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2 Der Stamm der Namenlosen

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Als vor über 500 Jahren die neue Welt entdeckt wurde, lebten dort Menschen, die von den Entdeckern Amerikas irrtümlich für Inder gehalten wurden. Da sie im Gegensatz zu den bekannten Indern eine hellere, ins rötliche tendierende Hautfarbe besaßen, wurden sie später im Englischen Red Indians, rote Inder, und im Deutschen Indianer genannt. Es gab die unterschiedlichsten Indianerstämme, die sich über weite Teile Nordamerikas verteilten. Da sie den Eroberern waffentechnisch deutlich unterlegen waren, wurden die Ureinwohner im 18. und 19. Jahrhundert immer weiter aus ihren angestammten Gebieten verdrängt und später in Reservate abgeschoben. Ein Stamm unterschied sich von allen anderen. Er war deutlich kleiner und bewohnte eine Gegend, die so unwirtlich war, dass kein Siedler sich dort niederlassen wollte und der Stamm deshalb nicht aus seinem Gebiet verdrängt wurde. Da diese Indianer kaum Kontakt zu anderen Stämmen oder später zu den weißen Eroberern pflegten, wusste keiner, wie der Stamm hieß. Deshalb bekam er den Namen the nameless ­ die Namenlosen. Dieser Stamm hatte sich schon vor langer Zeit mit der spärlichen Vegetation in seinem Gebiet arrangiert und entlockte der kargen und trockenen Erde genügend Nahrung für den ganzen Stamm. Das Wasser entnahmen die Indianer gut versteckten Brunnen, die schon ihre Vorfahren angelegt hatten.

Ende des 19. Jahrhunderts verließen die ersten männlichen Stammesmitglieder ihr Gebiet und machten sich auf den Weg in die großen Städte der Weißen. Da sie sehr genügsam waren und eine schnelle Auffassungsgabe hatten, brachten sie es schnell zu einem bescheidenden Wohlstand. Ihre Familien ließen sie in der Obhut ihres Stammes zurück. Mehrmals im Jahr reisten sie zurück in ihr Stammesgebiet, um ihre Familien und Freunde zu besuchen. Schon bald studierten die ersten Namenlosen und wurden angesehene Anwälte und Kaufleute. Aber alle verband der Wunsch, ihre freie Zeit und ihren Lebensabend gemeinsam mit ihrem Stamm zu verbringen.


Mitte des 20. Jahrhunderts bekam der Stamm der Namenlosen Besuch von zwei männlichen und hochrangigen Vertretern eines Ölkonzerns. Dieser Konzern war davon überzeugt, dass es unter dem Gebiet, auf dem der Stamm der Namenlosen lebte, riesige Vorkommen an Gas und Erdöl gab und wollte deshalb das ganze Gebiet käuflich erwerben. Die beiden Herren gingen davon aus, mit diesem kleinen und in jeder Hinsicht zurückgebliebenen Stamm schnell und für ein Butterbrot einig zu werden. Der Häuptling hatte keine große Lust, sich mit diesen beiden unsympathischen Bleichgesichtern zu unterhalten, hielt ihnen die Visitenkarte eines Mitglieds seines Stammes unter die Nase, der irgendwo erfolgreich als Anwalt arbeitete und forderte dann seine ungebetenen Gäste durch ein unmissverständliches Zeichen auf, sich schnell wieder zu entfernen.

Die merklich irritierten Bleichgesichter kamen der Forderung unverzüglich nach und vereinbarten einen Termin mit dem Anwalt, dessen Name auf der Visitenkarte stand. Bei dem ersten Gespräch wurden den beiden hochrangigen Vertretern schnell klar, dass es sich bei der Annahme, der Stamm der Namenlosen bestehe nur aus zurückgebliebene Idioten, um eine der größten Fehleinschätzungen in der erfolgreichen Unternehmensgeschichte des Ölkonzerns handelte. Der Anwalt las sich den Vertragsentwurf des Ölkonzerns kurz durch, lächelte dann seine Gäste freundlich an, zerriss den Vertragsentwurf und legte ihn dann ordentlich im Papierkorb ab.

„Meine Herren, ich besuche in drei Wochen meinen Stamm. Dort werde ich ihren Wunsch vortragen und besprechen. Ich melde mich dann wieder bei Ihnen. Damit Sie nicht mit leeren Händen vor Ihren Vorstand treten müssen, möchte ich Ihnen etwas mit auf den Heimweg geben. Damit ein weiteres Gespräch überhaupt Sinn ergibt, muss der von Ihnen angebotene Kaufpreis mindestens mit der Zahl 100 multipliziert werden. Die Betonung liegt auf mindestens.“

Der Anwalt startete am nächsten Tag mit zwei anderen Stammesmitgliedern die Suche nach einer alternativen Fläche, die als neue Heimat für den Stamm der Namenlosen geeignet war. Der eine war ein Geologe, dem der Ruf vorauseilte, Wasservorkommen „riechen“ zu können, eine Fähigkeit, die im Stamm der Namenlosen keine Seltenheit war. Der andere hatte sich als Botaniker einen Namen gemacht. Die drei wurden schnell fündig. Es handelte sich um eine abgelegene Wüstenregion, die an den Rändern von ausgedehnten Kakteenwäldern eingerahmt war. Der Geologe fand schnell eine ergiebige Wasserader und der Botaniker war sehr zufrieden mit der vorhandenen Flora. Die beiden Experten waren sich sicher, dass ihr Stamm hier gut leben konnte.

Als der Anwalt das nächste Mal seinen Stamm besuchte, informierte er den Ältestenrat während eines Pow Wows über den Stand der Verkaufsverhandlungen mit dem Ölkonzern. Die daran anschließenden Wortmeldungen der ansonsten sehr wortkragen Indianer zogen sich erwartungsgemäß in die Länge, aber diesmal ließ der Anwalt nicht locker und schließlich beauftragte ihn der Häuptling offiziell damit, mit dem Ölkonzern ernsthaft zu verhandeln. Das tat der Anwalt dann auch, und zwar sehr erfolgreich. Mit dem Hinweis, dass eine große Mehrheit der Stammesmitglieder ein angemessenes Schmerzensgeld erwarte, weil sie ja nun ihre geliebte Heimat auf immer verlassen müssten, verlangte er auf das zweite Kaufangebot des Konzerns (erstes Angebot x 100) einen weiteren Aufschlag von 50%. Als die Vertreter des Ölkonzerns merkten, dass der Anwalt offensichtlich keine Lust verspürte, noch weiter über den Kaufpreis zu diskutieren, willigten sie ein. Es wurde vereinbart, den Vertrag im Beisein eines Notars im Zelt des Häuptlings zu unterschreiben. Nach dem Vertragsabschluss schwammen sowohl der Ölkonzern als auch die Indianer: Der Ölkonzern in Öl und Gas und die Namenlosen in Geld.

Ein vom Anwalt ins Leben gerufener elfköpfiger Rat, alle vom Stamm der Namenlosen, verwaltete und vermehrte das neue Vermögen des Stamms zum Wohle aller Stammesmitglieder, die sich alle in ihrer neuen Heimat sehr wohl fühlten, denn das auf den ersten Blick undurchdringliche Kaktusfeld, das die neue Heimat der Namenlosen umschloss, hielt Neugierige sehr wirkungsvoll fern.


Im vierten Quartal des 20. Jahrhunderts hieß der Häuptling des Stamms der Namenlosen Diogenes. Der Rat des Stamms hatte ihm diesen Ehrennamen verliehen, weil er wie sein großes Vorbild den ganzen Tag in einer Tonne vor dem Häuptlingszelt lag, eine Pfeife rauchte und philosophierte. Berüchtigt waren die Streitschlichtungen, die er von Amts wegen vornahm. Es gab zwar nur selten Streit unter den Indianern des Stammes der Namenlosen, aber wenn es Streit gab, dann richtig. Bis Diogenes Häuptling wurde. Er begann jede Gerichtsverhandlung mit einem Pow Wow. Das war für seine Stammesbrüder und ­schwestern nichts Neues. Neu war der Zeitbedarf, den Diogenes für so ein Pow Wow benötigte. Der Rekord lag bei 48 Stunden. Da alle Streitparteien dann schon längst schliefen, war für ihn der Streitfall erledigt und er musste kein Urteil sprechen. Diogenes Strategie der Streitschlichtung sprach sich schnell herum, und so beschlossen die Indianer vom Stamm der Namenlosen, ihre Streitigkeiten zukünftig heimlich und vor allen Dingen ohne den Häuptling zu regeln. Diogenes nahm dies erfreut zur Kenntnis, denn so hatte er noch mehr Zeit zu philosophieren.

Während Diogenes sehr groß und schlank war, wog seine Frau, obwohl fast einen halben Meter kleiner, deutlich mehr als ihr Mann. Sie war immer gut gelaunt und strahlte mit der Sonne um die Wette. Deshalb hatte ihr der Rat des Stammes den Namen Strahlende Sonne gegeben. Nach vielen Versuchen brachte Strahlende Sonne einen gesunden Jungen zur Welt. Der Kleine war schon bei der Geburt sehr groß, auffallend mager, hatte sehr große Füße und faszinierende schwarze Augen. Diogenes und Strahlende Sonne konnten sich nicht auf einen Namen einigen, und so wuchs ihr Sohn die ersten Wochen und Monate ohne einen Namen auf, was bei einem Stamm mit dem Namen die Namenlosen nicht wirklich überrascht. Aber schon bald waren viele Stammesmitglieder der Meinung, dass sich der Kleine redlich einen Ehrennamen verdient hatte. Denn jeden Morgen bei Sonnenaufgang meldete sich der Häuptlingssohn mit lauter Stimme und weckte dadurch die Hunde, die sich ebenfalls sofort lautstark bemerkbar machten. Und so brauchte kein Namenloser einen Wecker, vorausgesetzt, er wollte überhaupt bei Sonnenaufgang aufstehen. Diogenes wurde zu einer eilig einberufenen Versammlung geladen, auf der der selbsternannte Sprecher des Rates völlig Indianer untypisch sofort zur Sache kam, denn er fürchtete Diogenes‘ Pow Wow­Technik.

„Häuptling Diogenes, wir möchten dir zwei Dinge mitteilen:

- Der Junge bekommt den Ehrennamen Rising Sun.

- Das frühe Geschrei deines Sohnes stört uns und die Hunde. Wir fordern dich deshalb auf, dies unverzüglich abzustellen.“

Zustimmendes Gemurmel der anwesenden Ratsmitglieder war zu hören. Diogenes überlegte kurz, erhob sich dann von seinem Platz und blickte in die Runde.

„Ich bin mit dem Namen einverstanden und kümmere mich, howgh.“


Der Häuptling besorgte am nächsten Morgen eine zweite, etwas kleinere Tonne, die er gemeinsam mit seiner eigenen Tonne an den Dorfrand rollte. Und gegen den anfänglichen Widerstand von Strahlende Sonne zog er mit Rising Sun dort ein. Der Dorffriede war wiederhergestellt, denn das Geschrei des Jungen war jetzt im Dorfkern nicht mehr zu hören, und den Häuptling hatte es sowieso noch nie gestört.


Rising Sun wuchs sehr schnell. Und kaum, dass er laufen konnte, erkundete er auch schon zielstrebig alleine die Umgebung. Er war immer barfuß unterwegs und weigerte sich standhaft, die hübsch verzierten Mokassins, die ihm seine Tante Liebliche Kaktee geschenkt hatte, anzuziehen. Als ihn sein Vater einmal darauf ansprach, antwortete der Junge:

„Vater Häuptling, ich habe von Adlerauge gelernt, mit meinen Füßen zu sehen und zu fühlen. Wenn ich die Mokassins anziehe, bin ich blind und spüre nichts mehr.“

Der Vater fand die Aussage seines Sohnes plausibel und damit war das Thema Mokassin sehr zum Leidwesen von Liebliche Kaktee erledigt. Rising Sun kannte bald alle Pflanzen in der Umgebung und lernte von den alten Frauen im Dorf, wie sie hießen und welchen Nutzen die Menschen von den einzelnen Pflanzenarten hatten. Dann widmete er sich der Fauna rund um das Dorf. Er spielte mit den Spinnen, Käfern, Ameisen, Schlangen und was sonst noch auf der Erde herumkrabbelte. Den Tieren schien es zu gefallen, denn sie warteten schon jeden Morgen auf ihren menschlichen Freund. Manchmal saß Rising Sun stundenlang auf einem großen Stein und beobachtete die Vögel. Dann wünschte er sich, ebenfalls fliegen und die Welt einmal von oben betrachteten zu können. Da er pünktlich zu den Mahlzeiten im Häuptlingszelt saß und immer gut gelaunt war, interessierten sich seine Eltern nicht weiter darum, wo sich ihr Sohn den ganzen Tag aufhielt. Sie wunderten sich nur, dass Rising Sun so selten mit gleichaltrigen Kindern spielte. An den Abenden saßen Vater und Sohn vor ihren Tonnen, betrachteten schweigend die unendliche Zahl funkelnder Sterne und manchmal philosophierten sie über das, was ihnen gerade durch den Kopf ging.


Mittlerweile war Rising Sun fünf Jahre alt. Er war sehr groß für sein Alter, hatte lange schwarze Haare, die ihm seine Mutter zu einem Zopf geflochten hatte, der ihm bis zu den Hüften reichte und war weiterhin immer barfuß unterwegs. Die meiste Zeit verbrachte er draußen vor dem Dorf, wo er am liebsten mit einer kleinen Schlangen­ und einer großen Spinnenart spielte. Die Schlangen hatten kurze spitze Zähne und waren ungiftig, was man von den Spinnen nicht behaupten konnte.

Sein Tagesablauf änderte sich, als in einer Entfernung von etwas mehr als fünf Kilometern von dem von Kakteen eingefasstem Dorf der Namenlosen in Rekordzeit von einem Unbekannten ein großes Haus gebaut wurde. Angelockt von den ihm unbekannten Baugeräuschen näherte sich Rising Sun vorsichtig der Baustelle. Die großen Baumaschinen mit den ihm fremden Geräuschen beunruhigten ihn anfangs, aber seine Neugier war größer, und er merkte schnell, dass er von den großen Maschinen nichts zu befürchten hatte. Von nun an besuchte er die Baustelle einmal die Woche. Das Zelt aus Stein wurde immer größer. Er fragte sich, ob die Menschen, die in einem so großen Zelt wohnten, auch so aussahen wie die Indianer vom Stamm der Namenlosen.

Als er wieder dem großen und immer noch wachsenden Zelt einen Besuch abstattete, entdeckte er ein neues, viel kleineres Zelt, das eher aussah, wie die Zelte, die er kannte. Seine Augen suchten instinktiv das kleine Zelt und dessen Umgebung ab und blieben dann an einem eigenartigen Gestell hängen, das neben dem Zelt in dessen Schatten stand. Aber nicht das Gestell fesselte seine Aufmerksamkeit. Es war die Frau, die auf dem Gestell lag und ihn beobachtete. Sie hatte eine weiße Haut, hellgraue Haare und fast so schwarze Augen wie er. Wie in Trance ging Rising Sun auf die Frau zu und blieb direkt vor ihr stehen. Sie lächelte ihn freundlich an und lud ihn mit ihrer rechten Hand ein, sich neben sie zu setzen. Der Junge zögerte kurz und folgte dann der Einladung, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. In diesem Augenblick kam ein großer und sehr breitschultriger Mann um das Zelt herum, erblickte Rising Sun und stutzte. Die Frau sah dies und sprach mit dem Mann in einer Sprache, die sich für Rising Sun sehr fremd anhörte. Der Mann nickte und entfernte sich, ohne sich weiter um den Jungen zu kümmern. Die Frau sprach ihn jetzt direkt an. Rising Sun verstand wieder nichts, aber er war sich sicher, dass die Frau wissen wollte, wie er hieß. Von dem Bruder seines Vaters, dem Anwalt Listiger Fuchs, wusste er, dass sein Name in der Sprache der Bleichgesichter Rising Sun oder Sol Naciente hieß. Er konnte beide Namen fehlerfrei aussprechen.

Rising Sun nannte beide Namen. Die Frau wiederholte Rising Sun und der Junge nickte. Sie zeigte auf sich und sagte Suzette. Rising Sun wiederholte den Namen so lange, bis die Frau zufrieden nickte. Der Mann kam wieder zurück und hatte ein Tablett in der Hand, auf dem zwei große Gläser standen. Er reichte ein Glas der Frau, das andere dem Jungen und verschwand dann wieder. Rising Sun probierte erst vorsichtig, trank dann das ganze Glas in einem Zug leer, wischte sich anschließend mit dem Handrücken der linken Hand den Mund ab und strahlte Suzette zufrieden an. Sie hatte nur einen kleinen Schluck getrunken und dann das Glas neben sich auf die Erde gestellt. Rising Sun sah hinauf zur Sonne, stand auf, stellte sein Glas neben das der Frau und ging ein paar Schritte in Richtung seines Dorfes, denn er wollte pünktlich zum Essen im Zelt sein. Dann drehte er sich noch einmal um und winkte Suzette zu. Sie winkte zurück. Rising Sun rannte los und schon kurze Zeit später konnte Suzette den Jungen nicht mehr sehen. Da setzte sich ein anderer Mann neben sie.

„Wer war das denn, Suzette?“

Suzette drehte sich gedankenverloren zur Seite.

„Das war Rising Sun. Ich hoffe, er kommt mich noch mal besuchen, denn ich möchte ihn gerne näher kennenlernen. Er gehört bestimmt zu dem Indianerstamm, der hinter dem Kakteenwald wohnt.


Die Arche der Sonnenkinder

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