Читать книгу Ausweglos - Jürgen Block - Страница 5
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ОглавлениеBehände nahm Georg Kolbe die letzten Stufen zur Pforte des Paracelsus-Instituts für Systemforschung, die Glastüren glitten lautlos zur Seite, freundlich begrüßte er Renate, die Frau am Empfang, und wechselte ein paar unverbindliche Worte mit ihr. Bevor er seine Schritte in Richtung Bibliothek lenkte, ließ er seinen Blick durch das gewaltige Foyer schweifen, dessen einziger Zweck darin bestand, den Mitarbeitern und Besuchern klar zu machen, dass sie sich in einer Kathedrale der Wissenschaft befanden, in der der einzelne Mensch sich klein fühlen sollte angesichts der internationalen Bedeutung der hier geleisteten biomedizinischen Forschung.
Etliche Mitarbeiter, denen die Ehrfurcht schnell abhanden gekommen war, sahen das ganze realistischer und klagten, dass die Architekten aus so vielen Kubikmetern ungenutzten Raums sehr gut noch Labore hätten schaffen können, denn in den Laboren des Instituts, das für einhundertundfünfzig Mitarbeiter konzipiert worden war und nun dreihundertundfünfzig Mitarbeiter beherbergte, trat man sich gegenseitig auf die Füße und ging sich auf die Nerven.
Kolbes Blick fiel auch auf das große Blumenge-steck in einem quadratischen Blechkübel, das als Dankeschön für die Organisatoren eines Studenten-Symposiums stehen geblieben und vergessen worden war. Einsam und verloren stand es da, und hätte jemand einen schwarzen Stoffstreifen angebracht, würde sich das Foyer in eine Trauerhalle verwandelt haben.
Der Weg in „seine“ Bibliothek führte Kolbe an der Büste des Namenspatrons der Paracelsus-Gesellschaft vorbei, und er grinste das versteinerte Antlitz an, weil seine Freundin, die einen gehörigen Schuss gesunden Humors besaß, oft morgens zu ihm sagte: “Nun arbeite mal schön fleißig, damit Paracelsus mit dir zufrieden sein kann!“
Im Gang zur Bibliothek lag ein Teppich aus gelben Blütenpollen und er schloss das Oberlicht im ersten großen Fenster. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein, was wie jeden Tag etwas später vom Sicherheitsbeauftragten des Instituts wieder rückgängig gemacht werden würde, mit dem Argument, das Institut müsse Strom sparen. Dabei übersah der gute Mann allerdings, dass die Lampen auch Licht für eine Überwachungs-Kamera spendeten, die über einem Portrait des Namenspatrons angebracht war, hinter dem sich ein Wandsafe befand.
In diesem Safe lag eine weitere Zugangskarte für den Eingang und die Bereiche des Instituts, die abends ab neunzehn Uhr für unbefugten Zutritt gesperrt wurden. Mitarbeiter, die spät in der Bibliothek gearbeitet und ihre persönliche Zugangskarte in ihrem Labor oder dem Büro liegen gelassen und sich also ausgesperrt hatten, sollten mithilfe dieser Ersatzkarte in ihre Räume zurück gelangen können. Alle Vorgänge an diesem Safe würden von der Kamera aufgezeichnet, hieß es von den Sicherheitsexperten, und sie versuchten, dabei ganz wichtig auszusehen. So weit er wusste, hatte noch niemand Gebrauch von dieser Karte gemacht und es gab Gerüchte im Institut, dass der Safe leer sei, was ihm den Spitznamen „Potemkin-Safe“ eingebracht hatte.
Dr. Kolbe betrat den Lesesaal der Bibliothek, in dem bereits einige eifrige Studenten an der Abfassung ihrer akademischen Qualifikationen arbeiteten, schaltete auch hier die Neonröhren ein und schloss die Tür zu seinem Büro auf. Er wunderte sich, dass seine Assistentin Petra noch nicht an ihrem Schreibtisch saß, doch dann studierte er den Jahresplaner an der Wand und schlug sich an die Stirn, sie hatte ja Urlaub.
Kolbe ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen, schaute missbilligend seine enorme Unordnung links und rechts von seinem PC an, streckte und reckte sich, was zu einem Knacken in den Halswirbeln führte – dreiundsechzig Jahre waren eben nicht spurlos an ihm vorüber gegangen – und fuhr seinen PC hoch. Browser und Emailprogramm starteten automatisch, nur das Bibliotheksverwaltungsprogramm Pegasus musste er von Hand aufrufen.
Seit über dreißig Jahren arbeitete er nun schon in diesem Institut, oft schien es ihm, als gehöre er bereits zum lebenden Inventar. Nach langer Laborarbeit als Molekularbiologe wurden seine Aktivitäten in eine Richtung gelenkt, die er nicht vorausgeplant hatte. Die Direktoren des Instituts hatten beschlossen, ihn aus dem Zentrallabor für Bioanalytik in die Bibliothek zu versetzen, nicht zuletzt auch deshalb, weil seine Analysen bereits damals mit umfangreichen Recherchen in Datenbanken verbunden waren. Sie gaben ihm vierzehn Tage Bedenkzeit, doch weil seine wissenschaftliche Karriere zu jener Zeit stagnierte, brauchte er nicht lange zu überlegen.
Den Nobelpreis würde er so oder so nicht mehr bekommen, es war an der Zeit, sich von dem gnadenlosen wissenschaftlichen Konkurrenzkampf zu verabschieden. Er nahm die Herausforderung an und es hatte sich ausgezahlt. Nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt begann die digitale Revolution im wissenschaftlichen Publikationswesen.
Zeitschriftenartikel erschienen nun nicht nur im Druck, sondern wurden online übers Internet im Volltext angeboten und unterschieden sich nicht von den gedruckten Exemplaren. Er war unter den ersten, die für seine Bibliothek Lizenzen zur Nutzung dieser Angebote erwarben.
Jetzt war die Online-Versorgung mit wissenschaftlicher Literatur zu einem millionenschweren Geschäft geworden, die Öffentlichkeit, Politik und Justiz hatten sich intensiv mit den damit verbundnen Fragen beschäftigt. Die Paracelsus-Gesellschaft hatte eine Dachorganisation eingerichtet, die sich mit Mitteln aus jedem Institutshaushalt finanzierte, mit den großen wissenschaftlichen Verlagen verhandelte und Lizenzen für mittlerweile über zwanzigtausend Zeitschriften verwaltete.
Weil jeder Institutsangehörige, vom Bachelor-Studenten bis hin zum Professor, an seinem Arbeitsplatz-PC auf diese Inhalte zugreifen konnte, wurde bald von etlichen Seiten geäußert, dass man nun Bibliothekarinnen und Bibliothekare nicht mehr brauche, es sei ja alles online. Und tatsächlich ging der Trend in einigen Bibliotheken der biowissenschaftlichen Institute der Paracelsus-Gesellschaft dahin, OPL (One Person Libraries) zu NPL (No Person Libraries) zu machen.
Es wurde aber auch deutlich, dass Bibliothekare ihr Handwerk nicht nur mit penibler Professionalität ausübten, sondern darüber hinaus auch die Kunstfertigkeit entwickelten, sich schlichtweg unentbehrlich zu machen. Kolbe hatte diese Kunst bis zur Perfektion entwickelt: es gab nach wie vor wissenschaftliche Literatur, die nicht im Buch- und Zeitschriftenbestand der Bibliothek vorhanden war und für die es keinen Online-Zugriff gab. Moderne Bestellsysteme erlaubten es dem pfiffigen Bibliothekar, dem Nutzer diese Informationen in wenigen Stunden zur Verfügung zu stellen, und wenn er Fragen wie „Wie macht ihr das nur so schnell?“ mit hintergründigem Lächeln beantwortete „Na ja, wir haben halt so unsere speziellen Quellen!“, dann hatte er seinen großen Auftritt als Merlin der Informationstechnik.
Zu Sternstunden des Recherchierens und Bibliographierens kam es, wenn der ehemalige Geschäftsführer des Instituts vorbeischaute und neue Literaturwünsche hatte. Dr. Robert Fahlmann war Physiker und mutierte nach seiner Pensionierung zum Haushistoriker des Instituts. Das jetzige Paracelsus-Institut hatte mehrere Vorläufer gehabt, von denen die während der Nazi-Diktatur existierenden historisch die interessantesten waren. Fahlmann hatte dazu mehrere Beiträge in populären Zeitschriften geschrieben und arbeitete nun zusammen mit anderen Historikern an einer umfassenden Darstellung der Institutsgeschichte. Er war ständig agil und auf dem Sprung, brachte kaum einen Satz vernünftig zu Ende, nahm sich aber die Zeit, die neuesten Geschichten zu erzählen, die er dem Dunkel der Vergangenheit entrissen hatte.
Ohne sich angekündigt zu haben, stand Fahlmann heute um zehn Uhr in Kolbes Büro. Er scherte sich nicht darum, dass Kolbe gerade mit anderer Arbeit beschäftigt war, erzählte sofort Geschichten von Leuten, die Kolbe vollkommen unbekannt waren und kam dann zum Kern seines Besuches, was er wie immer mit den Worten einleitete:
„Sagen Sie, Herr Kolbe, kommen Sie an so was ran?“.
Er reichte Kolbe einen Zettel herüber, auf dem Folgendes zu lesen war: „Jendrassek, Das Le Chateliersche Prinzip ..., Studia Biologica Hungarica“.
Kolbe, der ein hervorragendes visuelles Gedächtnis besaß und jedes Buch in der Bibliothek nicht nur einmal in der Hand gehabt hatte, schaute enttäuscht auf seinen Besucher. Dessen Wunsch brachte ihn leider um den Genuss, nach Herzenslust bibliographieren zu können, denn das gesuchte Heft befand sich in der Gleitregalanlage des Magazins im Keller des Instituts, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
„Herr Fahlmann, das Heft ist bei uns vorhanden, ich muss es nur aus dem Magazin holen.“, sagte er. „Haben Sie noch etwas anderes im Haus zu tun? Es dauert nur ein paar Minuten.“
„Einverstanden“, freute sich Fahlmann, „ich habe noch eine Besprechung mit einem der Direktoren. In einer Stunde bin ich wieder da.“ Damit verschwand er auf leisen Sohlen wie er gekommen war.
Kolbe schaute noch kurz auf seine aktuellen Emails, dann machte er sich auf den Weg ins Magazin. Vom Schreibtisch loszukommen, das konnte seinen alten Knochen nur gut tun.