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5 Anna

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Der Weg durch die Wüste war sehr anstrengend, aber das Mädchen war guter Dinge, voller Energie und kam zügig voran. Die Sonne machte ihr nichts aus. Nach vier Tagen gingen ihre Essensvorräte zur Neige, und sie fand auch kaum noch Wasser. Da sie nicht wie die männlichen Sonnenkinder Wasser „riechen“ konnte, war ihr bewusst, dass sie keine Chance hatte, lange in dieser Umgebung zu überleben. Sie musste das Ende der Wüste erreichen, denn dort vermutete sie die fremden Vögel. Mit letzter Kraft zwang sie sich, immer weiter Richtung Süden zu gehen. Denn zurück konnte sie nicht mehr, weil das Dorf der Sonnenkinder viel zu weit entfernt war. Am späten Vormittag setzte sie sich erschöpft auf einen großen Stein und starrte mutlos auf den Boden. Da hörte sie von weitem Vogelstimmen. Sie sprang auf und sah in die Richtung, aus der sie die Stimmen gehört hatte. Sie zögerte keinen Augenblick, stolperte los und sah bald am Horizont einen dunklen Streifen, den sie für einen Wald hielt. Das setzte noch einmal die allerletzten Kräfte frei und nach drei Stunden schien der Wald zum Greifen nahe. Die Vögel hatten sie entdeckt, flogen auf sie zu und feuerten sie mit ihrem Gesang an. Aber ihre Kraft reichte nicht mehr. Sie brach zusammen und schlief sofort vor Erschöpfung ein.

Als sie erwachte, war sie von Dunkelheit umgeben. Aber schon nach wenigen Augenblicken hatten sich ihre Augen daran gewöhnt und sie betrachtete neugierig ihre Umgebung. Sie lag auf einem Gestell in einer Höhle. Aber es waren keine Felsen, die diese Höhle umschlossen. Sie tastete mit der rechten Hand entlang der Unterlage, auf der sie lag. Sie fühlte sich sehr weich an, aber das Mädchen hatte dieses Material noch nie zuvor berührt. Sie versuchte, sich zu erheben, um nach Wasser zu suchen, denn ihre Zunge war geschwollen und ihr Gaumen sehr trocken. Neben dem Gestell, auf dem sie lag, stand ein Gefäß. Sie streckte ihre Hand aus und fühlte mit einem Finger, was das Gefäß enthielt. Es war kaltes Wasser. Sie nahm das Gefäß in beide Hände und trank das Wasser in kleinen Schlucken. Danach fühlte sie sich etwas besser, stellte das Gefäß zurück, legte sich wieder auf das Gestell und schlief ein. Als sie das nächste Mal erwachte, war es in der Höhle taghell. Die Sonne schien durch ein großes gleichmäßiges Loch in der Wand. Da öffnete sich ein Teil der gegenüberliegenden Wand und ein Mensch betrat den Raum. Neugierig betrachte das Mädchen diesen Menschen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte Recht mit ihrer Vermutung, dass dort, wo die Vögel hinflogen, auch Menschen wohnen würden. Der Mensch ähnelte etwas den Männern, die es aus dem Versteck heraus beobachtet hatte, wie sie versuchten, den Eingang zum Wald zu finden. Er hatte auch eine helle Haut und helle mittellange Haare auf dem Kopf, aber keine im Gesicht. Der Fremde war deutlich größer als die Sonnenkinder, trug eine fremdartige Kleidung und betrachtete sie genauso neugierig wie sie ihn. Dann kam er näher, öffnete den Mund und sprach sie an. Sie konnte leider nichts verstehen, erkannte aber jetzt, dass der Mensch eine Frau war und sie freundlich ansah. Das Sonnenkind wollte etwas antworten, aber es konnte nicht sprechen. Seine Zunge schien am Gaumen festzukleben. Es beugte sich hinüber zum Gefäß und trank erneut vorsichtig von dem kühlen Wasser. Die Frau beobachtete das Sonnenkind eine Weile, verließ dann das Zimmer, um kurz darauf in Begleitung eines großen Mannes wiederzukommen, der ebenfalls eine helle Hautfarbe, aber lange hellgraue Haare auf dem Kopf und im Gesicht hatte. Er ähnelte den fremden Männern, die sie in der Nähe ihres Dorfes gesehen hatte.

Er zog ein kleines Gestell heran, auf das er sich setzte und betrachtete sie. Die Frau stellte sich neben ihn. Der Mann zeigte auf die Stirn des Mädchens. Dann holte er etwas aus der Tasche und hielt es dem Sonnenkind hin. Das Mädchen ergriff vorsichtig den Stiel, hielt den Gegenstand hoch und betrachtete ihn neugierig. Dann stieß es einen Schrei aus, ließ den Gegenstand fallen und schloss ängstlich die Augen. Das Mädchen hatte gerade zum ersten Mal in einen Spiegel gesehen. Das Sonnenkind versuchte seine Panik in den Griff zu bekommen. Nach kurzer Zeit siegte seine Neugier. Es öffnete die Augen und nahm den Spiegel wieder in die Hand. Es wusste, dass es gerade sein Gesicht sah, denn es hatte sein Spiegelbild schon mehrmals gesehen, wenn sich sein Gesicht im Wasser spiegelte. Der weiße Fleck auf seiner Stirn leuchtete hell und pulsierte stark. Das Mädchen gab den Spiegel zurück. Die Frau hatte die Höhle verlassen und kam mit einer Schale zurück, die sie neben das Mädchen stellte. Das Sonnenkind sah, dass die Schale verschiedene Früchte enthielt, die ihm aber alle unbekannt waren. Es nahm eine Frucht in die Hand und biss hinein. Die Frucht schmeckte sehr gut. Das Sonnenkind vergaß, dass es sich in einer völlig fremden Umgebung befand und konzentrierte sich nur auf das Essen. Danach fühlte es sich besser und richtete sich auf, um die beiden Fremden besser sehen zu können. Jetzt sprach der Mann mit dem Mädchen. Das Sonnenkind fand, dass er eine sehr angenehme Stimme hatte, aber wieder verstand es kein Wort. Kurz darauf entfernten sich die beiden Menschen und ließen das Mädchen allein. Das Sonnenkind fühlte sich durch den Verzehr der Früchte gestärkt. Da es keine Angst vor den Fremden hatte und sich hier sicher fühlte, beschloss es, wieder zu schlafen, um schnell wieder zu Kräften zu kommen.

Der Mann und die Frau unterhielten sich den ganzen Abend über das Mädchen. Der Mann konnte seine Begeisterung kaum zügeln:

„Hast du gesehen, dass ihre schwarze Haut in der Sonne einen leicht bläulichen Schimmer hat? Mir ist nicht bekannt, dass es auf der Welt ein vergleichbares Phänomen gibt. Ich hätte nie gedacht, dass an den Erzählungen der alten Männer in den umliegenden Dörfern etwas dran ist, aber jetzt bin ich mir sicher, dass es sich bei dem Mädchen um ein Sonnenkind handelt.“

Das Sonnenkind machte am nächsten Tag mit Hilfe der Frau die ersten Gehversuche und konnte schon bald das Zimmer verlassen. Alles, was es sah, war neu. Der Mann und die Frau ließen ihm ausreichend Zeit, alle Eindrücke zu verarbeiten.


Mehrere Stunden, nachdem das Sonnenkind in der Nähe des Waldes in Ohnmacht gefallen war, wurden vier Männer eines Stammes, die in einem Dorf in der Nähe lebten, auf das Mädchen aufmerksam. Die Vögel, die in großer Zahl über dem Mädchen kreisten und einen Höllenlärm machten, hatte ihr Interesse geweckt. Die Männer näherten sich vorsichtig der Stelle, die die Vögel umkreisten und hofften auf leichte Beute. Als der Anführer der Vier nur noch wenige Schritte von dem Mädchen entfernt war, blieb er abrupt stehen und wartete, bis die anderen zu ihm aufschlossen. Dann zeigte er auf die Stirn des Mädchens, auf der eine kleine Sonne schwach leuchtete und sehr stark pulsierte. Er ging vorsichtig näher, ging neben dem Mädchen auf die Knie und berührte es mit der Hand leicht am Arm. Das Mädchen reagierte nicht, aber die Sonne leuchtete jetzt ganz hell und die Vögel kamen bedrohlich näher. Der Mann erhob sich und drehte sich zu seinen Stammesbrüdern um.

„Seht euch die Sonne auf der Stirn des Mädchens an. Das muss ein Sonnenkind sein. Mein Großvater hat mir als Kind von einem Stamm erzählt, der auf der anderen Seite der Wüste wohnt. Sie scheint sehr krank zu sein. Was sollen wir tun?“

Auch die anderen Männer hatten schon von ihren Eltern oder Großeltern von den Sonnenkindern gehört. Die pulsierende Sonne auf der Stirn des Mädchens machte einen tiefen Eindruck auf die abergläubischen Männer. Sie hatten völlig vergessen, dass sie von einer leichten Beute ausgegangen waren. Voller Ehrfurcht starrten sie auf das Mädchen und keiner der drei hatte eine Idee, was zu tun sei. Da fasste sich der Anführer ein Herz.

„Wir bringen sie zu dem weißen Arzt, der hinter dem Wald lebt. Der kann ihr bestimmt helfen.“

Da er sehr kräftig war, fiel es ihm nicht schwer, das Mädchen vorsichtig aufzuheben. Gemeinsam machten sich die vier Männer auf den Weg. Abwechselnd trugen sie das Mädchen und erreichten das Haus des Arztes nach vier Stunden. Es war schon Nacht und im Haus des Arztes brannte kein Licht mehr. Die Männer legten das Mädchen vorsichtig auf die Veranda und verschwanden in der Dunkelheit. Am nächsten Morgen entdeckte die Frau das Mädchen, trug es ins Haus und legte es auf ein Bett. Das Mädchen atmete ruhig. Die Sonne auf der Stirn strahlte hell und pulsierte nur leicht. Am Mittag kam der Arzt zurück. Er hatte die Nacht bei einem kranken Nachbarn verbracht.

Der Arzt war ein Deutscher namens Nils Nilsen. Er erblickte in der Nähe von Jever das Licht der Welt. Nach dem Medizinstudium in Paris entschied er sich, als Arzt nach Afrika zu gehen. Er fand eine Anstellung in einem Krankenhaus, das sich in einer großen Stadt befand, die zu einer französischen Kolonie gehörte. Die einheimischen Menschen, ihre Lebensart und die Landschaft faszinierten ihn von der ersten Minute an. Einige Jahre später bekam er die Chance, eine verlassene Arztpraxis in einer abgelegenen Gegend zu übernehmen. Er sagte sofort zu. Die Bewohner der umliegenden Dörfer fassten schnell Vertrauen zu ihm, und es gelang ihm, vielen Kranken zu helfen. Nils lebte jetzt schon fast 40 Jahre in Afrika. Er beherrschte mittlerweile die Dialekte, die in den umliegenden Dörfern gesprochen wurden und die Häuptlinge hatten ihn als Medizinmann anerkannt. Vor zehn Jahren bekam er Besuch von seiner jüngeren Schwester. Erna Hansen hatte kurz zuvor ihren Mann bei einem Unfall verloren und hoffte in Afrika den nötigen Abstand zu finden, um ein neues Leben beginnen zu können. Da sie gelernte Krankenschwester war, half sie Nils bei der Arbeit. Es dauerte nicht lange und auch sie wurde vom „Afrikavirus“ befallen und entschloss sich zu bleiben.


Nils und Erna gaben dem Sonnenkind den Namen Anna. Das Mädchen lernte schnell, sich in ihrer neuen Umgebung zurecht zu finden. Es dauerte nicht lange, und sie konnte die ersten Sätze in der Sprache der Hellhäutigen sprechen. Anna lernte lesen, schreiben, rechnen und später auch von Nils die französische Sprache und die Dialekte, die in den umliegenden Dörfern gesprochen wurden. Zu Anfang weigerte sie sich, ihr Kleid aus Pflanzen abzulegen, aber irgendwann gab sie ihren Widerstand auf und zog die Kleidung an, die Erna aus der Stadt mitgebracht hatte. Aber sie ließ sich nicht dazu überreden, Schuhe anzuziehen. Immer seltener dachte Anna an das Volk der Sonnenkinder, und Nils und Erna waren sensibel genug, das Mädchen nicht auf ihre Vergangenheit anzusprechen. Anna fühlte sich in ihrer neuen Umgebung sehr wohl und entwickelte sich zu einer hübschen jungen Frau. Sie kannte mittlerweile alle Tiere, die es in der Umgebung gab, und Nils und Erna staunten jedes Mal, wenn Anna von einem Schwarm Vögel oder Insekten nach Hause begleitet wurde. Nach zwei Jahren fuhr sie erstmals mit Nils und Erna in die große Stadt. Sie wollte erst nicht mitfahren, aber Nils ließ nicht locker. Auf der Fahrt eröffnete der Arzt der jungen Frau, dass er mit ihr zum Gericht gehen wollte, um sie zu adoptieren. Anna war darüber sehr glücklich. Sie trug ein Stirnband, damit ihr weißer Fleck auf der Stirn nicht zu sehen war. Es war Nils‘ Wunsch, denn er befürchtete, dass Anna eine zu große Aufmerksamkeit zuteil wurde, was zu eventuellen Nachfragen führen konnte. Die Stadt bot dem Mädchen viel Neues und es benötigte noch mehrere Tage, um alle Eindrücke zu verarbeiten.

Hin und wieder kamen Gäste aus der Stadt oder von den umliegenden großen Gütern zu Besuch. Es handelte sich ausschließlich um Franzosen. Die meisten von ihnen hatten ihre Heimat verlassen, um in den Kolonien zu Wohlstand zu kommen. Anna lernte dadurch gleichaltrige Jungen kennen, die sich auch sehr für sie interessierten. Aber sie machte allen sofort klar, dass sie nicht an einer engeren Freundschaft interessiert war.

Nils nahm Anna immer häufiger mit zu seinen Patienten in den umliegenden Dörfern, denn er hatte schnell bemerkt, dass die junge Frau eine gute Diagnostikerin war und viele Kräuter kannte, von denen er noch nie gehört hatte, die aber eine erstaunlich positive Wirkung entfalteten. Die Dorfbewohner ließen sich gerne von Anna berühren, denn sie waren davon überzeugt, dass das Sonnenkind heilende Hände hatte. Nils ließ sie in dem Glauben, denn besonders in der Medizin versetzt der Glaube Berge und heilt.

Wenn Anna nicht mit Nils unterwegs war, nahm sie einen Zeichenblock und Stifte, beides hatte sie in einem Schreibtisch entdeckt, ging hinaus in die Natur und zeichnete Tiere, Pflanzen und Blumen.

Eines Tages holte Erna gemeinsam mit Nils ihren Neffen vom Bahnhof ab, der einige Wochen zu Besuch kam. Hans Hansen lebte in der Nähe von Sankt Peter-Ording und hatte gerade sein Abitur gemacht. Er wollte nach dem Urlaub bei seiner Tante zur Marine gehen. Anna erwartete die drei auf der Veranda. Als Hans aus dem Auto ausstieg, war es um Anna geschehen. Der sehr große junge Mann mit den hellblonden Haaren und den hellblauen Augen gefiel ihr sofort. Ihr Herz klopfte laut und die Sonne auf ihrer Stirn pulsierte heftig, als Hans auf sie zukam, um sie zu begrüßen.

„Guten Tag, Anna, ich heiße Hans und freue mich, dich kennen zu lernen. Ich habe schon viel von dir gehört, und du bist noch viel hübscher, als ich es mir nach der Beschreibung von Tante Erna und Onkel Nils vorgestellt habe.“

Er nahm vorsichtig ihre kleine Hand und drückte sie leicht.

„Willkommen Hans, schön, dass du da bist.“

Mehr bekam sie nicht heraus, denn die ganze Situation überforderte sie doch sehr.

Die beiden unternahmen viele gemeinsame Spaziergänge. Anna zeigte ihm die Tiere und die Pflanzen und Hans erzählte ihr von seiner Heimat und der Nordsee. Besonders von der Nordsee konnte sie nicht genug hören. Sie roch förmlich das Salz der See und träumte davon, einmal am Strand der Nordsee zu stehen, das Rauschen der Wellen zu hören und den Geruch der Gischt einzuatmen.

Die Wochen vergingen viel zu schnell. Beim Abschied versprach Hans Anna, ihr regelmäßig zu schreiben und seinen nächsten Urlaub wieder in Afrika zu verbringen. Als der Wagen losfuhr, um Hans zum Bahnhof zu bringen, stand Anna auch noch auf der Veranda, als der Wagen schon lange nicht mehr zu sehen war. Sie war glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil sie Hans kennenlernen durfte, und traurig, weil eine innere Stimme ihr sagte, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Hans hielt Wort und schrieb ihr fast jede Woche einen Brief, und darin befand sich mindestens eine Karte, auf der die Nordsee zu sehen war. Hans war wie geplant zur Marine gegangen. Dann kam eine Weile kein Brief, weil er auf See war.


In Afrika rumorte es. Seitdem 1960, dem Afrika­Jahr, viele ehemalige Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen worden waren, kam es in vielen Regionen dieses Kontinents immer wieder zu Unruhen. Verschiedene Stämme kämpften um Macht und Einfluss. Bewaffnete Schwarze wollten Rache an den ehemaligen Kolonialherren nehmen und töteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.


Anna saß wieder einmal mit ihrem Zeichenblock im Gras und zeichnete verschiedene Gräser, die ihr besonders gut gefielen. Da veränderte sich die Luft. Es roch nach Rauch. Sie stand auf und sah, dass dort, wo sie gemeinsam mit Nils und Erna wohnte, Flammen zu sehen waren. Sie legte den Block und die Stifte ins Gras und rannte los. Als sie das Haus sehen konnte, stockte ihr der Atem. Mehrere große schwarze Männer verprügelten laut grölend Nils und Erna. Andere Männer warfen leicht brennbares Material in die Flammen. Sie schrie laut und rannte auf die Männer zu. Als der Anführer sie bemerkte, kam er ihr langsam entgegen. Sie rannte an ihm vorbei und stieß die Männer zur Seite, die Nils und Erna mit Fußtritten traktierten. Anna beugte sich zu den beiden runter und sah sofort, dass jede Hilfe zu spät kam. Die beiden waren bereits tot. Sie stand auf und ging wie in Trance auf den Anführer zu.

Der hatte sein Gewehr erhoben und zielte auf ihren Kopf. Da zeigte einer der anderen Männer auf Annas Stirn und rief laut: „Ein Sonnenkind“. Sofort bildeten alle Männer einen Kreis um Anna, um sie genauer zu betrachten. Der Anführer wurde wütend und forderte seine Männer auf, aus der Schusslinie zu gehen. Aber seine Untergebenen reagierten nicht. Er stieß zwei seiner Männer zur Seite und hob erneut die Waffe. Da zog der Mann, der laut „Ein Sonnenkind!“ gerufen hatte, seinen Revolver und erschoss seinen Anführer. Dann verbeugte er sich vor Anna, gab den anderen ein Zeichen, worauf alle die LKW bestiegen, mit denen sie gekommen waren, und wegfuhren. Anna bückte sich, um den Anführer zu untersuchen. Auch er war tot. Sie setzte sich zwischen Nils und Erna und weinte. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont und es wurde dunkel. Sie ging wieder auf, doch Anna saß immer noch an derselben Stelle. Sie weinte nicht, denn sie hatte keine Tränen mehr. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so leer und hilflos gefühlt, wie in diesem Moment. Das Feuer war mittlerweile erloschen. Nur vereinzelt gab es noch einzelne Brandnester.

Da hörte sie, wie sich ihr von hinten mehrere Frauen und Männer näherten. Unter ihnen war der Häuptling des nächsten Dorfes. Als er sah, dass der Arzt und seine Schwester tot waren, fing er an, ein Klagelied anzustimmen. Eine ältere Frau starrte Anna mit weit aufgerissenen Augen an und deutete auf ihre Haare. Anna nahm ihre Haare in die Hand und wusste jetzt, was das Entsetzen bei der Frau ausgelöst hatte. Ihre wunderschönen schwarzen Haare waren über Nacht schneeweiß geworden. Sie ging ins Haus und suchte nach dem Spiegel. Als sie hineinsah, glaubte sie, in das Gesicht einer alten Frau zu blicken. Aber seltsamerweise störte sie das nicht weiter. Sie ging wieder hinaus und bat den Häuptling, ihr bei der Beerdigung von Nils und Erna zu helfen. Mehrere Männer des Stammes trugen die beiden Weißen auf das Feld und bauten aus Steinen eine Pyramide. Den Anführer wollten sie nicht anrühren, aber Anna forderte die Männer auf, den Schwarzen neben Nils und Erna zu legen und ebenfalls mit Steinen zu bedecken. Ihre Augen blitzten und die Sonne auf ihrer Stirn funkelte und pulsierte sehr stark. Die Männer fürchteten sich vor Anna und gehorchten.

Als der Häuptling und die Männer und Frauen seines Stammes wieder im Wald verschwunden waren, ging sie durch das Haus und suchte nach noch brauchbaren Sachen. Aber sie fand nicht viel. Nur die Geldkassette, in der neben dem Geld auch alle wichtigen Dokumente verwahrt wurden, hatte das Feuer unbeschadet überstanden. Sie nahm die Kassette mit nach draußen. Das Haus war nicht mehr bewohnbar. Sie ging zu dem Schuppen, der etwa 50 Meter vom Haus entfernt stand und völlig in Ordnung zu sein schien. Sie ging hinein. Nils Wagen stand dort unberührt. Sie hatte gelernt, den alten Land Rover zu steuern und beschloss, am nächsten Tag in die Stadt zu fahren, um den Überfall und den Tod von Nils und Erna zu melden.

Als sie am nächsten Tag die Stadt erreichte, fuhr sie zuerst zur Post, um nachzusehen, ob dort Briefe für Nils, Erna oder für sie lagerten. Es war nur ein Brief aus Deutschland für Erna im Postfach. Sie nahm den Brief heraus und ging hinaus auf den Bürgersteig, um den Brief zu lesen. Der Absender war der Vater von Hans Hansen, der ebenfalls Hans Hansen hieß. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen, die sie erstarren ließen.

Liebe Erna,

ich habe keine guten Nachrichten. Mein Sohn Hans ist aus bisher nicht geklärter Ursache mit seinem Schiff untergegangen. Die Suche nach Überlebenden wurde auf Grund der schlechten Witterung eingestellt. Es gibt leider keine Hoffnung mehr.

Ich bin unendlich traurig und weiß nicht mehr weiter.

Bitte bringe Anna diese Nachricht möglichst schonend bei und sage ihr, dass Hans sie sehr gerne hatte.

Gruß Hans.

P.S.: Bitte grüß deinen Bruder ganz herzlich von mir.

Sie las den Brief zweimal, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in ihre Jacke. Dann ging sie in den Park und setzte sich auf eine Bank. Es dauerte nicht lange und die ersten Vögel setzten sich neben sie auf die Armlehne. Sie spürten, wie unglücklich Anna war, und sangen wunderschön, um sie etwas aufzumuntern. Aber Anna fand heute keinen Trost in dem Gesang ihrer Freunde. Nach einer Stunde stand sie auf, ging in ein Geschäft und kaufte Briefpapier und einen Stift. Dann setzt sie sich in ein Café, bestellte einen Kaffee und schrieb an Hans‘ Vater.

Sehr geehrter Herr Hansen,

Ihre Nachricht macht mich sehr traurig. Ich habe Ihren Sohn auch sehr gern gehabt und davon geträumt, einmal mit ihm gemeinsam am Strand der Nordsee spazieren zu gehen, um die frische, salzhaltige Seeluft einzuatmen.

Leider habe auch ich keine guten Nachrichten. Erna und Nils sind von einer Horde schwarzer Mörder erschlagen worden.

Jetzt habe ich innerhalb von wenigen Tagen die drei Menschen verloren, die mir am meisten bedeutet haben. Ich fühle mich so alleine.

Anna

Sie verschloss den Umschlag und brachte den Brief zur Post. Als sie anschließend zum Rathaus gehen wollte, um den Tod von Nils und Erna zu melden, war die Tür verschlossen. Anna ging zurück zum Auto und fuhr nach Hause.

Als sie mitten in der Nacht dort ankam, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie wollte zurück zu den Sonnenkindern und hoffte, dass sie dort wiederaufgenommen würde. Am Morgen füllte sie den Tank des Wagens auf und ging zum nächsten Dorf, um sich von dem Häuptling zu verabschieden. Er war sehr betrübt darüber, nach Nils und Erna jetzt auch noch Anna zu verlieren. Sie ging zurück und legte sich schlafen, denn sie wusste, dass ihr anstrengende Tage bevorstanden.

Am nächsten Tag überlegte sie, was sie von den Sachen, die sie in den letzten Jahren in der Scheune verstaut hatte, mitnehmen wollte. Sie entschied sich für alle Briefe, Zeichnungen, den Bestand an Zeichenblöcken und Stiften, sowie alle Schulbücher und verpackte alles in mehreren alten Kisten. Anschließend legte sie alle noch verfügbaren Wasserflaschen, Brot und Obst in einen alten Rucksack, der an der Wand hing und brachte alles ins Auto. Dann fuhr sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie kannte die Richtung und hoffte, eine möglichst weite Strecke mit dem Land Rover zurücklegen zu können. Es klappte besser, als sie vermutet hatte. Die letzten dreißig Kilometer musste sie allerdings laufen. Aber das war für sie kein Problem. Sie schulterte den Rucksack und machte sich auf den Weg. Je näher sie dem Dorf der Sonnenkinder kam, umso nervöser wurde sie. Und dann war es soweit. Sie erblickte die Felsformation, die den Wald umschloss und wurde schon bald von drei Männern ihres Stammes entdeckt. Die drei kamen vorsichtig auf sie zu, denn sie konnten offensichtlich nichts mit ihr anfangen. Als sie sich gegenüberstanden, zeigten die Männer verwundert auf die helle Stelle in Form einer Sonne auf Annas Stirn. Die kleine Sonne leuchtete besonders hell und pulsierte heftig.

„Wer bist du, Weise Alte?“ fragte der Mutigste von ihnen.

„Ich bin ein Sonnenkind wie ihr. Aber ich war sehr lange fort. Bitte bringt mich zur Weisen Mutter.“

„Wir haben seit kurzem eine neue Weise Mutter. Die alte ist überraschend verstorben. Folge uns.“

In der Nähe des Zugangs zum Wald blieben die drei unschlüssig stehen. Anna ging an den Männern vorbei, trennte mit ihren Händen den Vorhang aus Schlingpflanzen und betrat die Felsspalte, wo sie von den Lianen abgetastet wurde. Anna schloss die Augen und genoss es, von den Pflanzen berührt zu werden. Dann verließ sie den Zugang, trat hinaus in den Wald, blieb stehen und verharrte einen Augenblick. Anschließend machte sie sich auf den Weg zur Höhle der Weisen Mutter. Dort wurde sie zuerst von den Insekten „begrüßt“, die die Höhle bewachten. Anna freute sich, von ihnen eingeschlossen und überprüft zu werden. Dann trat sie ein. Auf einem kleinen Felsvorsprung saß die junge Weise Mutter und hatte die Augen geschlossen.

„Guten Tag, Weise Mutter, wie geht es dir?“

Die Weise Mutter öffnete die Augen und sah Anna an.

„Du warst sehr lange fort, meine Freundin und hast dich sehr verändert. Komm mit mir ins Licht, ich möchte dich genau betrachten.“ Die beiden Frauen gingen vor die Höhle. Dort hatten sich mittlerweile viele Sonnenkinder versammelt, denn die drei Männer waren von Höhle zu Höhle gelaufen, um zu verkünden, dass eine alte Frau gekommen war, die wie eine alte Weise Mutter aussah. Die Weise Mutter führte Anna zu der Höhle, die direkt neben ihrer lag.

„Du hast sicherlich viel zu erzählen. Aber ruhe dich jetzt erst einmal aus. Hast du irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?“

„Ja, den habe ich. Ich wünsche mir ein neues Kleid, und ich habe auch noch eine Bitte. Ich habe in der Wüste Sachen zurückgelassen, die ich nicht alleine tragen konnte. Kannst du mir morgen die drei Männer mitgeben, die mich gefunden haben, damit sie mir beim Tragen helfen?“

„Dein Wunsch und deine Bitte sind erfüllt.“

Am nächsten Tag machte sich Anna mit den Männern auf den Weg zum Auto und die Weise Mutter rief alle Sonnenkinder zusammen, um sie darüber zu informieren, wer die Frau mit den weißen Haaren war. Die alten Frauen und Männer konnten sich noch gut an das Mädchen erinnern, dass vor vielen Jahren verschwunden war. Aber sie wollten nicht glauben, dass es sich bei dem Mädchen von damals und der Frau mit den weißen Haaren um ein und dieselbe Person handelte. Die Weise Mutter ging zurück in ihre Höhle und dachte an die Zeit zurück, als sie im Alter von zehn Jahren zu der Weisen Mutter gezogen war, um auf ihre Rolle als Weise Mutter vorbereitet zu werden. Sie war damals sicher, dass das ein Jahr jüngere Mädchen besser geeignet war, die neue Weise Mutter zu werden und hatte auch mit der Weisen Mutter oft darüber gesprochen. Aber sie hatte nie eine Antwort bekommen, aus der sie ableiten konnte, wie die Weise Mutter darüber dachte. Jetzt war ihre Freundin von damals wieder da und hatte wahrscheinlich in der Zwischenzeit mehr erlebt und gelernt, als es allen Sonnenkindern jemals möglich sein würde. Sie beschloss, die Heimkehrerin zu ihrer engsten Vertrauten zu machen und von ihrer Erfahrung und ihrem Wissen zum Wohl des Volkes der Sonnenkinder zu profitieren. Und damit die Sonnenkinder verstanden, welche Rolle sie ihrer alten Freundin zugedacht hatte, gab sie ihr den Namen „die Weise Alte“. Sie konnte nicht wissen, dass einer der Männer, die Anna als erste begegnet waren, ihr schon diesen Namen gegeben hatte.

Als Anna mit den drei Männern zurückkam, wurde sie von der Weisen Mutter in Empfang genommen, denn die Königin der Sonnenkinder war genauso neugierig wie ihr Volk, um welche Schätze es sich handelte, die die Weise Alte aus ihrem anderen Leben mitgebracht hatte. Aber die Kisten, die die Männer in Annas Höhle trugen, enthielten nur Briefe, Bücher, Zeichenblöcke und Stifte. Mit all diesen Dingen konnten die Sonnenkinder, die kein Papier und keine Schrift kannten, nichts anfangen.

Nachdem die Männer die Kisten in Annas Höhle transportiert hatten, ging sie zur Weisen Mutter. Auf dem Felsvorsprung lag ein Kleid aus Pflanzen für sie bereit.

„Wenn du einverstanden bist, möchte ich dich zu meiner engsten Vertrauten machen. Morgen gehe ich länger in den Wald. Willst du mich begleiten?“

„Ich danke dir für dein Vertrauen und werde dich nicht enttäuschen. Und auf den Wald freue ich mich besonders.“

Die Sonne auf der Stirn der Weisen Alten strahlte hell und pulsierte stark.

Am nächsten Morgen machten sich die beiden Frauen auf den Weg tief in den Wald hinein. Es war dort ungewöhnlich ruhig. Die Weise Mutter ging voran und die Weise Alte folgte ihr. Da schwoll der Geräuschpegel an, und von allen Seiten kamen Vögel und Insekten angeflogen und umkreisten die Weise Alte. Anna war sehr glücklich und spürte, dass sie jetzt wieder zuhause war. Und noch eines wurde ihr bewusst: Anna gab es nicht mehr. Von nun an würde sich die Weise Alte wieder ganz in den Dienst ihres Volkes, dem Volk der Sonnenkinder, stellen.


Die Arche der Sonnenkinder

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