Читать книгу Der Antrag in der Verhaltenstherapie - Jürgen Brunner - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеNach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie und Gutachterverfahren fand 2017 eine umfassende Strukturreform der ambulanten Psychotherapie statt. Das Gutachterverfahren wurde vereinfacht und verschlankt. 2019 wurde das Gutachterverfahren für ausschließliche Gruppentherapie abgeschafft. Auch für die Kombinationsbehandlung mit überwiegender Gruppentherapie ist keine Begutachtung mehr vorgeschrieben. Bei Fortführungsanträgen ist eine erneute Begutachtung nicht mehr obligat. Seit 2017 ist dadurch die Zahl der durchgeführten Begutachtungen erheblich zurückgegangen. Der Umfang des Berichts wurde offiziell von ursprünglich drei bis vier auf zwei Seiten reduziert. Allerdings ist das in der Praxis kaum praktikabel, denn durch die Reform sind inhaltlich keine Gliederungspunkte weggefallen. Die weit überwiegende Mehrheit der Berichte weist auch nach der Strukturreform einen Umfang von drei bis vier Seiten auf.
Die Strukturreform der ambulanten Psychotherapie und die Modifikation des Leitfadens zum Erstellen des Berichts an den Gutachter haben bei vielen Therapeuten zu Unklarheiten und Verunsicherungen geführt: Soll ich die biographische Anamnese jetzt komplett weglassen? Soll ich lern-, lebens- und entwicklungsgeschichtliche Aspekte jetzt nur noch innerhalb der Makroanalyse darstellen? Genügt eine Makroanalyse? Kann ich auf eine Mikroanalyse verzichten? Muss ich mich strikt an die Zwei-Seiten-Grenze halten? Wie soll das gehen? Soll ich den Bericht nur noch stichwortartig oder in ganzen Sätzen formulieren?
Deshalb ist es mir ein wesentliches Anliegen, in dem vorliegenden Buch eine konkrete Hilfestellung und praxisnahe Anleitung zu geben, wie ein qualitativ hochwertiger und erfolgreicher Bericht an den Gutachter zeitökonomisch verfasst werden kann. Es ist eine funktionale Einstellung, das Schreiben von Berichten nicht nur als lästige Pflichterfüllung und als unvermeidliches Übel zu betrachten, sondern zu utilisieren. Wenn Therapeuten die Berichte ernstnehmen, sorgfältig arbeiten und sich Mühe dabei geben, führt dies tatsächlich zu einer Qualitätsoptimierung. Ohne aussagekräftige Verhaltensanalyse und ohne ein daraus abgeleitetes stringentes Therapiekonzept gerät der Therapieprozess zu einem unfokussierten und planlosen Ad-hoc-Geschehen, das für Therapeuten wie Patienten gleichermaßen ineffektiv und frustrierend ist. Der Bericht kann nur dann die Qualität der Behandlung verbessern, wenn Hypothesen generiert werden und ein roter Faden deutlich wird. Durch den Bericht werden zudem wesentliche Anforderungen an die Dokumentationspflicht nach dem Patientenrechtegesetz erfüllt.
In vielen Berichten zeigt sich, dass nicht wenige Therapeuten ihre Mühe damit haben, eine plausible Verhaltensanalyse zu formulieren. Daher wird in diesem Buch Schritt für Schritt gezeigt, wie ein funktionales Bedingungsmodell erstellt werden kann. Auch die Themen Therapieziele, Prognoseeinschätzung und Behandlungsplan werden ausführlich dargestellt, da viele Therapeuten Schwierigkeiten damit haben, ein Behandlungskonzept aus der Verhaltensanalyse abzuleiten. Viele Behandlungspläne in Antragsberichten heißen zwar so, sind aber eigentlich keine. Sehr oft werden Therapieziele auf einer zu hohen Abstraktionsebene formuliert (Pauschalziele) und danach allgemeine störungsspezifische Techniken stichwortartig aufgezählt (Methodenliste). Eine stimmige Verbindung zwischen Verhaltensanalyse und Therapiekonzept wird oft nicht erkennbar. Solche Pseudo-Behandlungspläne sind in Antragsberichten leider Legion. Derartige Textbausteine sind weitgehend sinnfrei. Dadurch wird gerade keine Fokussierung der Behandlungsplanung erreicht. Durch schematische Standardformulierungen entsteht kein stimmiges und individualisiertes Konzept für die Therapieplanung. Die Aneinanderreihung solcher Phrasen ist in der Tat reine Zeitverschwendung. Das repetitive Lesen von solchen allgemeinen Lehrbuch-Überschriften, die nicht individuell auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten sind, kann zu einer Teil- oder Nichtbefürwortung führen. Die Psychotherapie-Richtlinie verlangt, dass aus dem funktionalen Bedingungsmodell stringent die Therapieziele individuell und konkret abzuleiten sind und dass die geeigneten Mittel zur Erreichung dieser Kernziele individualisiert auszuwählen sind. Die häufig in Antragsberichten angewandte Schrotschuss- oder Breitband-Technik mit umfassender Auflistung aller Interventionen, die es zu dieser Störung gibt, führt gerade nicht zu einem konzisen Behandlungsplan mit einem roten Faden, sondern zum Gegenteil.
Das vorliegende Buch unterscheidet sich von üblichen Antragsbüchern dadurch, dass es ausdrücklich kein Sammelsurium von Muster-Berichten nach ICD-Diagnosen und keine Sammlung von Textbausteinen ist. Das Buch enthält ausführliche Informationen zum funktionalen Bedingungsmodell: Worauf kommt es bei der Mikroanalyse an? Wie kann eine Makroanalyse mit überzeugenden Hypothesen zu prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen erstellt werden? Es wird gezeigt, wie die zentralen Therapieziele aus der Verhaltensanalyse abgeleitet werden und wie ein individualisierter Behandlungsplan erstellt werden kann, der den Anforderungen der Psychotherapie-Richtlinie genügt. Der neue Leitfaden PTV 3 zum Erstellen des Berichts wird ausführlich kommentiert. Dabei werden typische Fehlerquellen aufgezeigt. Konkrete und praktische Empfehlungen zum Schreiben von Antragsberichten runden das Buch ab.
Das vorliegende Handbuch soll dabei helfen, Freude am Verfassen von Antragsberichten zu bekommen. Der Leser wird ermutigt, seinen eigenen Stil zu finden und Antragsberichte individualisiert und lebendig zu schreiben. Durch Fokussierung auf das Wesentliche entsteht in überschaubarer Zeit ein konziser, klarer und plastischer Bericht. Die nötige Stringenz wird erreicht durch eine explizite Hypothesenbildung, die Fokussierung auf die relevanten Faktoren in der Verhaltensanalyse, durch die Beschränkung auf die wesentlichen Kernziele, durch die Auswahl der zentralen zielführenden Veränderungsstrategien und ein individualisiertes und maßgeschneidertes Behandlungskonzept. So entsteht ein roter Faden – sowohl für den Bericht als auch für den therapeutischen Prozess. Dann ist der Antragsbericht keine lästige Pflichtübung, kein notwendiges Übel und keine Verschwendung von Arbeits- und Lebenszeit, sondern eine willkommene Gelegenheit zu professioneller Reflexion, die den Blick auf das Wesentliche schärft. Eine solche Fokussierung hat viele Vorteile: Ein stringenter Bericht ist kurzweilig und überzeugend. Nur ein individualisierter Bericht mit ätiologischen Hypothesen und klarem Fokus dient der Qualitätssicherung, wovon Patient und Therapeut gleichermaßen profitieren. Das Schreiben eines schlüssigen und fokussierten Berichts ist eine kreative und intellektuell befriedigende Leistung, die Vergnügen bereiten kann. Ein guter Bericht ist individualisiert und zeigt ein stimmiges Therapiekonzept auf, das auf der Grundlage einer überzeugenden Verhaltensanalyse entwickelt wurde. Das Schreiben eines stringenten Berichts ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die professionelle Erfahrung und fundiertes Fachwissen erfordert. Ein guter Bericht lebt von der Intuition des Therapeuten. Schließlich ist Psychotherapie – wie auch ärztliches Handeln – eine Kunst. Moderne Verhaltenstherapie ist kein lebloses technizistisches Feuerwerk von Interventionen und kein rigides Abarbeiten von Manualen.
Es werden sowohl Einzel- als auch Gruppen- und Kombinationstherapie dargestellt. Das Buch bezieht sich ausschließlich auf die Behandlung von Erwachsenen.
Wichtige Aspekte werden ganz bewusst gelegentlich wiederholt, weil es aus didaktischen Gründen sinnvoll erscheint, Wichtiges lieber einmal zu viel als zu wenig zu sagen.
In der Neuauflage wurde insbesondere das Kapitel zu den störungsspezifischen Bedingungsmodellen und schematischen Behandlungsplänen erheblich erweitert. Der Abschnitt zur Makroanalyse ist ausführlicher und übersichtlicher als in der ersten Auflage. Weggefallen ist ein eigenes Kapitel zur biographischen Analyse. Die wesentlichen Inhalte daraus wurden nun im Rahmen der Makroanalyse dargestellt. Außerdem wurden häufige Kritikpunkte der Gutachter ergänzt.
Um einen ungestörten Text- und Lesefluss zu gewährleisten, wird in diesem Buch durchgehend das generische Maskulinum verwendet, das selbstverständlich für sämtliche Geschlechter steht (männlich, weiblich, divers).
Mein besonderer Dank gilt dem Verlag W. Kohlhammer. Mit Herrn Dr. Ruprecht Poensgen ist die Zusammenarbeit über Jahre hinweg stets inspirierend, ermutigend und angenehm. Danken möchte ich auch Herrn Florian Rotberg für das sorgfältige Lektorat.
München, im | |
Oktober 2021 | Jürgen Brunner |