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4 Die Sonnenkinder
ОглавлениеKehren wir zurück nach Afrika, genauer gesagt, in das Gebiet, in dem ein großer Urwald von einem Felsring eingeschlossen wird und auf dessen Nordseite Moses Smith von seinen Söhnen Stanley und Olliver beerdigt worden war.
In den mündlichen Überlieferungen der im Süden der Felsformation lebenden Völker war von einem geheimnisvollen Volk die Rede, das in einem für Menschen unzugänglichen und sehr gefährlichen Urwald leben sollte. Eine Sage erzählte von einer Frau, die sowohl von ihrem Volk als auch von allen Tieren und Pflanzen als ihre Königin anerkannt wurde. Eine andere Sage beschrieb die Menschen, die zu diesem Volk gehörten. Sie seien nicht sehr groß und hätten auf ihrer schwarzen Haut einen großen weißen Fleck, der wie eine Sonne aussah. Deshalb wurde dieses geheimnisvolle Volk in dieser Sage auch ehrfurchtsvoll das Volk der Sonnenkinder genannt. Aber gesehen hatte diese Sonnenkinder noch niemand.
Und doch gab es dieses Volk. Es zählte etwa 5.000 Menschen. Die Frauen waren sehr schlank und wurden selten größer als 1,50m. Die Männer hatten eine gedrungene Statur, waren sehr kräftig und etwas kleiner als die Frauen. Die Sonnenkinder hatten eine schwarze Hautfarbe, die in der Sonne leicht bläulich schimmerte, und dunkle Augen. Den Frauen reichten die glänzenden langen schwarzen Haare bis zu den Hüften, den Kopf der Männer schmückten kurze schwarze Locken. Mitten auf der Stirn der Frauen war ein fast kreisrunder weißer Fleck mit einem Durchmesser von vier Zentimetern zu sehen. Bei den Männern befand sich ein etwas größerer Fleck auf dem Bauch. Das Volk der Sonnenkinder war ein Matriarchat. Es wurde von einer Frau regiert, die die alleinige Entscheidungshoheit besaß. Sie herrschte über ihr Volk wie eine Königin und wurde von allen die Weise Mutter genannt. Sie unterschied sich von den anderen Frauen dadurch, dass ihr weißer Fleck deutlich heller leuchtete und phasenweise stark und weit sichtbar pulsierte. Die Männer sorgten für die Nahrung, die in der Hauptsache aus Pflanzen, Kräutern, Früchten, Blumen und Nüssen bestand. Die Frauen waren für die Erziehung des Nachwuchses und das Funktionieren des kleinen Gemeinwesens verantwortlich. Sie trugen kurze bunte Kleider und die Männer kurze braune Röcke. Beides stellten die Frauen aus sehr strapazierfähigen und wetterfesten Pflanzen her. Eine Fußbekleidung war den Sonnenkindern unbekannt.
Das Volk der Sonnenkinder lebte am südlichen Rand des Waldes innerhalb des Felsrings in der Nähe einer Lichtung, in deren Mitte ein kleiner, von großen Bäumen eingefasster See lag. Die Sonnenkinder waren sehr gute Kletterer und wohnten auf der Innenseite des Felsringes in unterschiedlichen Höhen in kleinen Höhlen, in denen es Wasserquellen gab. Wie im Norden hatte der Felsring einen versteckten Zugang, durch den die Sonnenkinder den Wald jederzeit betreten, beziehungsweise verlassen konnten. Aber im Gegensatz zum Norden erfolgte dieser Zugang zu ebener Erde durch eine fünf Meter hohe und drei Meter breite Felsspalte, die im Querschnitt wie ein W aussah und dessen Schenkel alle eine Länge von zehn Metern hatten. Die Felsaußenwand war im Bereich der Öffnung auf einer Breite von 50 Metern und einer Höhe von zwanzig Metern durch ein enges Geflecht aus Schlingpflanzen bedeckt, die den Zugang zum Wald vor den Augen Unbefugter verbargen. Im ersten Abschnitt des Zugangs hingen Lianen von der Decke, die bis zur Erde reichten und die hindurchgehenden Sonnenkinder in der gleichen Art und Weise berührten, wie die Textilbänder die Autos in der Waschstraße während des Waschvorgangs. Diese Lianen hatten als Wächter die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass von außen keine Schädlinge in den Wald gelangten, die die Existenz des Waldes gefährden konnten. Da der Boden vor dem Geflecht aus Schlingpflanzen aus blankem Fels bestand, hinterließen die Sonnenkinder beim Verlassen und Betreten des Waldes keine Spuren, so dass eine Entdeckung des Zugangs für Dritte nahezu unmöglich war.
Wenn die seltenen Regenfälle die angrenzende Wüste in ein Blumenmeer verwandelten, schwärmten die männlichen Sonnenkinder aus, um besondere Blumen und Kräuter zu sammeln, die es im Wald nicht gab und die sie als Medikamente verwendeten, um Krankheiten jeder Art zu heilen.
Die männlichen Sonnenkinder waren von der Natur mit der Gabe ausgestattet, Wasser „riechen“ zu können. So fanden sie auch in Trockenzeiten auf ihren Streifzügen durch die Wüste immer ausreichend Wasser. Da sie einen gut ausgeprägten Orientierungssinn besaßen, auch im Dunkeln gut sehen konnten und sehr ausdauernd waren, konnten sie auf ihren Streifzügen große Strecken zurücklegen.
Die Sonnenkinder glaubten, dass Mutter Natur sie geschaffen hatte und zu jeder Zeit ihre schützende Hand über sie hielt. Sie lebten mit der sie umgebenden Natur in völligem Einklang und begegneten allen Tieren und Pflanzen des Waldes mit dem größten Respekt und wurden von diesen ebenfalls respektiert. Ihr Leben endete nach 50 Jahren.
Eine Besonderheit war die Nachfolgeregelung für das Amt der Weisen Mutter. Mutter Natur hat es so eingerichtet, dass immer dann eine Nachfolgerin geboren wurde, wenn die aktuelle Weise Mutter das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Die potenzielle Nachfolgerin erkannte man dadurch, dass sofort nach der Geburt der kleine weiße Fleck auf der Stirn der Neugeborenen sehr stark pulsierte und auffällig hell leuchtete. Das neugeborene Mädchen blieb bis zum zehnten Lebensjahr bei ihrer leiblichen Mutter und zog dann zur Weisen Mutter, die die weitere Erziehung übernahm, um die zukünftige Weise Mutter an ihre Aufgabe, das kleine Volk der Sonnenkinder und die Tierwelt innerhalb des Felsrings verantwortungsbewusst und gerecht zu regieren, heranzuführen. Von diesem Zeitpunkt an wurde das Mädchen die Weise Tochter genannt. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase nahm die Weise Mutter das Mädchen mit in den Wald, um ihm die Bewohner vorzustellen und den Tieren und Pflanzen die Gelegenheit zu geben, sich an ihre zukünftige Königin zu gewöhnen. Dabei lernte die Weise Tochter auch die besonderen Eigenschaften und Eigenarten der einzelnen Pflanzen und Tiere kennen und erfuhr, welche Aufgabe jedes Tier und jede Pflanze jeden Tag erfüllen musste, damit das natürliche Gleichgewicht innerhalb des Felsrings jederzeit gewährleistet und der Erhalt des Waldes, der die Lebensgrundlage für alle bildete, sichergestellt war. Die Weise Tochter lernte weiterhin, dass sie nicht in die von Mutter Natur vorgegebenen Strukturen im Wald eingreifen durfte, es sei denn, es lag ein Notfall vor. Diesen Notfall erkannte jede Weise Mutter instinktiv und wusste sofort, wie sie dann zum Wohle aller Bewohner reagieren musste. Der letzte Notfall lag allerdings schon sehr viele Jahre zurück. Durch einen Waldbrand drohten mehrere Termitenvölker vernichtet zu werden. Die Weise Mutter rettete gemeinsam mit den Sonnenkindern große Teile der Termitenstaaten. Von diesem Zeitpunkt an hielten sich mehrere „Delegationen“ dieser Völker aus Dankbarkeit immer in der Nähe der Höhle der Königin auf, um sie gemeinsam mit anderen Insektenvölkern zu beschützen.
Während der gemeinsamen Besuche des Waldes beobachtete die Weise Mutter genau, wie sich die Weise Tochter gegenüber den Tieren und der Pflanzenwelt verhielt, und ob sie auch von allen Tieren akzeptiert wurde. Das Letztere konnte sie an der Geräuschkulisse abschätzen, die die einzelnen Tierarten verursachten, wenn die beiden Menschen den direkten Lebensraum der Tiere betraten und wieder verließen. Bis in die heutige Zeit war es noch nicht vorgekommen, dass eine Weise Tochter von den Tieren abgelehnt wurde. War die Weise Mutter sicher, dass die Weise Tochter alle Voraussetzungen erfüllte, um ihre Nachfolgerin zu werden, begann sie damit, alle wichtige Informationen, die den Fortbestand des Volks der Sonnenkinder betrafen, an die Weise Tochter weiterzugeben. Dabei handelte es sich zum einen um besondere medizinische Kenntnisse, die es nur der Weisen Mutter ermöglichten, die Sonnenkinder, aber auch die Tiere, bei besonderen Krankheiten zu heilen. Und zum anderen ging es um zwei Prophezeiungen. Die erste erwähnte einen sehr großen fremden Mann, der von Mutter Natur gesandt wird und aus der Sonne vom Himmel herabsteigt, um die Sonnenkinder aus einer großen Gefahr, die von außen droht, zu retten. Die zweite Prophezeiung berichtete davon, dass in ferner Zukunft ein männliches Sonnenkind geboren wird, das sehr viel größer als alle anderen männlichen Sonnenkinder ist, dessen weißer Fleck auf dem Bauch ähnlich hell leuchtet wie der Fleck auf der Stirn der Weisen Mutter und ebenso stark pulsiert. Dieser Mann wird das Matriarchat beendenden, der erste Weise Vater der Sonnenkinder werden und sein Volk in eine neue Zukunft führen.
Seit Menschengedenken hatte sich nichts im täglichen Ablauf der Sonnenkinder geändert. Bis vor siebzig Jahren etwas geschah, was das Leben dieses kleinen Volks erstmalig aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Wie von Mutter Natur vorgesehen, wurde ein Mädchen geboren, das alle Merkmale aufwies, die darauf hindeuteten, dass sie später die neue Weise Mutter werden würde.
Aber ein Jahr später wurde wieder ein Mädchen geboren, das die gleichen Merkmale aufwies. Die damalige Weise Mutter hatte dafür keine Erklärung und beschloss, erst einmal abzuwarten. Die beiden Mädchen entwickelten sich völlig unterschiedlich. Das jüngere Mädchen wuchs schneller und ihr weißer Fleck leuchtete heller. Als das ältere Mädchen zehn Jahre alt wurde, zog es zur Weisen Mutter, die sofort mit der Erziehung ihrer potenziellen Nachfolgerin begann. Als die Weise Mutter erstmals mit der Weisen Tochter für mehrere Tage tiefer in den Wald ging, war sie sehr aufgeregt und neugierig, wie die Tiere auf das Mädchen reagieren würden. Denn sie war sich immer noch nicht sicher, welches der beiden Mädchen von Mutter Natur als ihre Nachfolgerin vorgesehen war. Als die Tiere völlig normal auf das Mädchen reagierten, fiel eine große Last von ihren Schultern und sie beschloss, sich ab sofort mit aller Kraft auf die Erziehung der Weisen Tochter zu konzentrieren.
Die beiden Mädchen verstanden sich sehr gut, und die anderen Sonnenkinder schien es nicht weiter zu interessieren, dass es in ihren Reihen zwei Mädchen gab, die die Merkmale einer Weisen Tochter besaßen.
Aber das jüngere Mädchen wurde von Tag zu Tag unglücklicher. Es war jetzt über zehn Zentimeter größer als alle erwachsenen weiblichen Sonnenkinder und sein weißer Fleck strahlte mittlerweile auffallend hell. Wenn das Mädchen besonders traurig war, ging es tief in den Wald hinein und blieb dort den ganzen Tag. Es beobachtete alle Tiere und betrachtete alle Pflanzen. Die Tiere ließen das Sonnenkind gewähren und kümmerten sich nicht weiter um das Mädchen. Nur die Vögel und viele Insektenarten suchten seine Nähe und umschwärmten es. In diesen Augenblicken fühlte sich das Mädchen eins mit der Natur und verspürte ein berauschendes Glücksgefühl. Wenn es in der Wüste geregnet hatte, verließ es den schützenden Felsring und erkundete die Pflanzenvielfalt der zum Leben erwachten Wüste und beobachtete die Vögel, die anders aussahen, als die, die sie aus dem Wald kannte.
Je älter das Mädchen wurde, umso mehr wurde ihm bewusst, dass es das Volk der Sonnenkinder verlassen musste, um die weitere Entwicklung der Weisen Tochter nicht zu gefährden. Das Mädchen wusste nur nicht, wohin es gehen sollte, und ob es allein eine Chance hatte, zu überleben. Als es wieder einmal das Dorf Richtung Wüste verlassen hatte, um in aller Ruhe die ihm fremden Vögel zu beobachten, die in großen Schwärmen Richtung Süden flogen, glaubte es, die Lösung gefunden zu haben. Diese Vögel lebten nicht im Wald, sondern kamen aus dem Norden. Und da sie von etwas leben mussten, gab es dort, wohin diese Vögel flogen, sicherlich Nahrung. Vielleicht wohnten dort auch die anderen Menschen, die Mutter Natur neben den Sonnenkindern geschaffen hatte. Denn es hatte bei einem seiner letzten Ausflüge in die Wüste aus einem Versteck heraus große Männer mit heller Hautfarbe, hellen und langen Haaren auf dem Kopf und im Gesicht beobachtet, die vergeblich nach einer Öffnung in der Felswand suchten, um in den Wald zu gelangen.
Sie wusste nicht, was diese Männer bei den Sonnenkindern wollten und war erstaunt, wie ungeschickt sich diese Männer in der Wüste verhielten. Die Weise Mutter hatte allen Sonnenkindern verboten, mit diesen Fremden Kontakt aufzunehmen. Sie mussten sich bei deren Annäherung sofort verstecken und alle Spuren verwischen. Wenn alle Sonnenkinder in Sicherheit waren, gab die Weise Mutter einer besonderen Insektenart, die auch zu ihren Beschützern gehörte, das Zeichen, die Männer außer Gefecht zu setzten. Die Insekten verließen den Felsring, schwärmten aus, umringten die überraschten Männer und verletzten sie mit ihren Stacheln. Die Fremden fielen in einen tiefen Schlaf. Die Insekten kehrten zurück und anschließend trugen die männlichen Sonnenkinder die schlafenden Männer mit allen geheimnisvollen Dingen, die sie bei sich trugen, weit hinaus in die Wüste, legten sie in der Nähe einer Wasserstelle unter Büschen ab, kehrten zurück und verwischten ihre Spuren.
Das Mädchen hatte sich die Richtung gemerkt, in die die Männer seines Volkes die Fremden weggetragen hatten und beschloss, den fremden Vögeln zu folgen und nach Süden zu gehen. Von dem Zeitpunkt an, als das Mädchen diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich unendlich erleichtert und ging fröhlich zurück zu den anderen. Die Weise Mutter bemerkte diese Veränderung sofort und freute sich darüber, denn sie hatte schon länger gespürt, wie unglücklich das Mädchen in der Vergangenheit war. Den wahren Grund für die Veränderung des Mädchens ahnte sie jedoch nicht.
Eine Woche später verließ das Mädchen unbemerkt in aller Frühe das Dorf in Richtung Wüste. Es trug zwei Körbe, in die es Früchte, Nüsse und eine Decke aus Pflanzen gelegt hatte. Während des Tages fiel seine Abwesenheit niemandem auf, denn alle Sonnenkinder wussten, dass das Mädchen oft alleine unterwegs umherstreifte. Aber als es am Abend und auch am nächsten Morgen noch nicht wieder zurück war, ging die Weise Mutter zuerst in den Wald, um das Mädchen dort zu suchen. Die Weise Tochter begleitete sie. Als die Tiere des Waldes den Grund erfuhren, warum die beiden Menschen im Wald waren, schwoll die Geräuschkulisse an. Die Weise Mutter war erfahren genug, um zu wissen, was dies bedeutete. Das Mädchen war nicht im Wald. Am nächsten Tag schwärmten alle Männer aus, um in der Wüste nach dem Mädchen zu suchen. Aber sie kamen am Abend ohne Erfolg und sehr traurig zurück. Die Weise Mutter ging in den Wald und bat die Vögel, den Sonnenkindern bei der Suche nach dem Mädchen zu helfen, aber auch die Vögel fanden das Mädchen nicht. Nach einer weiteren Woche hatte die Weise Mutter die letzte Hoffnung aufgegeben, das Mädchen noch einmal lebend wieder zu sehen. Der Gedanke, dass sie dafür verantwortlich war, ein Sonnenkind verloren zu haben, ließ sie bis zu ihrem Tod nicht mehr los.