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3 Rising Sun

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Häuptling Diogenes hätte es nie für möglich gehalten, dass Bleichgesichter sich freiwillig in dieser menschenfeindlichen Gegend ansiedeln würden. Von seinem Bruder Listiger Fuchs wusste er, dass sich ein gewisser Brian Goodness bewusst für diesen Ort entschieden hatte, weil seine Frau an einer besonderen Art von Immunschwäche litt, und dass die Region, in der der Stamm der Namenlosen lebte, genau die klimatischen Rahmenbedingungen bot, damit die Frau eine faire Chance hatte, ihr Leben zu verlängern. Weiterhin erfuhr er, dass dieser Brian Goodness einer reichen irischen Familie entstammte und bis zu seinem Umzug in die amerikanische Wüste als Dozent an einem bekannten College in Dublin gearbeitet hatte. Diogenes beschloss, erst einmal abzuwarten, was bekanntlich seine große Stärke war.

Brian hatte seine Frau Suzette während des Studiums in Dublin kennen und lieben gelernt. Die zierliche dunkelhaarige und immer frierende Französin mit den tollen dunklen Augen war ihm auf dem Campus sofort aufgefallen. Und da ihr der große rothaarige Schlacks auch sehr gut gefiel, wurden die beiden bald ein Paar und heirateten, als beide ihr Studium beendet hatten. Da es Suzette in den Wintermonaten in Irland zu kalt war, lebten die beiden in dieser Zeit in ihrer Heimat, der Provence. Suzette konnte keine Kinder bekommen und wurde zusehends depressiv. Hinzu kam eine sich immer mehr verstärkende Immunschwäche. Obwohl Brian die besten Ärzte engagierte, um seiner geliebten Frau zu helfen, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand immer mehr. Brians Verzweiflung wurde immer größer, und er kapselte sich immer mehr von seinen Freunden und Bekannten ab.

Eines Abends, als Suzette schon schlief, beschloss Brian spontan, nach langer Zeit mal wieder in seinen alten Lieblingspub zu gehen. Er hatte gerade das erste Pint bestellt, als plötzlich sein alter Freund George neben ihm stand. Die beiden hatten sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und deshalb viel zu erzählen. Als Arzt interessierte sich der Freund besonders für den gesundheitlichen Zustand von Suzette. Die beiden verließen als Letzte den Pub. Bevor sie sich vor der Tür des Pubs verabschiedeten, lud Brian seinen alten Freund ein, ihn zu besuchen.

Zwei Wochen später schellte George an der Tür der alten Villa der Goodness Familie, die er noch gut aus seiner Jugend kannte. Ein Mann öffnete die Tür, stellte sich als James vor und bat ihn herein. Brian freute sich, seinen alten Freund wiederzusehen und stellte ihn seiner Frau vor. George hatte in seinem Leben noch nie so schöne und so traurige Augen gesehen. Er verspürte sofort den Wunsch, dieser Frau zu helfen. Der Abend verlief sehr harmonisch. Um zehn verabschiedete sich Suzette und wurde von ihrer engsten Vertrauten Mary, der Frau von James, hinausbegleitet.

„Ich bin froh, dass ich James und Mary habe. Sie gehören seit über zehn Jahren zur Familie. James war früher Fallschirmspringer bei der englischen Army und Mary arbeitete dort als Krankenschwester. Durch Zufall haben Suzette und ich die beiden kennengelernt. Meine Frau fand die beiden sehr sympathisch und gab keine Ruhe mehr, bis es mir endlich gelungen war, die beiden als Angestellte zu verpflichten. Aber James und Mary sind schon längst keine Angestellten mehr. Sie haben keine Kinder und keine nahen Verwandten und so sind wir ihre Familie geworden, worauf Suzette und ich sehr stolz sind.“

Als sich George schon an der Haustür von James verabschiedet hatte, blieb der Arzt noch kurz auf der Eingangsstufe stehen.

„Mir geht die Krankheit deiner Frau nicht aus dem Kopf. Es muss eine Möglichkeit geben, sie zwar nicht vollständig zu heilen, aber doch ihren Gesundheitszustand mindestens zu stabilisieren und die auf ihrer Krankheit basierende Depression abzumildern. Ich habe da vielleicht eine Idee und melde mich in Kürze wieder.“

„Bei aller Freundschaft, George, bitte mache mir keine falschen Hoffnungen. Ich habe schon alle medizinischen Kapazitäten konsultiert. Wieso solltest gerade du, mein alter Freund, mir und Suzette helfen können?“

„Vielleicht, weil ich dein alter Freund bin. Vertrau mir einfach, Brian. Ich melde mich in Kürze wieder bei dir.“


Einen Monat später saßen Brian, Suzette, George, James und Mary in Brians Privatflugzeug und flogen in eine amerikanische Wüstenregion, die für ihre Hitze und Trockenheit berüchtigt war. Von einem Hotel aus fuhren die fünf mit einem Bus hinaus in die Wüste. George hatte vor Fahrtantritt mit dem Fahrer gesprochen, wo die Fahrt hingehen und was er mitnehmen sollte. Am Zielort angekommen, baute der Arzt mit der Unterstützung des Busfahrers und James ein geräumiges Zelt auf. Anschließend wurde das Zelt gemütlich eingerichtet. Suzette verließ den klimatisierten Bus, schloss die Augen und atmete die trockene Wüstenluft ein. Schon nach wenigen Augenblicken spürte sie, dass es ihr besserging. Dieses Gefühl verstärkte sich, als sie sich auf einen bereitstehenden Liegestuhl legte und Mary ihr frisches Obst reichte. Brian bemerkte sofort die positive Veränderung seiner Frau und blickte fragend hinüber zu seinem Freund George, der seine stumme Frage mit einem Lächeln beantwortete. Als Brian und Suzette am Abend alleine in ihrem Hotelzimmer saßen, nahm Brian die Hand seiner Frau, drückte sie leicht und sah seine Frau zärtlich an.

„Wie fühlst du dich?“

„Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr, Brian, denn ich kann frei atmen. Wir sollten noch ein paar Tage hierbleiben und dann gemeinsam eine Entscheidung treffen.“

Als die fünf nach einer Woche zurück nach Irland flogen, hatten Brian und Suzette sich entschieden. Sie wollten in diese Wüstenregion umziehen und für James und Mary war es selbstverständlich, mitzugehen.

Brian beauftragte einen Makler in den USA damit, das passende Grundstück zu finden und drei Monate später begann der Bau des neuen Zuhauses für Brian, Suzette, James und Mary.


Rising Sun konnte es am nächsten Morgen kaum erwarten, wieder zu dem großen Zelt zu laufen, um die schöne Frau zu besuchen. Als er das Grundstück erreichte, wartete Suzette schon auf ihn und winkte ihm lächelnd zu. Neben ihr stand ein großer, hellhäutiger und sehr schlanker Mann mit vielen kleinen roten Punkten und feuerroten Haaren. Rising Sun musste sich zusammenreißen, um den Mann nicht mit offenem Mund anzustarren. Der Fremde sah ihn freundlich an, kam auf ihn zu, zeigte auf sich und sagte Brian. Dann lud er den Jungen ein, sich zu ihm und seiner Frau an einen Tisch zu setzten. Rising Sun hatte noch nie auf einem Stuhl gesessen und probierte diese neue Sitzgelegenheit erst einmal vorsichtig aus, bevor er sich hinsetzte. Es gab wieder das leckere Getränk, das er schon gestern probieren durfte.

Da sah er, wie sich der Gesichtsausdruck von Suzette von einer auf die andere Sekunde veränderte. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Rising Sun folgte ihrem Blick, konnte aber zuerst nichts entdecken. Da erinnerte er sich daran, wo und wann er schon einmal bei einer Frau einen ähnlichen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Es war bei seiner Tante Liebliche Kaktee, die Angst vor allem hatte, was auf der Erde herumkrabbelte. Und sofort entdeckte er den Grund für Suzettes Panik. Eine große Spinne war auf den Tisch gekrabbelt und kletterte an ihrem Glas hoch. Rising Sun sprang auf, nahm die Spinne in die Hand und lief mit ihr Richtung Dorf. Nach zehn Minuten kam er zurück. Suzette war nicht mehr da, aber der Mann, der Brian hieß, schien auf ihn zu warten. Er kam ihm entgegen, ergriff seine Hand und drückte sie ganz fest. Dann dreht er sich um, und verschwand in dem großen Zelt. Nachdenklich ging Rising Sun zurück zu seinem Dorf und beschloss, bei der nächsten Gelegenheit mit seinem Vater über seine Eindrücke der letzten beiden Tage zu sprechen.

Am Abend saßen Vater Diogenes und Sohn Rising Sun nach dem Essen vor ihren Tonnen und warteten darauf, dass die Sonne sich für diesen Tag von ihnen verabschiedete und den vielen Sternen und dem Mond Platz machte. Der Junge rückte näher an seinen Vater heran.

Der Häuptling wartete, ob sein Sohn das Gespräch beginnen würde, aber der machte keine Anstalten.

„Rising Sun, gibt es etwas, über das du mit mir philosophieren möchtest?“

Der Mond schien jetzt sehr hell und die Sterne leuchteten, so dass sich Vater und Sohn gut sehen konnten. Der Junge blickte seinen Vater an.

„Vater Häuptling, ich bin gestern zum ersten Mal zu dem neuen großen Zelt außerhalb des Kakteenwaldes gelaufen und habe dort fremde Menschen gesehen. Diese Menschen haben eine Haut wie weißes Papier und manche von ihnen rote oder gelbe Haare. Besonders beeindruckt hat mich eine schöne Frau. Sie ist sehr schlank, hat dunkle Haare und ihre Augen haben die gleiche Farbe wie unsere. Sie heißt Suzette und ich habe sie heute wieder besucht. Sie hat sich vor einer großen Spinne gefürchtet, die ich sofort wieder zurück in ihr Zuhause gebracht habe. Wahrscheinlich war die Spinne nur neugierig, wie das große Zelt von nahem aussah. Vater Häuptling, gibt es viele Menschen, die anders aussehen als wir, und warum hatte Suzette so eine große Angst vor der Spinne?“

Häuptling Diogenes strich seinem Sohn nachdenklich über das Haar, denn er brauchte Zeit nachzudenken. Nach einer Viertelstunde fühlte sich der Häuptling bereit, seinem Sohn zu antworten:

„Rising Sun, ich möchte mit deiner zweiten Frage beginnen. Es gibt Menschen, die haben vor etwas Angst, ohne dass eine konkrete Gefahr besteht, oder sie nehmen eine Situation als Bedrohung war, die für Dritte nicht als gefährlich zu erkennen ist. Die Folge davon ist, dass diese Menschen dann in Panik geraten und nicht mehr in der Lage sind, ihre Handlungen zu steuern. Das kann sogar soweit führen, dass sie dadurch schwere gesundheitliche Schäden erleiden. Suzette gehört wahrscheinlich zu den Menschen, die Angst vor allem haben, was auf der Erde, an der Wand oder an der Decke herumkrabbelt, besonders vor großen Spinnen, weil sie befürchtet, dass die nur ein Ziel haben: Auf ihre Haut zu krabbeln und sie ernsthaft zu verletzten. Sie weiß leider nicht wie wir beide, dass die Spinnen ganz harmlos und sehr wichtig für das Gleichgewicht auf unserer Erde sind. Und nun zu deiner ersten Frage. Blicke hinauf in den Himmel. Wie viele Sterne siehst du dort? Es sind unendlich viele. Der gute Manitu, unser aller Vater und Beschützer, hat sich diese unendliche Vielfalt zum Vorbild genommen, als er unsere Welt schuf. Und deshalb gibt es unzählig viele unterschiedliche Arten von Lebewesen und Pflanzen, die alle eine bestimmte Aufgabe haben, damit diese Welt so schön wird und bleibt, wie es sich Manitu vorstellt. Bei den Menschen war er sich nicht so ganz sicher, wie sie aussehen sollten. Deshalb hat er ausprobiert, welche Hautfarbe am besten zu welchem Teil der Erde passt. Dort, wo es heiß ist, so wie hier bei uns, haben die Menschen zum Schutz gegen die Sonne eine dunklere Hautfarbe und schwarze Haare.

Es gibt aber auch Gegenden, wo es oft sehr kalt ist. Dort haben sie eine Haut so weiß wie Papier und rote, gelbe oder braune Haare.

Rising Sun dachte über das, was sein Vater gesagt hatte, nach. Die Vorstellung, dass es so viele verschiedene Menschen, Tiere und Pflanzen auf der Welt gab, wie Sterne am Himmel, faszinierte ihn. Sein Respekt vor dem großen Manitu wuchs ins Unermessliche. In diesem Moment wusste er, welche Aufgabe Manitu für ihn vorgesehen hatte. Er sollte möglichst viele Menschen und Tiere auf dieser Welt kennenlernen, um ihnen zu helfen, die Welt in Manitus Sinn zu gestalten. Der Junge verspürte eine tiefe Zufriedenheit und streckte sich neben seinem Vater aus. Dem ging eine Frage nicht aus dem Kopf. Wer war Suzette? Er drehte sich um zu seinem Sohn.

„Rising Sun, morgen kommt mein Bruder Listiger Fuchs zu Besuch. Was hältst du davon, wenn dein Onkel und ich dich morgen zu den Bleichgesichtern begleiten? Ich möchte sie gerne kennenlernen.“

Sein Sohn fand die Idee großartig, ging in seine Tonne und schlief zufrieden ein.

Am nächsten Tag machten sich Häuptling Diogenes, Listiger Fuchs und Rising Sun nach dem Mittagessen auf den Weg zum großen Zelt, um den Bleichgesichtern ihre Aufwartung zu machen. Der Häuptling trug seine Dienstleggins aus feinstem Wildleder, sein Haar schmückte eine große Häuptlingsfeder und seine Füße steckten in kunstvoll bestickten Mokassins. Sein Bruder trug trotz der Hitze einen dunklen Designeranzug, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe. Rising Sun war wie immer nur mit einem Lendenschurz bekleidet und lief barfuß.

Als die drei das Grundstück der Goodness betraten, erwartete sie schon ein Empfangskomitee und ein gedeckter Tisch unter einem großen Schirm. Suzette und Brian hatte zwar nicht mit dem Häuptling und dem zweiten Erwachsenen gerechnet, aber da es offensichtlich war, dass auch die beiden erwachsenen Indianer zu dem Jungen gehörten und in friedlicher Absicht kamen, standen sie auf, um ihren Gästen entgegen zu gehen. James und Mary hielten sich im Hintergrund. Brian ging auf Diogenes zu und sagte auf Englisch:

„Mein Name ist Brian Goodness. Herzlich willkommen, Häuptling, ich freue mich, Sie und Ihre Begleiter bei uns begrüßen zu dürfen.“

Häuptling Diogenes verstand Englisch, wenn er es mit seiner Häuptlingswürde vereinbaren wollte und freute sich über den freundlichen Empfang. Aber er hatte nicht vor, sich auf Englisch mit den Fremden zu unterhalten. Listiger Fuchs kannte seinen Bruder und antwortete an dessen Stelle in reinstem Oxfordenglisch:

„Mister Goodness, Häuptling Diogenes bedankt sich für den freundlichen Empfang. Ich möchte mich kurz vorstellen. Meine Stammesbrüder nennen mich Listiger Fuchs und die Bleichgesichter (er überreichte Brian eine elegante Visitenkarte) Sly Fox. Den Sohn des Häuptlings Diogenes Rising Sun kennen Sie bereits. Würden Sie uns jetzt bitte die Ehre erweisen, die Damen und den Herrn in ihrer Gesellschaft vorzustellen.“

Brian wusste nicht, was ihn mehr faszinierte: Die Kleidung des Listigen Fuchses oder dessen perfekte englische Aussprache. Aber dann riss er sich zusammen, ging zu seiner Frau und legte seinen Arm um ihre Schulter.

„Ich möchte Ihnen zuerst meine Frau Suzette vorstellen. Ihr Gesundheitszustand ist der Grund, warum wir hier sind. Hinter meiner Frau stehen unsere Freunde Mary und James.“

Listiger Fuchs begrüßte zuerst Suzette, dann Mary und zum Schluss James. Diogenes folgte seinem Bruder. James beeilte sich, noch zwei Stühle zu holen und Brian bat dann seine Gäste, am Tisch Platz zu nehmen. Rising Sun setzte sich wie selbstverständlich neben Suzette und strahlte sie an. Listiger Fuchs ergriff das Wort:

„Der Sohn des Häuptlings hat seinem Vater von seinen Erlebnissen hier bei Ihnen in den letzten beiden Tagen berichtet. Alles ist neu für ihn und in seinem Kopf entstehen mehr Fragen, als mein Bruder, der Häuptling, beantworten kann. Deshalb haben wir uns auf den Weg gemacht, die fremden Menschen, die zukünftig in unserer Nachbarschaft leben werden, persönlich kennenzulernen.“

Listiger Fuchs übersetzte sehr ausführlich für seinen Bruder und seinen Neffen. Geduldig wartete Brian. Dann nutzte er eine kurze Pause, um zu antworten.

„Rising Sun hat gestern geistesgegenwärtig meine Frau aus einer für sie sehr bedrohlichen Situation gerettet. Dafür möchte ich mich noch einmal in aller Form bei ihm bedanken. Wenn ich ihm einen Wunsch erfüllen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.“

Listiger Fuchs übersetzte. Der Junge sah seinen Onkel überrascht an:

„Listiger Fuchs, ich habe die Spinne nur zurück nach Hause gebracht. Sie war bestimmt genauso neugierig wie ich.“

Listiger Fuchs übersetzte wieder. Da drehte sich Suzette zur Seite und strich dem Jungen zärtlich über das schöne schwarze Haar.

„Ich möchte mich trotzdem bei Rising Sun bedanken. Sagen Sie ihm, dass er mir eine große Freude macht, wenn ich ihm einen Wunsch erfüllen darf.“

Der Onkel übersetzte wieder. Der Junge sprang auf und sah seinen Vater mit leuchtenden Augen an.

„Vater Häuptling, ich habe einen Wunsch. Ich möchte sofort die Sprache der Bleichgesichter erlernen und so viel wie möglich über ihre Art zu leben erfahren.“

Listiger Fuchs wollte übersetzen, aber Diogenes hielt ihn zurück.

„Mein Sohn, warum hast du es denn so eilig? In einem Jahr kannst du wie deine gleichaltrigen Brüder und Schwestern langsam damit beginnen, bei unserem alten Bruder Weiser Mann die beiden Sprachen, die die Bleichgesichter in unserer Umgebung sprechen, zu erlernen. Dabei erfährst du auch etwas über ihre Sitten und Gebräuche.“

„Vater Häuptling, so lange kann ich nicht warten. Ich möchte mich so schnell wie möglich mit Suzette unterhalten können und nicht erst irgendwann.“

„Warum möchtest du dich denn unbedingt so schnell mit der fremden Frau unterhalten?“

„Suzette ist keine Fremde für mich. Ich möchte ihr von meinen Freunden, den Tieren, erzählen und vom großen Manitu, der uns alle erschaffen hat. Und ich möchte möglichst viel über die Menschen, Tiere und Pflanzen lernen, die es auf dieser Welt gibt. Ich bin sicher, dass mir Suzette dabei helfen wird.“

Rising Sun hatte ruhig und überlegt gesprochen. Diogenes war in diesem Moment sehr stolz auf seinen Sohn. Aber er fand auch, dass Rising Sun noch zu jung war, um mit den Bleichgesichtern zusammen zu leben. Denn darauf würde es hinauslaufen, wenn er seinem Sohn nachgab. Sein Herz wurde schwer. Sein Bruder spürte dies und übersetzte den Dialog zwischen Vater und Sohn, ohne Diogenes nach seiner Zustimmung zu fragen. Suzette hatte Tränen der Rührung und der Freude in den Augen und auch Brian schnäuzte einmal laut in sein Taschentuch. Suzette wandte sich jetzt direkt an den Häuptling.

„Häuptling Diogenes, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ab sofort unterrichten mein Mann und ich Ihren Sohn dreimal die Woche hier bei uns. An den anderen Tagen kehrt er in seine alte Welt zurück. Denn ich halte es für sehr wichtig, dass Rising Sun sich in aller Ruhe weiter in seiner gewohnten Umgebung entwickeln und mit seinen Freunden, egal wie viele Beine sie haben, spielen kann.“

Listiger Fuchs wollte wieder übersetzen, aber sein Bruder stoppte ihn mit einer Handbewegung. Dann erhob sich Diogenes von seinem Platz und antwortete in nahezu fehlerfreiem Englisch:

„Sie sind sehr klug, Frau mit den schönen Augen. Ich stimme Ihrem Vorschlag zu. Aber unter einer Bedingung. Wenn mein Sohn sich in einer Art entwickelt, die ich nicht gutheißen kann, beenden wir den Unterricht sofort.“

Suzette stand auf und streckte dem Häuptling ihre rechte Hand entgegen, die dieser auch sofort ergriff.

„Abgemacht, Häuptling. Und wann beginnen wir?“ Jetzt übersetzte der Vater für seinen Sohn.

„Ich möchte den Tag nach morgen anfangen, Vater Häuptling.

Denn morgen will ich allen meinen Freunden erzählen, dass ich jetzt viel lernen werde und nicht mehr jeden Tag Zeit für sie habe.“

Diogenes Augen leuchteten vor Stolz.

„So sei es, howgh.“

Listiger Fuchs übersetzte wieder. Rising Sun und Suzette strahlten um die Wette und James und Mary bewirteten jetzt die Gäste.


Jeden Abend, wenn Rising Sun von den Bleichgesichtern zurückkam und er neben seinem Vater vor seiner Tonne lag und zu den Sternen hinaufschaute, erzählte er ihm, was er gelernt hatte. Sein Vater war im Inneren hin und hergerissen. Zum einen war er glücklich und stolz über die außergewöhnliche Auffassungsgabe seines Sohnes, aber ihm wurde auch bewusst, dass Rising Sun in nicht weit entfernter Zukunft den Stamm der Namenlosen verlassen würde. Und das bedeutete für ihn, dass er ein anderes männliches Mitglied aus dem Stamm der Namenlosen als seinen Nachfolger auswählen und aufbauen musste.


Brian und Suzette begannen damit, Rising Sun die englische Sprache zu vermitteln. Und schon nach wenigen Wochen konnte sich der Junge in der für ihn neuen Sprache verständlich machen. Aber Rising Sun wurde auch schnell bewusst, dass es ein weiter Weg war, bis er seine Gefühle in der Sprache der Bleichgesichter ausdrücken konnte. Und das war ja sein erklärtes Ziel. Schon bald stellte er erstaunt fest, dass Brian, Suzette, Mary und James einzelne englische Wörter unterschiedlich aussprachen.

„Suzette, warum hört sich die Sprache der Bleichgesichter bei dir ganz anders an als bei Brian, James und Mary?“

„Hattet ihr schon einmal Besuch von einem anderen Indianerstamm?“

Rising Sun überlegte.

„Ja, es ist noch gar nicht lange her, dass mein Vater von dem Häuptling eines anderen Stammes besucht worden ist.“

„Und hat der andere Häuptling eure Sprache genauso gesprochen wie ihr?“

Der Junge überlegt wieder.

„Ich konnte ihn gut verstehen, aber es hörte sich anders an, wenn er sprach.“


„Brian, Mary, James und ich kommen von verschiedenen Stämmen und deshalb hört es sich anders an, wenn wir die Sprache der Bleichgesichter sprechen. Warum das so ist, erkläre ich dir später.“

Rising Sun gab sich damit zufrieden, sprach aber am Abend seinen Vater auf dieses Thema an.

„Vater Häuptling, wie viele Stämme gibt es auf der Welt, die Manitu geschaffen hat?“

Der Vater sah seinen Sohn überrascht an und überlegte.

„Unendlich viele. So viele wie Sterne am Himmel.“

„Und wie viele Sprachen gibt es auf dieser Welt?“

„Genauso viele.“

Der Häuptling wurde langsam unruhig. Das Philosophieren auf der Grundlage von konkreten Fragen war nicht seine Sache und machte ihn nervös.

„Aber wie verstehen sich dann die einzelnen Stämme, wenn sie sich mal unterhalten wollen?“

Der Häuptling wurde noch unruhiger. Aber dann fiel ihm eine passende Antwort ein.

„Sie einigen sich auf eine Sprache, die alle sprechen.“

„Und welche Sprache ist das?“

Diogenes spürte, dass er auf dem besten Weg war, sich mit seinen Antworten in eine Sackgasse zu manövrieren. Um das zu verhindern, standen ihm zwei unterschiedliche Strategien zur Verfügung: Schweigen, bis sein Gegenüber seine Frage vergessen hatte, oder mit einer Gegenfrage kontern. Der Häuptling entschied sich für die zweite Variante.

„Hast du schon mit Suzette darüber gesprochen?

„Nicht direkt, Vater Häuptling. Ich habe sie gefragt, warum sich die Sprache der Bleichgesichter bei jedem anders anhört.“

„Und was hat sie geantwortet?“

„Sie will mir das später erklären, wahrscheinlich, weil es darauf keine einfache Antwort gibt.“

Diogenes konnte sich dem nur anschließen.

„Mein Sohn, ich sehe das genauso wie Suzette.“

Der Häuptling war froh, dass sich sein Sohn damit zufrieden gab und nicht weiter nachfragte.

Die Zeit verging für Rising Sun wie im Flug. Schon bald beherrschte er die englische Sprache in Wort und Schrift. Wenn sein Onkel Listiger Fuchs zu Besuch kam und sich mit ihm in der Sprache der Bleichgesichter unterhielt, runzelte dieser jedes Mal die Stirn. Denn der Akzent seines Neffen war eine Mischung aus irischem und Londoner Slang. Und fluchen konnte der Junge wie ein irischer Bierkutscher aus dem letzten Jahrhundert. Listiger Fuchs beschloss, den Goodness` einen Besuch abzustatten, um sie darauf hinzuweisen, dass es kein Nachteil für den Jungen sei, wenn er etwas mehr Oxfordenglisch lernen würde.

Suzette war Listiger Fuchs dankbar für den Hinweis, und fortan bemühten sich Brian, James und Mary ein „besseres Englisch“ zu sprechen, was besonders James sehr schwer fiel.


James und Mary hatten den Jungen genauso in ihr Herz geschlossen wie Suzette und Brian. Kurz nach Rising Suns achtem Geburtstag bat James Brian um ein Gespräch:

„Brian, der Junge ist zwar nicht sehr muskulös, aber er ist schnell wie der Wind und bewegt sich unhörbar wie eine Schlange. Du weißt, dass ich bei der Army eine besondere Ausbildung genossen habe. Was hältst du davon, wenn ich den Jungen unter sportlichen Gesichtspunkten unter meine Fittiche nehme?“

„Eine sehr gute Idee. Ich hatte gehofft, dass du irgendwann diesen Wunsch äußerst. Ich glaube auch nicht, dass der Häuptling etwas dagegen haben wird. Aber wir müssen natürlich zuerst den Jungen fragen, ob er überhaupt Spaß daran hat.“

Rising Sun war begeistert, und James übernahm die Ausbildung des Indianerjungen. Obwohl er ihn nicht schonte, zeigte Rising Sun nicht einmal ein Zeichen von Ermüdung oder Unlust.


Als Rising Sun zehn Jahre alt wurde, schenkte ihm Brian einen Weltatlas, der fortan die Lieblingslektüre des Jungen wurde. Brian erklärte ihm erst die unterschiedlichen Kontinente und die riesigen Ozeane. Der Junge war überrascht, wieviel Wasser es auf der Welt gab. Dann widmeten sie sich den einzelnen Ländern auf den fünf Kontinenten und Brian erklärte ihm, welche Sprachen in den einzelnen Ländern gesprochen wurden.

An den Abenden saß Rising Sun weiterhin mit seinem Vater unter dem Sternenhimmel und berichtete, was er von Brian gelernt hatte. Er legte dann immer den Atlas vor sich und seinen Vater, um ihm die einzelnen Länder, die er kennengelernt hatte, zu zeigen.

„Vater Häuptling, es stimmt wirklich, dass es so viele Stämme gibt wie Sterne am Himmel. Nur heißen die Stämme Völker und diese Völker leben in Ländern. Und wenn sie sich unterhalten wollen, sprechen sie meistens Englisch.“

Diogenes hörte seinem Sohn gerne zu und ließ sich jedes Mal von dessen Begeisterung anstecken.

„Und das viele Wasser, das es auf unserer Erde gibt. Stell dir mal vor, wie viele verschiedene Tierarten es dort geben muss. Wenn ich erwachsen bin, möchte ich alle Völker und sehr viele Sprachen kennenlernen. In der nächsten Woche fange ich damit an, die Heimatsprache von Suzette zu lernen. Sie nennt sich Französisch und hört sich sehr melodisch an.“

Diogenes wurde in diesem Augenblick wieder schmerzlich bewusst, wie sehr er diese Abende mit seinem Sohn genoss und wie schnell die Zeit vergehen würde, bis sein Sohn das Dorf endgültig verlassen und hinaus in die große weite Welt gehen würde.


Brian wurde immer mehr gefordert, um den Wissensdurst des Jungen zu stillen. Als Rising Sun dreizehn Jahre alt war, beschloss Brian, den Jungen langsam an die Themen Geschichte, Religion und Politik heranzuführen. Und schon bald stellte sich heraus, dass Politik den Jungen noch mehr faszinierte als Geografie und Sprachen. Er lernte die am weitesten verbreiteten Religionen, Staats­ und Regierungsformen kennen. Als er sich sicher war, einen groben Überblick über die auf der Welt vorherrschenden Religionen, Staats­ und Regierungsformen zu haben, sprach er seinen Vater darauf an.

„Vater Häuptling, ich bin überrascht, wie viele unterschiedliche Religionen es auf der Welt gibt. Die meisten Menschen glauben an einen Gott, nur nennen sie ihn unterschiedlich. Und es gibt verschiedene Staats­ und Regierungsformen, um ein Volk zu regieren. Was mich sehr bekümmert, ist die Tatsache, dass es unabhängig von der Religion und der Staats­ und Regierungsform so viele Menschen gibt, die ihre Macht ausnutzen, um andere Menschen auszubeuten, zu schikanieren oder gar zu töten. Das kann doch nicht das sein, was Manitu gewollt hat, als er diese Welt schuf.“

Vater und Sohn sahen wieder gemeinsam in den Sternenhimmel, in der Hoffnung, ein Signal von oben zu bekommen, was man tun könnte, um die Ungerechtigkeit auf der Welt zu bekämpfen.

„Mein Sohn, leider kann ich dir ab jetzt nicht mehr weiterhelfen. Ich bin der Häuptling des Stammes der Namenlosen. Wir haben eine einfache Regierungsform. Ich als von allen Stammesmitgliedern gewählter Häuptling bin dafür verantwortlich, dass es unserem Stamm gut geht. Und für den Fall, dass ich einmal nicht weiter weiß, stehen mir Männer und Frauen zur Seite, um mich zu beraten und zu unterstützen. Aber das ist bei mir noch nicht vorgekommen. Wir sind nur ein kleiner Stamm mit bescheidenen Bedürfnissen, und ich bin Manitu dankbar, dass ich nicht die Verantwortung für einen größeren Stamm tragen muss.“


Der Gedanke an die Unterdrückung so vieler Menschen ließ Rising Sun nicht mehr los, und er sprach seinen Vater darauf an.

„Vater Häuptling, vielleicht gibt es deshalb so viele Kriege mit noch mehr Toten auf dieser Welt, weil Manitu mit uns unzufrieden ist und deshalb die Menschen dazu ermuntert, sich solange gegenseitig umzubringen, bis die Erde von uns gesäubert ist.“


Für Rising Sun stand fest, dass er Politikwissenschaften studieren wollte, um möglichst viel über die politischen Zusammenhänge auf dieser Welt zu lernen. Er hatte allerdings keinen Schulabschluss, der die Voraussetzung für einen Universitätsbesuch war.

Aber Brian besaß zwei Dinge, die in der Lage waren, diesen Makel zu beheben: Geld und Kontakte. Sein Cousin Rufus arbeitete an einer angesehenen Universität an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Er beschloss, Rufus zu besuchen. Der freute sich, Brian nach so langer Zeit wiederzusehen. Sie hatten in ihrer Kindheit sehr viel Zeit miteinander verbracht. Aber der Kontakt war fast vollständig abgebrochen, als Rufus nach der Schule in die USA ging, dort studierte und dann an der Universität als Dozent arbeitete.

Brian lud Rufus in das Lokal in Boston ein, in dem amerikanische Bürger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Boston Tea Party vorbereitet hatten. Nachdem sie die ersten zwei Stunden damit verbrachten, sich über ihre gemeinsame Kindheit zu unterhalten, kam Brian auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. Rufus hörte interessiert zu.

„Brian, du weißt, dass wir eine private Eliteuniversität sind und sehr hohe Anforderungen an unsere zukünftigen Studenten stellen. Deutlich weniger als zehn Prozent der jungen Frauen und Männer, die sich hier bei uns bewerben, schaffen es, aufgenommen zu werden.“

„Rufus, glaubst du, ich hätte es damals geschafft, an eurer Uni aufgenommen zu werden?“

„Du warst einer der Besten. Natürlich hättest du es geschafft und hier auch Karriere gemacht. Aber du wolltest nicht weg aus Dublin.“

„Ich bin überzeugt davon, dass Rising Sun die Aufnahmeprüfung schaffen wird, und stell dir einmal den Imagegewinn für eure Uni vor, wenn hier ein Sohn des kleinsten Indianerstammes Amerikas erfolgreich Politikwissenschaften studiert.“

Rufus grinste.

„Brian, du bist immer noch der gleiche Fuchs wie früher. Ich mache dir einen Vorschlag. In drei Wochen besuche ich dich in deinem neuen Heim in der Wüste und sehe mir den Wunderknaben an. Dann kann ich auch mal wieder deine Frau begrüßen, die ich zum letzten Mal bei eurer Hochzeit gesehen habe.“

Rufus hielt Wort und machte sich auf den langen Weg in die Wüste. James holte ihn vom Flughafen ab. Den Abend verbrachten Suzette und Brian mit ihrem Gast auf der Terrasse. Rufus richtete seinen Blick immer wieder gen Himmel, um den einmaligen Anblick des Sternenhimmels in sich aufzunehmen.

Am nächsten Morgen erwarteten Suzette, Brian und Rufus Rising Sun. Suzette war sehr aufgeregt und gespannt, welchen Eindruck Rufus von dem jungen Indianer haben würde. Rising Sun kam nicht alleine. Der Häuptling und Listiger Fuchs trugen wieder die gleiche Kleidung wie vor Jahren, als sie den neuen Nachbarn ihre Aufwartung gemacht hatten. Rufus stutzte zuerst, dann schmunzelte er, stand auf und ging den drei Männern entgegen. Listiger Fuchs übernahm wieder die Vorstellung, zu der auch die Übergabe der Visitenkarte gehörte. Rufus stellte sich ebenfalls vor. Anschließend setzten sich alle an die vorbereitete Tafel. Nach dem Essen brachen der Häuptling und sein Bruder auf und gingen zurück zu ihrem Dorf. Brian und Suzette zogen sich zurück ins Haus. Rufus widmete sich nun dem jungen Indianer, der einen völlig entspannten Eindruck machte.

„Wenn es dir Recht ist, Rising Sun, möchte ich dir zuerst ein paar allgemeine Fragen stellen, um dich näher kennenzulernen.“

Der Indianer neigte leicht seinen Kopf, was Rufus als Zustimmung deutete. Das anschließende Gespräch dauerte fast drei Stunden.

„Ich gebe zu, dass ich beeindruckt bin. Das hatte ich nicht erwartet. Ich werde mich dafür einsetzten, dass du an unserer Universität aufgenommen wirst. Selbstverständlich musst du dich wie alle anderen Bewerber noch einer Prüfung unterziehen, bin mir aber sicher, dass das für dich kein Problem sein wird.“

Als Rising Sun sich verabschiedet hatte, kamen Brian und Suzette wieder zurück auf die Terrasse und sahen Rufus fragend an.

„Liebe Suzette, lieber Brian, ich habe noch nie einen jungen Menschen kennengelernt, der so in sich ruht und so genaue Vorstellungen von seinem Leben hat wie Rising Sun. Besonders fasziniert hat mich diese Mischung aus der manchmal kindlichen Naivität eines Naturmenschen, seiner hohen Intelligenz und dem absoluten Willen, der Menschheit zu helfen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er viel bewegen wird, wenn er das richtige Handwerkszeug mit auf den Weg bekommt.“


Einen Monat später flog Rising Sun in Begleitung von Brian und James nach Boston. Am Abend zuvor hatte er seinen Vater gebeten, während der Abwesenheit der beiden Männer auf Suzette und Mary aufzupassen, was der Häuptling auch sofort zusagte. Rising Sun weigerte sich auch dieses Mal, die Mokassins zu tragen, die seine Mutter ihm extra für diesen Anlass genäht hatte. Er trug eine blaue Jeans und ein blaues Baumwollhemd. Seine langen schwarzen Haare hatte er zu einem Zopf geflochten, der ihm trotz seiner Größe von 1,95 m bis zur Hüfte reichte. Als er das Gelände der Universität zum ersten Mal betrat, waren sofort alle Blicke auf ihn gerichtet. Während die jungen Frauen ihn mit großem Interesse betrachteten, rümpften die meisten der Studenten bei seinem Anblick die Nase. Immer wieder war zu hören: Was will der denn hier, oder, wer hat denn den aus seinem Reservat gelassen? Rising Sun beachtete weder die einen noch die anderen. Zielstrebig ging er zu dem Raum, in dem die Prüfung stattfinden sollte. Er wurde von mehreren Frauen und Männern erwartet. Rufus war auch dabei und kniff ihm ein Auge zu. Die Prüfung dauerte länger als normalerweise, und den Prüferinnen und Prüfern war anzumerken, dass sie mit dem jungen Mann, der vor ihnen saß, nicht so richtig etwas anfangen konnten. Besonders irritierte sie seine absolute Ruhe und Ausgeglichenheit und die sachliche Art, in der er alle an ihn gerichteten Fragen schnell und korrekt beantwortete. Als Rising Sun den Campus verließ, um Brian und James zu treffen, war er als Student dieser Eliteuniversität zugelassen. Die drei feierten dies und am Abend gesellte sich auch noch Rufus zu ihnen.

Drei Wochen später war es dann so weit, das Semester begann. Diesmal begleiteten ihn Listiger Fuchs, dem Anlass entsprechend im schwarzen Anzug, und Mary, die ihm in den ersten Wochen den Haushalt führen sollte, denn Rufus hatte auf Bitten von Brian eine größere Wohnung in der Nähe der Universität angemietet. Als sich Rising Sun vor den Tischen, an denen die Immatrikulationsmodalitäten erledigt wurden, in die Schlange stellte, wurde er wieder von allen Seiten angestarrt. Wieder spürte er die interessierten und neugierigen Blicke der jungen Frauen. Die Körpersprache der angehenden männlichen Studenten drückte diesmal mehr Erstaunen als Ablehnung aus. Sie konnten ihn nicht einordnen.

Karl Juni war ein Amerikaner Anfang 50 und arbeitete schon seit 30 Jahren in der Verwaltung der Universität. Seine Eltern waren 1961 kurz vor dem Bau der Berliner Mauer aus der DDR geflüchtet und nach Amerika ausgewandert. Karl war ein großer Freund von Indianergeschichten und hatte alle Bücher von James Fenimore Cooper und Karl May gelesen. Er beobachte den jungen Indianer schon länger und hoffte, dass er zu seinem Tisch kommen würde, um sich einzuschreiben. Das Glück war auf seiner Seite.

„Bitte nehmen Sie Platz. Ich heiße Karl, was kann ich für Sie tun?“ Rising Sun setzte sich und legte alle zur Immatrikulation erforderlichen Unterlagen auf den Tisch. Karl las sich alles mit großem Interesse durch.

„Sie heißen Rising Sun?“, fragte der begeisterte Karl, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Die Brüder und Schwestern meines Stammes nennen mich so.“

„Dann ist Rising der Vorname und Sun der Familienname?“ Rising Sun antwortete mit ernster Miene.

„Wenn ich ein Bleichgesicht wäre und in diesem verwirrenden Dschungel aus Stein, Beton und Stahl leben würde, dann wäre das so.“

Karl erledigte in Rekordzeit alle Formalitäten, gab dem Indianer alle Unterlagen zurück und händigte ihm den Studentenausweis aus.

„Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie das frage: Sind Sie ein echter Indianer?“

Rising Sun antwortete lächelnd.

„Ja, das bin ich.“

„Ich bin ein großer Verehrer der Indianer. Darf ich Sie nach meiner Arbeit zu einem Bier einladen, um mehr über Ihr Volk zu erfahren?“

Karls Augen leuchteten wie bei einem kleinen Kind am Heiligen Abend fünf Minuten vor der Bescherung. Rising Sun überlegte kurz und nickte dann.

„Wann soll ich Sie hier abholen?“

„In drei Stunden.“

Rising Sun erschien pünktlich und Karl führte ihn in sein Stammlokal. Der Wirt und die Gäste staunten nicht schlecht, als die beiden das Lokal betraten. Karl stellte Rising Sun kurz vor und dann setzten sich die beiden an einen kleinen Tisch in der Ecke. Karl bestellte zwei Bier und löcherte dann seinen Gast mit vielen Fragen. Rising Sun kam jetzt zugute, dass ihm Brian als Junge das Buch Lederstrumpf zu lesen gegeben hatte, und er deshalb wusste, wie manche Bleichgesichter sich das Leben seiner Vorfahren vorstellten.

Nach diesem Abend trafen sich die beide noch öfter. Karl informierte Rising Sun über alles, was er über den Ablauf an der Uni und über seine Dozenten wissen musste. Der Indianer erzählte ihm von seinem einfachen Leben in der Wüste, von seinen Freunden Suzette, Brian, Mary und James, von der Natur in der Umgebung seines Dorfes, die sein eigentliches Zuhause war und von seinen Zielen. Karl war ein guter und begeisterter Zuhörer.


Zu Beginn seines Studiums nahm Rising Sun an verschiedenen Sportaktivitäten teil. Er war ein sehr guter Läufer und machte auf Grund seiner Schnelligkeit auch eine gute Figur beim Football. Der Trainer hätte ihn gerne in das Hochschulteam integriert. Aber Rising Sun weigerte sich, Sportschuhe anzuziehen. Selbst Rufus konnte ihn nicht umstimmen. Und so wurde es nichts aus einer Karriere als erfolgreicher Sportler an der Uni, was die Trainer und Rufus sehr bedauerten. Er lernte mehrere junge Frauen kennen, aber immer, wenn er sich weigerte, auf Partys zu gehen und von dem einfachen Leben seines Stammes und seinen Freunden, den Schlangen und Spinnen schwärmte, verloren sie schnell das Interesse an ihm. Aber das störte ihn nicht weiter. Er konzentrierte sich auf sein Studium, lernte Spanisch und Russisch, erkundete die Natur rund um Boston, traf sich einmal die Woche mit seinem Freund Karl zu einem Bier und verbrachte ansonsten jede freie Minute bei seinem Stamm, seinen Freunden aus dem Tierreich und natürlich mit Brian, Suzette, Mary und James.

Als sich das Studium dem Ende zuneigte, trafen sich Häuptling Diogenes, Listiger Fuchs, Brian, Suzette, Rufus und Rising Sun auf der Terrasse der Goodness‘, um gemeinsam über die berufliche Laufbahn des jungen Mannes zu beraten. Rising Sun hatte eine klare Vorstellung, die er während des Studiums auch schon mehrfach mit Rufus diskutiert hatte.

„Ich möchte zu den Vereinten Nationen nach New York, um dort meinen Beitrag zu leisten, dass der Weltfrieden nicht weiter gefährdet wird und die Einhaltung des Völkerrechtes und der Schutz der Menschenrechte auf der ganzen Welt gewährleistet sind. Ich habe von meinem Vater gelernt, wie man Konflikte löst, und von euch, liebe Suzette und lieber Brian, eine ausgezeichnete Allgemeinbildung erhalten. Und in den letzten Jahren habe ich an der Uni hoffentlich genug gelernt, um mich im Dschungel der politischen Eitelkeiten zurechtzufinden. Außerdem besitze ich zwei wichtige Eigenschaften, die uns Indianer auszeichnen: Ich habe unendlich viel Geduld und sehr gute Nerven.“


Einen Monat später bat Rufus Rising Sun, ihn am Abend in seinem Büro zu besuchen. Er wollte ihm einen guten Bekannten vorstellen. Als Rising Sun, auch diesmal trug er keine Schuhe, das Büro betrat, erhoben sich Rufus und sein Gast von ihren Stühlen. Rufus stellte seinen Bekannten vor. Es handelte sich um den Franzosen Monsieur Représentant, den er als den Assistenten und sehr engen Vertrauten des Generalsekretärs der UNO vorstellte. Die drei setzten sich an einen Tisch und der Franzose begann sofort das Gespräch.

„Wie mir mein Freund Rufus in der letzten Stunde verraten hat, heißen Sie Rising Sun und sind der Sohn des Häuptlings des Indianerstamms der Namenlosen. Ich muss zugeben, dass ich bis gerade noch nie von diesem Stamm gehört habe. Weiterhin habe ich von meinem Freund erfahren, dass er Sie trotz Ihres jungen Alters für geeignet hält, in meinem Team mitzuarbeiten. Ich kümmere mich unter anderem um die Lösung von Konflikten aller Art und um unterdrückte und gefährdete Ethnien auf dieser Welt. Und von beidem gibt es leider eine große Menge. Sie haben aufgrund Ihrer Herkunft zweifellos den Vorteil, dass Sie nachvollziehen können, wovon ich spreche. Warum glauben Sie, dass Sie geeignet sind, mein Mitarbeiter zu werden?“

Rising Sun entschied sich, dem Franzosen in dessen Heimatsprache zu antworten. Er erzählte ihm von den abendlichen Gesprächen mit seinem Vater und von seinem Wunsch, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, um wieder das Wohlgefallen Manitus zurückzugewinnen.

Man sah dem Franzosen an, dass er beeindruckt war.

„Bevor ich weiter auf Ihre Argumente eingehe, eine Frage: Wo haben Sie so hervorragend Französisch gelernt? Sie sprechen unsere Sprache wie ein Franzose.“

„Ich hatte die beste Lehrerin der Welt.“

„Bitte richten Sie der Dame meinen Gruß und meinen größten Respekt aus. Aber nun zu ihren Argumenten. Sind Sie religiös, und welcher politischen Partei in Amerika stehen Sie nahe?“

„Wenn Sie mit religiös meinen, dass ich daran glaube, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Welt erschaffen, der uns diese Erde zum Geschenk gemacht hat, ja, dann bin ich religiös. Aber ich bin kein religiöser Fanatiker und hege keine missionarischen Gelüste. Allerdings erwarte ich von allen Menschen, dass sie das Werk des Schöpfers respektieren und erhalten. Und nun zu Ihrer zweiten Frage. Die Antwort auf diese Frage sehe ich im direkten Zusammenhang mit dem, was ich auf Ihre erste Frage ausgeführt habe. Die Suche nach Problemlösungen, um unsere Welt auch für unsere Nachkommen lebenswert zu machen, ist viel zu komplex und wichtig, um sie den Politikern zu überlassen, egal zu welcher politischen Richtung sie gehören und in welcher Staatsform sie leben.“


Ein halbes Jahr später begann Rising Sun seine berufliche Laufbahn bei der UNO.


Die Arche der Sonnenkinder

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