun mit seinem Freund Karl zum Bier. Karl merkte sehr schnell, dass sein Freund mit den Gedanken woanders war und die beiden trennten sich nach einer Stunde. Zum Abschied klopfte Karl dem großen Indianer aufmunternd auf die Schulter.
„Wenn du Probleme hast, dich in dem UNODschungel zurecht zu finden, rufe mich an. Ich kann dir vielleicht weiterhelfen.“
Rising Sun bedankte sich, war sich aber sicher, Karls Hilfe nicht in Anspruch nehmen zu müssen, denn er hielt Jonathan Confused für einen absoluten Dschungelprofi. Und er sollte mit dieser Einschätzung Recht behalten.
Die nächsten Tage und Wochen nutzte Jonathan damit, dem Indianer die räumlichen, organisatorischen und politischen Strukturen der UNO näher zu bringen. Rising Sun zeigte für alle drei Strukturen kein großes Interesse, denn er hatte das Gefühl, dass sie keinen Beitrag dazu leisten konnten, dass er die Ziele erreichen konnte, wegen derer er Mitarbeiter der UNO geworden war.
An einem Abend trafen sich die beiden in einem einfachen Restaurant, das seit mehreren Jahren das Stammlokal des Inders war. Zu Rising Suns Überraschung gab es dort neben deutschem und holländischem auch irisches Bier. Er konnte sich gut vorstellen, dass sich hier auch Brian wohl fühlen würde. Die beiden setzten sich an einen Tisch in der Ecke, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Der Inder hatte seinen Computer so auf den Tisch gestellt, dass der Indianer den Bildschirm gut sehen konnte. Rising Sun bestellte nach Rücksprache mit seinem Arbeitskollegen zwei Pint Guinness.
„Ich danke dir, dass du dir in den letzten Wochen so viel Zeit genommen hast, um mir einen guten Start in mein Berufsleben bei der UNO zu ermöglichen, Jonathan. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich in einer Abteilung arbeite, die zwar den Namen Konfliktlösungen allgemeiner Art trägt, aber trotz der Vielzahl von Konflikten auf dieser Welt arbeitslos oder untätig zu sein scheint. Kannst du mir das mal erklären?“
„Ich kann deinen Eindruck nachvollziehen. Bei der UNO ist es wichtig, dass es für jedes Problem auf unserer Welt eine Abteilung mit vielen Mitarbeitern aus vielen Ländern gibt, die dieses Problem zur Kenntnis nimmt und aktenkundig macht. Dann beschäftigen sich diese gut bezahlten Mitarbeiter erfolgreich damit, dieses Problem für die Vollversammlung der UNO so aufzubereiten, dass alle Mitgliedsländer der UNO auf der nächsten Vollversammlung ausreichend viele Argumente haben, um einen sinnvollen Lösungsansatz zu blockieren.“
Rising Sun brauchte einen Augenblick, um das, was er gerade gelesen hatte, zu verarbeiten. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Inder gerade die Wahrheit gesagt hatte.
„Könnte es uns beiden gelingen, dieses UNOSystem zu knacken, um tatsächlich mal einen Konflikt zum Vorteil aller Beteiligten und besonders für den Erhalt unseres Planeten zu lösen?“
„Ich halte es für möglich und der Gedanke gefällt mir. Ich werde darüber nachdenken.“
Den restlichen Abend wollte Jonathan alles über Rising Suns Leben und den Stamm der Namenlosen wissen.
„Gibt es eigentlich ein Wörterbuch, in dem die einzelnen Wörter eurer Sprache aufgelistet sind?“
„Ein offizielles Wörterbuch gibt es nicht. Aber ich weiß, dass mein Onkel Listiger Fuchs gemeinsam mit seinem Cousin Flinkes Wiesel die Geschichte unseres Stammes aufgeschrieben und ins Englische übersetzt hat. Daraus kann man vielleicht ein Wörterbuch ableiten.“
„Rising Sun, ich habe zwei Bitten. Du fährst in jeder freien Minute zu deinem Stamm und zu deinen Freunden. Kannst du mich beim nächsten Mal mitnehmen? Ich möchte gerne auch einmal mit deinem Vater unter dem Sternenhimmel philosophieren. Und meine zweite Bitte lautet: Kannst du mir eine Kopie der Geschichte eures Stammes besorgen, denn ich möchte eure Sprache kennenlernen.“
Wenn sich Rising Sun über diese beiden Bitten wunderte, so zeigte er es nicht.
„Ich fahre in zwei Wochen wieder nach Hause und du wirst meinem Stamm und meinen Freunden willkommen sein. Eine Kopie der Geschichte unseres Stammes wird dir mein Onkel Listiger Fuchs morgen zumailen.“
Rising Sun hielt Wort und am nächsten Tag ging eine Mail mit der Geschichte des Stammes der Namenlosen bei Jonathan Confused ein. Der Inder machte sich sofort nach dem Eingang der Mail an die Arbeit, ein Wörterbuch Sprache der Namenlosen amerikanisches Englisch / amerikanisches Englisch Sprache der Namenlosen zu erstellen. Dabei lernte er gleich diese Sprache. Er schickte das Wörterbuch an Listiger Fuchs mit der Bitte um Rückmeldung. Diese kam nach einem Tag per Mail.
„Sehr geehrter Herr Confused, mein Cousin Flinkes Wiesel und ich sind begeistert. Ist es vermessen, Sie zu bitten, unsere Sprache auch noch ins Spanische zu übersetzen?“
„Danke für das positive Echo, Listiger Fuchs. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Viele Grüße an Flinkes Wiesel. Gruß Jonathan Confused.“
Es vergingen nur wenige Tage und dann hielt Listiger Fuchs auch dieses Wörterbuch in den Händen.
Vereinbarungsgemäß nahm Rising Sun seinen Kollegen mit zu seinem Stamm. James holte die beiden mit Brians Privatflugzeug in New York ab. Der Inder trug auch jetzt die gleiche Kleidung wie immer. Er hatte Rising Sun einmal verraten, über dreißig absolut identische Anzüge, Hemden, Fliegen und Schuhe zu besitzen, die von seiner Haushälterin regelmäßig gepflegt wurden.
Vom Flughafen fuhren sie direkt weiter zu den Goodness‘, wo sie schon von Brian, Suzette und Mary erwartet wurden. Rising Sun hatte seine Freunde darauf vorbereitet, dass der Inder es bevorzugte, per Computer zu kommunizieren und auch den Grund dafür verraten. Auch Suzette war fasziniert, als sie sah, wie virtuos Jonathan die Tastatur des Laptops beherrschte und von einer Sekunde auf die andere vom Englischen ins Französische und umgekehrt wechselte.
Nach einem kleinen Imbiss und einem großen Glas Guinness verabschiedeten sich Rising Sun und Jonathan Confused und gingen weiter zum Dorf der Namenlosen. Vor dem Kakteenwald wurden die beiden schon von Häuptling Diogenes und seiner Frau Strahlende Sonne erwartet. Rising Sun hatte die beiden vor einer Stunde angerufen, und für seine Eltern war es selbstverständlich, den Arbeitskollegen ihres Sohns am Dorfeingang persönlich in Empfang zu nehmen. Aber sie waren nicht alleine gekommen. Listiger Fuchs, seine sehr schlanke und sehr große Frau Liebliche Kaktee und seine weniger große, sehr vollschlanke und sehr liebliche Tochter Duftende Blume hatten sich den beiden angeschlossen. Rising Sun machte alle miteinander bekannt. Auf dem Weg durch den Kakteenwald zum Häuptlingszelt ließ Duftende Blume den Inder nicht aus den Augen. Man sah ihr deutlich an, dass ihr der Arbeitskollege ihres Cousins sehr gut gefiel. Und wie Rising Sun amüsiert beobachtete, schien das auf Gegenseitigkeit zu beruhen.
Als sie das Zelt des Häuptlings erreichten, war Scheues Reh, die Zwillingsschwester von Strahlende Sonne, noch dabei, das Essen für die Gäste vorzubereiten. Die Zeit bis zum Essen nutzte Diogenes, um gemeinsam mit seinem Sohn dessen Gast das „Schlafzimmer“ zu zeigen. Der Häuptling hatte eine weitere Tonne besorgt, denn Jonathan wollte unbedingt genau wie Rising Sun und dessen Vater erst philosophieren und danach in einer Tonne schlafen. Als die drei vor der „Gästetonne“ standen, wandte sich der Häuptling an den Inder:
„Ist das Braungesicht zufrieden mit seiner Schlafstelle?“
Jonathan war nicht nur zufrieden, sondern begeistert. Er stellte seinen kleinen Koffer neben der Tonne ab und folgte dann den beiden Indianern zurück zum Häuptlingszelt. Mittlerweile war das Essen fertig. Es gab die Spezialität der Zwillingsschwestern: Pemmikan nach Art des Stamms der Namenlosen. Jonathan aß mehrere Portionen, lobte das vorzügliche Essen und eroberte so die Herzen der Schwestern im Sturm.
Nach dem Essen wollte Rising Sun Jonathan bei einem Verdauungsspaziergang die einmalige Flora und die Tiere in der näheren Umgebung des Dorfes zeigen. Aber bevor die beiden auf den Weg machen konnten, betrat Liebliche Kaktee gemeinsam mit ihrer geschminkt noch lieblicher aussehenden Tochter Duftende Blume das Häuptlingszelt. Mutter und Tochter galten als die besten Schneiderinnen des Stamms der Namenlosen. Liebliche Kaktee hielt ein Paar reich verzierte Mokassins in den Händen und Duftende Blume, die ihrem Namen jetzt wirklich alle Ehre machte, einen Lendenschurz in ihrer rechten Hand. Die beiden Frauen gingen auf den verdutzten Inder zu und forderten ihn unmissverständlich auf, diese Sachen anzuziehen. Leicht errötend sagte Duftende Blume:
„Wenn sich das Braungesicht bei uns wirklich zuhause fühlen will, sollte es sich auch wie ein Mann unseres Stammes kleiden.“
Ohne einen Augenblick zu zögern, nahm Jonathan den beiden Frauen den Lendenschurz und die Mokassins ab, verschwand hinter einer Decke, die vor der Zeltwand hing und kam wenige Augenblicke später als echter Indianer, jedenfalls was die Kleidung betraf, wieder zum Vorschein. Über dem linken Arm und in der rechten Hand trug er seine normale Kleidung und die Schuhe. Während Rising Sun, sein Vater und sein Onkel die größte Mühe hatten, ernst zu bleiben, waren die anwesenden Frauen begeistert. Jonathan strahlte mit Duftende Blume um die Wette, verbeugte sich und bedankte sich in der Sprache der Namenlosen, ohne auch nur ein Wort aus einer anderen Sprache zu vermischen. Dann drehte er sich um und verließ das Zelt, um seine Kleidungsstücke neben seiner Tonne ordentlich abzulegen. Rising Sun folgte ihm. Danach zeigte der Indianer seinem Gast die Umgebung des Dorfes. Jonathan genoss das Durchsteifen der Wildnis, wie er es nannte, und war von der Artenvielfalt in dieser für einen Fremden lebensfeindlich erscheinenden Wüstenlandschaft überrascht.
Als die Sonne unterging, saßen Häuptling Diogenes, Rising Sun und Jonathan Confused vor ihren Tonnen, schauten in den wunderschönen Sternenhimmel und philosophierten noch einige Stunden, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Am nächsten Morgen gab es zum Frühstück erneut Pemmikan und wieder verspeiste der Inder mit großem Genuss mehrere Portionen. Als Jonathan im Anschluss an das Essen gemeinsam mit Duftende Blume einen Spaziergang durch das Dorf machte, nahm der Häuptling seinen Sohn zur Seite.
„Mein Sohn, das Braungesicht, überrascht mich sehr positiv. Er isst Unmengen von Pemmikan, schläft in einer Tonne, philosophiert wie einer von uns, hat uns ein Wörterbuch geschenkt und, was am meisten zählt, unsere Frauen mögen ihn. Sag ihm, dass er jederzeit bei uns willkommen ist.“
Zurück in New York suchten die beiden als erstes ihr Stammlokal auf. Nach dem Essen erhob der Inder feierlich sein Guinnessglas und sagte, wieder ohne ein Wort aus einer anderen Sprache zu vermischen, in der Sprache der Namenlosen:
„Die letzten Tage waren die schönsten in meinem Leben. Dafür danke ich dir, Indianer. Als kleines Dankeschön werde ich dir in einer Woche an dieser Stelle einen Vorschlag präsentieren, wie wir deinem Ziel, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, einen Schritt näherkommen. Ich denke da einen Konflikt im Pazifikraum, den wir so lösen müssen, dass alle beteiligten Staaten freiwillig von ihren Positionen abrücken und zu Gunsten der Natur zurückstecken. Aber das wird eine harte Nuss.“
Bei dem Wort „freiwillig“ kniff Jonathan Rising Sun vertraulich ein Auge zu.
Eine Woche später trafen sich die beiden auf Wunsch des Inders schon zur Mittagszeit in ihrem Stammlokal. Jonathan kam etwas später, denn er musste noch ein paar Details in seine Präsentation einpflegen, die er für den Indianer vorbereitet hatte. Nach einer reichlichen Mahlzeit für den Inder und einem doppelten irischen Verdauungswhiskey für den Indianer erläuterte Jonathan Rising Sun zuerst die spezielle Konfliktsituation im Pazifikraum. Er benutzte zur Unterstützung wieder seinen Computer, denn der Wortschatz der Namenlosen reichte bei weitem nicht aus, um die komplizierten politischen Zusammenhänge und Spitzfindigkeiten auszudrücken.
„Es gibt eine Inselgruppe im Pazifikraum, genauer gesagt im Nordwest-Pazifischen Becken. Die Inseln dieser Gruppe sind vulkanischen Ursprungs und werden immer wieder von leichten bis mittelschweren Erbeben und damit verbundenen Stürmen und Überschwemmungen heimgesucht. Die Inseln sind für Menschen unbewohnbar, aber sie beheimaten eine einmalige Tier- und Pflanzenwelt, die sich den Naturgewalten angepasst hat. Viele der vorkommenden Pflanzen- und Tierarten gibt es nur dort. In der Vergangenheit hat sich außer dem einen oder anderen Forscherteam kein Mensch und kein Staat für diese Inseln interessiert. Aber seit es vor zwei Jahren die ersten Meldungen gab, dass es in den Gewässern rund um diese Inseln riesige Gas- und Erdölvorkommen und auf den Inseln selbst zahllose Bodenschätze geben soll, melden immer mehr Länder Ansprüche auf den Besitz dieser Inselgruppe an. Niemand weiß, wer diese Meldungen vor welchem Hintergrund in die Welt gesetzt hat. Obwohl mittlerweile belastbare Untersuchungen von verschiedenen anerkannten Spezialisten belegen, dass, falls es dort überhaupt Bodenschätze gibt, diese nur unter größten und lebensgefährlichen Anstrengungen und absolut unwirtschaftlich gewonnen werden können, streiten sich die Chinesen, Japaner, Koreaner und Vietnamesen um diese Inselgruppe. Und seit vor einigen Monaten auch noch die Amerikaner Ansprüche auf die Ausbeutung der Bodenschätze dieser Inselgruppe angemeldet haben, ist der Ton zwischen den beteiligten Ländern zusehends rauer und aggressiver geworden. Ich habe deshalb vor einigen Wochen von unserem Chef die Aufgabe bekommen, eine Konferenz mit den beteiligten Staaten vorzubereiten, mit dem Ziel, die Wogen zu glätten, was bei dem Sturm, der dort herrscht, nicht sehr leicht sein wird. Zuerst hatte ich keine Lust, viel Energie in die Vorbereitung dieser Konferenz zu investieren, aber seit ich dich, deine Freunde und deinen Stamm kennengelernt habe, spüre ich, dass mit mir eine von mir nicht für möglich gehaltene Veränderung vorgeht. Ich werde dich deshalb ab sofort aus vollem Herzen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei der Erreichung deiner Ziele unterstützen und habe gestern unserem Chef mitgeteilt, dass du dich dieses Konfliktes annehmen und auf deine Art eine Lösung herbeiführen möchtest. Er hat sofort zugestimmt, denn er ist neugierig, wie der ‚Naturbursche‘, wie er sich ausdrückte, dieses Thema angeht. Uns stehen wie immer, wenn ich mich in der Regel erfolglos um die Lösung eines Konfliktes bemühe, nahezu unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Allerdings erwartet unser Chef dafür auch immer ein positives Ergebnis. Das hört sich auf den ersten Blick widersprüchlich an, aber ‚positives Ergebnis‘ bedeutet für unseren Chef, wenn er in der Presse liest: ‚Die UNO hat alles Mögliche getan, um den Konflikt zu lösen. Aber zurzeit stehen sich die einzelnen Konfliktparteien noch unversöhnlich gegenüber. Trotzdem lässt die UNO auch weiterhin nichts unversucht, um mit den Konfliktparteien in einem intensiven und fruchtbaren Dialog zu bleiben.‘ Und wenn es mal den unwahrscheinlichen Konflikt gibt, auf den noch nicht einmal diese Phrase zutrifft, habe ich mit den Redaktionen der Zeitungen, die der Chef regelmäßig liest, die Vereinbarung getroffen, dass die jeweiligen Verlage mindestens ein Extraexemplar für meinen Chef drucken, in dem der vorgenannte Wortlaut: ‚Die UNO scheut weder Mühen noch Geld, um mit den Konfliktparteien in einem fruchtbaren und intensiven Kontakt zu bleiben‘ als Schlagzeile zu lesen ist. Dafür bin ich den Redakteuren ab und zu einen Gefallen schuldig.“
Rising Sun musste das Gehörte erst einmal verdauen. Er dachte an seinen Vater und an dessen Strategie der Konfliktlösung. Es musste einen Weg geben, wie er diese Strategie bei der UNO anwenden und seine persönlichen Ziele erreichen konnte.
„Das hört sich alles interessant an, Jonathan. Lass uns also damit beginnen, die besagte Konferenz so vorzubereiten, dass unser Chef nicht von mir enttäuscht wird.“
„Ich mache dir einen Vorschlag, Rising Sun. Wir essen erst etwas und bevor wir mit der Vorbereitung der Konferenz beginnen, stelle ich dir jemanden vor, der maßgeblich daran beteiligt war, die Voraussetzungen für die erfolgreiche Realisierung unseres Plans zu schaffen.“
Während des Essens beobachtete der Indianer immer wieder unauffällig die Gäste im Lokal.
„Kann es sein, dass wir schon länger von einem Mann beobachtet werden, der auch schon die letzten Male im Lokal saß, als wir uns hier getroffen haben, aber immer anders aussieht?“
„Du hast gute Augen, Indianer. Ja, es kann sein. Aber du kannst mir vertrauen. In diesem Lokal verkehren nur die Guten.“
„Ich vertraue dir, Bruder Hungriges Braungesicht.“
„Hungriges Braungesicht?“
„So nennen dich ab sofort die Brüder und Schwestern meines Stammes. Ich hätte nicht gedacht, dass dir unser Ältestenrat überhaupt und dann so schnell einen Namen verleiht. Normalerweise bekommen Fremde keinen Ehrennamen und selbst die Brüder und Schwestern unseres Stammes müssen meist Monate und Jahre auf einen Namen warten. Aber du hattest mächtige Fürsprecher. Die Frauen unseres Stammes haben ihren Männern solange Druck gemacht, bis der Ältestenrat nicht anders konnte, als dir den von den Frauen vorgeschlagen Namen zu verleihen. Bei deinem nächsten Besuch bei uns wird dir dein Name offiziell verliehen. Es gab übrigens noch einen Alternativvorschlag für deinen Namen: Braungesicht mit den schwarzen glänzenden Schuhen.“
Hungriges Braungesicht nahm seine Brille ab und weinte vor Freude. Rising Sun bestellte zwei neue Guinness und ließ dann seinem Kollegen die nötige Zeit, um sich wieder zu sammeln.
Nach dem Essen verließ der Inder seinen Platz und ging auf den Mann zu, den der Indianer beobachtete hatte. Die beiden wechselten einige Worte. Dann nickte der Fremde, stand auf, folgte dem Inder zum Tisch, an dem Rising Sun saß und stellte sich dem Indianer vor.
„Mein Name ist Wladimir Puschkin und ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Rising Sun.“
Rising Sun erhob sich und sah dem Mann, der fast genauso groß war wie er, lange in die Augen. Dann antwortete er auf Russisch.
„Ich bin mir sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden, Wladimir.“
Die drei setzten sich und begannen mit der Vorbereitung einer Konferenz der besonderen Art. Jonathan fasste noch einmal den Hintergrund der Konferenz zusammen. Anschließend erläuterte Wladimir den beiden UNOMitarbeitern, wie er vorgehen würde, um die Konferenz zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Der Indianer hörte interessiert zu, ohne eine Regung zu zeigen. Dann ergriff er das Wort:
„Wladimir, ich bin davon überzeugt, dass dein Vorschlag sehr erfolgversprechend ist, auch wenn ich leichte moralische Bedenken habe. Aber wenn mein Vater Häuptling Diogenes jetzt hier am Tisch säße, würde er sagen: ‚Mein Sohn, wenn du dein hohes Ziel erreichen willst, musst du zu ungewöhnlichen Mitteln greifen.‘ Mein Instinkt sagt mir, dass wir Wladimirs Vorschlag noch etwas ergänzen sollten.“
Und dann erläuterte der Indianer den beiden, wie er vorgehen würde. Wladimir konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Indianer hatte wirklich Potenzial. Der Inder wollte nicht zurückstehen und brachte auch noch einen Vorschlag ein. Rising Suns Gesichtsausdruck änderte sich vollkommen. Er sah die beiden an und schmunzelte.
„Jonathan, Wladimir, ich bin jetzt davon überzeugt, dass die Konferenz ein voller Erfolg wird. Das müssen wir feiern.“