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2.3 Verhaltensanalytische Diagnostik

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Während moderne psychiatrische Diagnostik deskriptiv ist, erfüllt die Diagnostik in der Verhaltenstherapie weitere Aufgaben (Eckert 2010; Fliegel 2010; Hautzinger 2015):

• In der Verhaltensanalyse werden die Entstehungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen der Störung hypothetisch erklärt (explikative oder explanatorische Diagnostik).

• Es wird geklärt, ob eine Verhaltenstherapie indiziert ist (dezisionale Diagnostik, Indikationsdiagnostik).

• Schließlich wird eine Abschätzung des Behandlungserfolgs, also eine Einschätzung der Prognose verlangt (prognostische oder prädiktive Diagnostik).

Die Diagnostik in der Verhaltenstherapie umfasst fünf Bereiche (Hautzinger 2015; Ubben 2017, S. 8):

• Deskriptive/klassifikatorische Diagnostik (Symptome, psychopathologischer Befund nach dem AMDP-System, Diagnose nach ICD-10),

• Somatische Diagnostik (körperliche Faktoren),

• Biographische Diagnostik (soziale Anamnese, Lern- und Entwicklungsgeschichte),

• Eigenschafts- und Statusdiagnostik (Persönlichkeitseigenschaften, kognitiv-intellektuelle Leistungsfähigkeit),

Die verhaltensanalytische Exploration ist strukturiert, hypothesengeleitet und zielorientiert unter der Perspektive der zu erstellenden Verhaltensanalyse. Das Hauptziel ist die Erarbeitung eines hypothetischen ätiologischen Erklärungsmodells des in der Therapie zu verändernden Problemverhaltens. Das funktionale Bedingungsmodell bildet die Basis für die Ableitung von konkreten Therapiezielen und für die Konzeption eines individualisierten Behandlungsplans.

Hierzu müssen die Informationen konkret, detailliert und gegenwartsbezogen erhoben werden. Im Antragsbericht wird ein »Spagat« verlangt zwischen dem klassifikatorischen Ansatz (psychopathologischer Befund nach dem AMDP-System und der ICD-10-Diagnose) und dem individualisierten Ansatz (funktionales Bedingungsmodell, Zielanalyse, individualisierter Behandlungsplan).

Das Ätiologiemodell in der Verhaltenstherapie ist multifaktoriell und hypothetisch. Hypothesen sind wichtig, weil ein hypothesenfreies Vorgehen in der Therapie ein erratischer Prozess wäre wie das sprichwörtliche Stochern mit Stangen im Nebel (Reinecker 2015, S. 43). Ätiologische Hypothesen sind notwendig, um daraus ein systematisches und rational begründbares Veränderungskonzept abzuleiten. Ohne hypothesengeleitetes Behandlungskonzept »geraten Therapieprozesse zu einem unsystematischen und inkonsistenten Ad-hoc-Geschehen« (Ubben 2017, S. 33 und S. 56).

Es liegt in der Natur der Sache, dass das funktionale Bedingungsmodell immer vorläufig (heuristisch) und unvollständig ist. Das meint schon der Begriff der funktionalen Analyse, der als bescheidenere Variante einer kausalen Erklärung verstanden werden kann. In einer kausalen Erklärung geht es um die Erfassung aller relevanten Bedingungen für das Auftreten eines Ereignisses.

Will man moderne Verhaltenstherapie mit nur zwei Worten beschreiben, könnte man sich auf den Begriff funktionale Analyse beschränken (Reinecker 2015, S. 44). In der funktionalen Verhaltensanalyse versucht man, diejenigen Entstehungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen zu identifizieren, deren Veränderung eine Modifikation des Problems bewirken (Reinecker und Gmelch 2009). Die verhaltenstherapeutische Diagnostik ist – im Unterschied zur deskriptiven psychiatrischen Diagnostik – insofern eine therapiebezogene Diagnostik, als sie der Therapieplanung dient (Kanfer und Saslow 1976, S. 36; Ubben 2017, S. 8). Die funktionale Bedingungsanalyse wird nicht »l’art pour l’art« erstellt. Die Verhaltensanalyse ist die Grundlage für die individualisierte Ableitung von Therapiezielen und die Erarbeitung eines Veränderungskonzepts.

Die Analyse der funktionalen Zusammenhänge ermöglicht die individualisierte Ableitung des Veränderungskonzepts. Dabei sind die im hypothetischen Bedingungsmodell formulierten Zusammenhänge als probabilistisch zu verstehen. Das Problemverhalten wird in Anlehnung an den Funktionsbegriff in der Mathematik als abhängige Variable vorausgehender Reize (Stimuli) und nachfolgender Bedingungen (Konsequenzen) verstanden (Wassmann und Batra 2013 b, S. 34). Bei der funktionalen Betrachtungsweise geht es um folgende zentrale Frage (Wassmann und Batra 2013 a, S. 51): Inwiefern ist das Problemverhalten (abhängige Variable) das Resultat aus vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen (unabhängige Variablen) bei diesem Individuum in dieser konkreten Situation? Funktionale Analyse meint die Erfassung sowohl der dem Problemverhalten (Symptom) vorausgehenden ursächlichen Bedingungen als auch der nachfolgenden aufrechterhaltenden Bedingungen (Dieckmann et al. 2018, S. 58). Das Verhalten wird also analysiert als die Funktion von zeitlich vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen. Die unabhängigen Variablen sind die vorausgehenden Bedingungen (Stimulusbedingungen) und die nachfolgenden Bedingungen (Konsequenzen). Die Reaktion (das Problemverhalten) ist also eine Funktion von auslösenden Bedingungen und Konsequenzen.

Eine funktionale Verhaltensanalyse zielt also darauf ab, diejenigen Variablen zu identifizieren, die das therapeutisch zu verändernde Problemverhalten kontrollieren/steuern (Kanfer und Saslow 1976, S. 34 f.).

Der Antrag in der Verhaltenstherapie

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