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Das Magazin einer Bibliothek ist so etwas wie seine Schatzkammer und liegt wie bei der Krypta einer Kirche zumeist tief unter der Erde als Teil des Gebäudefundaments. Auch das Magazin des Paracelsus-Instituts lag zwei Etagen unter dem Lesesaal und beherbergte ebenfalls einige Schätze, so Zeitschriftenbände aus dem neunzehnten Jahrhundert, die in Deutschland kein zweites Mal vorhanden waren. Aber sie waren für die Forscher im Institut noch nicht einmal von bibliophilem Interesse. Wer beschäftigte sich schon mit physiologischer Literatur aus der Anfangszeit dieser Wissenschaft, in einer Zeit, in der sich die Biowissenschaften alle 10 Jahre selbst revolutionierten? Gegen massiven Widerstand, vor allem der Direktoren des Instituts, war es Kolbe trotzdem gelungen, den Bestand im Magazin zu wahren. In dieser Hinsicht war er ein Konservativer, dem es in der Seele wehtat, wenn Bücher vernichtet wurden.

Als Kolbe die Stahltür zum Gang in das Magazin öffnete, fiel ihm ein Geruch auf, den er vorher noch nie wahrgenommen hatte. Er hatte nichts mit den Gerüchen zu tun, die üblicherweise in diesem Kellergeschoss vorhanden waren. Die Handwerker rauchten hier, obwohl das Rauchen im ganzen Institut verboten war, es roch nach aufgewärmtem Essen, und wenn Löt- oder Schweißarbeiten ausgeführt wurden, lag dieser typische metallische Geruch in der Luft. Aber diesen stechenden, jedoch auch süßlich-sauren Geruch kannte Kolbe, der als Nichtraucher eine empfindliche Nase hatte, überhaupt nicht. An diesem Montagmorgen wurde hier nicht gearbeitet, niemand war zu sehen, doch der Geruch wurde intensiver, als er sich der Tür zum Magazin näherte.

„Verdammt!“, dachte Kolbe, „bestimmt haben sich wieder Mäuse oder Ratten im Magazin eingenistet, von denen einige gestorben sind und jetzt in den Ecken vergammeln. Es wird allerhöchste Zeit, Fallen aufzustellen.“

Das Magazin war nämlich beheizt und er hatte den Gebäudetechniker gebeten, die Temperatur etwas zu drosseln, da die Bücher unter der trockenen Wärme litten, aber der sture selbstherrliche Kerl hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, die Temperatur sei so vorgeschrieben.

Als er die Tür zum Magazin geöffnet hatte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, denn der Geruch nahm ihm sofort den Atem. Er hielt sich die Nase zu, schaltete die Beleuchtung im Gang und über den Regalen ein und begann, die Kurbel am Regal Sieben zu drehen. Gleitregalanlagen, auch Compactus genannt, waren schon eine tolle Sache, da hatten Ingenieure und Techniker ganze Arbeit geleistet. Das gesuchte Heft befand sich im Regal Achtzehn links, aber zuerst musste er die kleinen Lücken zwischen den Regalen davor schließen. Die Regale glitten lautlos auf ihren kugelgelagerten Rollen dahin, doch plötzlich gab es einen Ruck, die Kurbel schlug zurück auf seine Hand: die Lücke zwischen den Regalen Dreizehn und Vierzehn ließ sich nicht schließen.

‚Ja, ja, es sind wieder einige Bände aus den Regalen gefallen’, dachte Kolbe und bewegte sich auf die Lücke zwischen den Regalen Dreizehn und Vierzehn zu. Seine Augen weiteten sich, die Luft blieb ihm weg und starr blieb er stehen, als er in den Gang schaute.

Auf einer Isomatte lag in grotesk verkrümmter Haltung ein Mann mit einer großen Wunde in der Bauchregion, aus der sich große Mengen Blut auf den Boden des Magazins ergossen hatten.

Mit der rechten Hand umklammerte er ein langes gebogenes Messer, die Waffe, die augenscheinlich zu seinem Tod geführt hatte. Kolbe wurde es kurz schwarz vor Augen, doch er zwang sich, ein zweites Mal hinzusehen. „Mein Gott, das war ja Tanaka, der japanische Elite-Student von der Universität Kyoto!“, schoss es ihm durch den Kopf, Als er ein weiteres Mal genauer schauen wollte, revoltierte sein Magen, geistesgegenwärtig trat er in den Gang zurück und erbrach sich unter Tränen vor den Regalen.

Während seiner Ausbildung zum Biologen hatte Kolbe schon so manche Leiche gesehen, zumeist die von Ratten und Mäusen oder anderen kleinenSäugetieren, aber mit einer menschlichen Leiche war er noch nicht konfrontiert worden, mal abgesehen von seinen Eltern, die nach ihrem Tod friedlich in den Betten gelegen hatten. Leichen im Film und Fernsehen führten auch nicht zu umgekehrter Verdauung, aber einen derart massakrierten Menschen zu sehen, verbunden mit dem Geruch, war eben grausame Realität und selbst für einen gesunden Magen zu viel. Wäre dieser Tote ein ihm gänzlich Unbekannter gewesen, hätte ihn das womöglich nicht so emotional aufgewühlt, aber es war ja zweifelsfrei Tanaka, ein Mensch, zu dem er eine enge Beziehung aufgebaut hatte.

Nachdem er sich erholt hatte, fischte er mit zitternden Fingern sein Handy aus der Gürteltasche und wählte die Nummer vom Empfang. Als Renate abhob, hörte er sich mit tonloser Stimme sagen: „Renate, informiere die Polizei und die Institutsleitung. Wir haben eine Leiche im Keller!“

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