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Die Spurensicherung der Kriminalpolizei hatte einen Scheinwerfer aufgestellt, der die Szenerie gnadenlos ausleuchtete, und alle, die am Tatort unmittelbar nichts zu suchen hatten, aufgefordert, sich im Gang vor dem Magazin aufzuhalten. Dem Geschäftsführer des Instituts stand der Schweiß in kleinen Perlen auf der Stirn und er murmelte immer wieder: “Dieser Skandal, davon darf nichts an die Öffentlichkeit gelangen!“

Das war also seine einzige Sorge angesichts der Tatsache, dass ein Mensch keinen anderen Ausweg aus einer verzweifelten Lage gewusst hatte, als den sich umzubringen.

Die Direktoren des Instituts befanden sich auf Dienstreisen, sollten aber so schnell wie möglich zurückgeholt werden. Die diensthabende Kriminaloberkommissarin Gabriele Richter war noch nicht im Institut erschienen, aber der Gerichtsmediziner hatte bereits mit seiner Arbeit begonnen und nach ein paar Minuten über die verdammte Harakiri-Sauerei geschimpft.

Kolbe war nur kurz zur Person vernommen worden, und saß nun wie gelähmt auf einem wackeligen Bürostuhl im vorderen Bereich des Magazins, doch in seinem Hirn rasten die Gedanken: ’Tanaka, warum ausgerechnet Tanaka? Was hatte er auf seiner Isomatte im Magazin zu suchen? Und weshalb sah es so aus, als habe er sich nach der Art eines Samurai mittels Harakiri umgebracht? Und vor allem, welchen Grund sollte er gehabt haben?’

Schließlich hatte der junge lebensfrohe Japaner vor einigen Wochen begonnen, im Lesesaal der Bibliothek seine Dissertation zu schreiben.

Eines Abends, als der Lesesaal sich bis auf Tanaka geleert hatte, war Kolbe zu ihm gegangen, Tanaka hatte sich gefreut, angesprochen zu werden und Kolbe aufgefordert, sich zu ihm zu setzen. Er begann über seine Arbeit zu sprechen, die so unglaublich gut war, dass Kolbe wie gebannt zuhörte. Tanaka war es als erstem gelungen, den gesamten Stoffwechsel einer Nervenzelle mit allen dabei beteiligten Molekülen in einem dynamischen Modell zu beschreiben, ein Durchbruch in der zellbiologischen Forschung, der bestimmt mit den höchsten wissenschaftlichen Ehren ausgezeichnet werden würde.

Sie sprachen aber auch über Deutschland und Japan, und schließlich über Gott und die Welt.

Kolbe schreckte aus seinen Gedanken auf, als ihm ein Kriminalassistent auf die Schulter tippte und mitteilte, dass die Frau Kommissarin noch auf sich warten ließe. Kolbe nickte nur müde und hing weiter seinen Gedanken nach. Diesem ersten guten Gespräch mit Tanaka sollten noch viele weitere folgen. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, steckten sie ihre Köpfe zusammen, lasen Passagen der Dissertation und diskutierten über Formulierungen.

Allmählich entwickelte sich so eine Art Vater-Sohn-Verhältnis und Tanaka erzählte mehr und mehr persönliche Dinge. Er hatte eine Frau kennen gelernt und sich in sie verliebt, was er bis jetzt nur seinen besten Freunden erzählt hatte. Kolbe bedankte sich für das Vertrauen, das Tanaka ihm entgegenbrachte, und Tanaka erzählte von seinen Freunden, die mit ihm durch dick und dünn gehen würden. Bei jedem Gespräch kam er allerdings auf seine Familie zu sprechen, auf Eltern, Geschwister und vor allem auf seine geliebten Großeltern, die ihm, dem modernen Japaner, noch etwas von der traditionellen japanischen Lebensweise mitgegeben hatten.

Sein Großvater litt an Krebs im Endstadium, bestürzt und traurig stellte Tanaka fest, dass es ihm nicht mehr vergönnt sein sollte, seinen Großvater noch einmal lebend zu sehen. Seine Familie war nicht vermögend und konnte ihm die Heimreise nach Kyoto nicht bezahlen. Einem großen deutschen Unternehmen hatte er es zu verdanken, dass er in Deutschland studieren durfte, aber außerordentliche Heimreisen konnten von diesem Stipendium nicht finanziert werden. Als die Geldgeber erkannten, welches enorme wissenschaftliche Potential in Tanaka steckte, hatten sie ihn mit Beginn seiner Studien in Deutschland unterstützt. Ohne dieses Geld hätte Tanaka seine beruflichen Träume begraben müssen.

Während Kolbes Großhirn diese trüben Gedanken zu verarbeiten versuchte, meldete sich ein anderes Areal seines Gehirns, das mit der Verarbeitung von Gerüchen beschäftigt war. Der Geruch des Todes hatte sich hier schon breit gemacht und sich als Dauerreiz bereits abgeschwächt, aber nun schwebte eine dezente Note von Chanel No. 5 im Raum, ein Stuhl wurde zu Kolbe herangezogen und als Kolbe aufsah, blickte er in das Gesicht einer etwa vierzigjährigen Frau, die ihn aus hellbraunen Augen aufmerksam und ruhig ansah. Diese Augen verrieten aber auch, dass sie schon viele schreckliche Dinge gesehen hatten, denn in ihnen lag eine Mischung aus unendlicher Traurigkeit und kompromissloser Härte. Die Frau setzte sich und reichte Kolbe eine warme, kräftige Hand. „Richter, Kriminaloberkommissarin, man hat mich mit der Aufklärung dieses Falls betraut“, stellte sie sich vor.

Kolbe runzelte die Stirn: für ihn war der Tod Tanakas kein „Fall“ und der Begriff „Aufklärung“ war ebenfalls fehl am Platz. Aber vielleicht mussten Kriminalisten in diesem Jargon reden, sie konnten auch nicht so einfach aus ihrer Haut.

„Dr. Georg Kolbe, wissenschaftlicher Bibliothekar“, entgegnete er, „ich habe Tanaka gefunden.“ ‚Oder das, was von ihm übrig war’, dachte er und musste heftig schlucken.

„Ach, Sie kennen das Opfer?“, sagte Gabriele Richter erstaunt.

„Ja, Kotaro Tanaka hat in unserer Bibliothek an seiner Dissertation gearbeitet und wir haben uns angefreundet“, sagte Kolbe, und wieder wurde sein Herz schwer bei dem Gedanken, dass er nie wieder mit Tanaka würde sprechen können.

„Der Tote war nur mit einer Trainingshose bekleidet, seine Jacke lag am Kopfende, wir haben keine Ausweispapiere in den Taschen oder am Körper gefunden“, erläuterte Gabriele Richter in sachlichem Ton. „Er lag auf einer Isomatte und alles, was neben ihm stand, war eine große Flasche Mineralwasser. Können Sie mir erklären, wie Tanaka in das geschlossene Magazin gekommen ist und was er hier zu suchen hatte?“, fragte Gabriele Richter und ihre Stimme klang streng.

Bevor Kolbe antworten konnte, kam ein Kriminalassistent auf sie zu und informierte darüber, dass die zweite Tür zum Magazin seit Wochen wegen Bauarbeiten nicht abgeschlossen sei, jeder könne problemlos das Magazin betreten.

„Nachdem nun der erste Teil Ihrer Frage damit beantwortet ist“, sagte Kolbe kühl und förmlich, „müssen Sie bei meiner Antwort auf den zweiten Teil ihre Beamtenwelt einmal komplett vergessen und mit mir in die Welt der naturwissenschaftlichen Literaturproduktion eintauchen.“

Kolbe versuchte, die Wirkung seiner Worte in Gabriele Richters Gesicht abzulesen, aber sie zeigte keine Regung.

„Wenn ein Doktorand in den Biowissenschaften so ambitioniert wie Tanaka ist, kennt er beim Verfassen seiner Dissertation in den letzten Wochen vor dem Abschluss der Arbeit weder Zeit noch Raum, isst kaum, schläft wenig, trinkt dafür aber sehr viel, natürlich keinen Alkohol“, fuhr Kolbe fort. „Von denen, die ihre Arbeit in der Bibliothek schreiben, gibt es nun einige, die sich die täglichen Wege nach Hause ersparen wollen, da sie fürchten, aus ihrer Welt der Experimente, Formeln und Zahlen herausgerissen zu werden. Damit sie jederzeit einen Gedankenblitz in den Computer eintragen können, bereiten sie sich eine Schlafgelegenheit im Institut vor, wie zum Beispiel ein Koreaner, der sich, wenn alle anderen den Lesesaal verlassen hatten, in seinen Schlafsack vor seinem Computer einrollte. Tanaka, der vor dem Abschluss einer revolutionären Dissertation stand, hat genauso gehandelt und sich in den wenigen Ruhepausen, die er sich gönnte, den wärmsten Platz im Institut gesucht.“

Gabriele Richter sah Georg Kolbe lange nachdenklich an, und als sie dann den Mund öffnete, wusste Kolbe schlagartig, dass sie nun die Frage stellen würde, vor der er sich seit Beginn ihres Gespräches fürchtete.

„Wenn Tanaka, so wie es aussieht, eine glänzende internationale Karriere vor sich hatte, wie erklären Sie sich dann, dass er sich auf diese scheußliche Art, nämlich mit Harakiri, das Leben genommen hat?“

„Seppuku, es heißt richtig Seppuku“, sagte Kolbe in oberlehrerhaftem Ton und überspielte damit seine eigene Unsicherheit. „Die japanische rituelle Selbsttötung heißt nur bei uns Harakiri, sie wird mit dem japanischen Kurzschwert, dem Wakizashi, ausgeführt, indem der Delinquent sich von links nach rechts unterhalb des Nabels den Bauch tief aufschneidet und abschließend die Klinge nach oben reißt. Sieht die Wunde bei Tanaka danach aus?“

„Lieber Dr. Kolbe, darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, das müssen sie doch verstehen.“, antwortete Gabriele Richter bissig.

Kolbe blieb unbeeindruckt und ließ nicht locker: „Wenn der Schnitt nämlich in Kreuzform ausgeführt wurde, hat er sich der Technik des jumonji-giri bedient, damit die Eingeweide schneller hervortreten“.

Als er merkte, wie analytisch er den Tod seines Freundes beschrieb, musste Kolbe heftig schlucken. Was war er doch manchmal für ein überhebliches Arschloch, wenn er ins Dozieren geriet! Auch Gabriele Richter schaute ihn entgeistert an. Das hatte sie von dem netten älteren Herrn nicht erwartet. Kolbe wusste, dass er sich nun nicht länger um die Antwort auf Gabriele Richters Frage drücken konnte und sagte leise und müde: „Ich weiß es nicht, ich kann es mir einfach nicht erklären“.

Er ließ den Kopf hängen, aber nach einer Pause sah er Gabriele Richter mit festem Blick an.

„Aus welchem Grund er sich auch immer umgebracht hat, es ist keine Sache traditioneller japanischer Ehre gewesen, also der Ehre, die einen Samurai dazu gebracht hat, mit seiner Selbsttötung eine Ehrenschuld zu begleichen. Ich nehme an, dass sein Großvater ihm über diese Ehrbegriffe auch einiges erzählt hat, Tanaka jedoch hat sich sehr abfällig über Seppuku geäußert und gemeint, ein Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts brauche keinen Methoden des Mittelalters, um ehrenhaft zu sein oder zu werden. Und es kommt noch etwas Wichtiges hinzu: beim Seppuku ist der Delinquent nicht allein in seinem Kämmerchen, es gibt Zeugen, einen Protokollanten und vor allen einen Adjutanten, der dem Delinquenten mit scharfem Schwert den Kopf fast komplett abtrennt, falls er nicht schnell genug das Bewusstsein verliert und große Schmerzen erleidet. Nur durch die Anwesenheit anderer erlangte der Samurai seine Ehre im Tode zurück.“

Bevor Gabriele Richter, die angesichts dieser Widerlichkeiten das Gesicht verzogen hatte, das Gespräch fortsetzen konnte, kam der Gerichtsmediziner auf sie zu. Dr. med. Walter Hartmann war ein von einem unglücklichen Leben gezeichneter Mittfünfziger mit zahllosen Falten, dessen zynische Augen aber aufleuchteten, als er Gabriele Richter sah. Er setzte sich ächzend auf einen weiteren klapprigen Bürostuhl und streckte seine Glieder.

„Entschuldigung“, sagte er, „ich muss mich recken, ich habe die meiste Zeit bei der Untersuchung der Leiche in der Hocke verbracht. Frau Richter, ich möchte Ihnen das vorläufige Ergebnis meiner Tatort- und Leicheninspektion mitteilen.“

„So, Dr. Kolbe“, wandte sich Gabriele Richter an Kolbe, „nun muss ich mich erst mal von Ihnen verabschieden. Sollte ich weitere Fragen an Sie haben, weiß ich, wo ich Sie finden werde.“

Kolbe reagierte ziemlich verdattert, fing sich aber schnell wieder und fragte: „Ach, Frau Richter, eigentlich wollte ich für einen Kollegen ein Zeitschriftenheft aus dem Magazin holen, dazu müsste ich aber noch mal an die Regale gehen.“

„Wo denken Sie hin, der Tatort ist vorläufig polizeilich abgesichert!“, entgegnete Gabriele Richter genervt. Gekränkt und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Kolbe das Magazin.

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