Читать книгу Der Antrag in der Verhaltenstherapie - Jürgen Brunner - Страница 8
1 Kritik des Gutachterverfahrens 1.1 Nachteile des Gutachterverfahrens
ОглавлениеDas Verfassen von Berichten an den Gutachter empfinden die meisten Therapeuten als lästige Pflicht und als unangenehm. Einige sehen darin eine Zumutung und eine Schikane und fordern die Abschaffung der Begutachtung. Das ist teilweise nachvollziehbar. Ein guter und schlüssiger Bericht braucht Zeit, weil er individualisiert, fachlich fundiert und plausibel sein muss.
Das pauschale Honorar von 65,75 € für einen Bericht für eine Langzeittherapie und von 32,93 € für eine Kurzzeittherapie ist gemessen an dem oftmals erheblichen Zeitaufwand unverhältnismäßig niedrig. Dieses geringe Honorar ist für einen verantwortungsvollen akademischen Beruf mit staatlicher Approbation unangemessen. Dringend zu fordern ist eine signifikante Anhebung des Honorars für einen Antragsbericht.
Einige Therapeuten geben Geld für Computerprogramme aus, wodurch die Berichterstattung angeblich erleichtert werden soll. Nach meiner Einschätzung braucht es eine solche Antragssoftware nicht. Für mich wäre das keine sinnvolle Option und keine Arbeitserleichterung, sondern eher eine Verkomplizierung. Einige Therapeuten delegieren die Arbeit oder wesentliche Teile davon sogar an dubiose Dienstleister, die bei der Erstellung von Antragsberichten gegen Bezahlung behilflich sind. Ein derartiges »Outsourcing« ist unehrenhaft und zudem rechtlich problematisch (Bühring 2004). Auf dem neuen Umschlag PTV 8 erklärt der Therapeut mit seiner Unterschrift, den Bericht an den Gutachter vollständig persönlich verfasst zu haben. Ein Ghostwriter ist also – um es vorsichtig zu formulieren – in einem rechtlichen Graubereich angesiedelt. In meinen Augen handelt es sich um den Offenbarungseid des Therapeuten, wenn er Zuflucht bei derartigen »Dienstleistern« sucht, die einen zweifelhaften Ruf haben. Würden Sie Vertrauen haben zu einem Therapeuten, der dadurch eingesteht, dass er nicht willens oder in der Lage ist, den Antragsbericht selbst zu schreiben? Würden Sie Ihre Tochter, Ihren Sohn oder ihren Partner guten Gewissens zu einem solchen Kollegen schicken? Für manche Therapeuten ist das Berichteschreiben so negativ konnotiert, dass sie prokrastinieren und sogar massiv vermeiden, indem sie fast ausschließlich Akut- oder Kurzzeittherapien durchführen und auf eine Umwandlung in eine Langzeittherapie trotz entsprechender Indikation verzichten. Solche Tendenzen sind aus ethischer Sicht sehr problematisch. Auch hier die Frage: Würden Sie einen nahen Angehörigen zu einem Therapeuten schicken, der dafür bekannt ist, dass die Therapie nach maximal 24 Sitzungen beendet wird, auch wenn noch weiterer Therapiebedarf besteht, nur weil der Therapeut den Aufwand scheut oder aus Angst vor Ablehnung oder Stundenkürzung vermeidet, einen Bericht an den Gutachter zu schreiben?
Neben der mangelnden finanziellen Lukrativität gibt es noch andere Gründe, warum nicht wenige Therapeuten Antragsberichte widerwillig schreiben. Die Einschaltung eines Gutachters wird als externe Einmischung, Kontrolle, Eingriff in die Autonomie des Therapeuten und in die Intimität der therapeutischen Beziehung sowie als Bevormundung erlebt. Dass das Berichteschreiben an den Gutachter für viele Therapeuten aversiv ist, liegt daran, dass Kritikerwartung, Angst vor negativer Bewertung und sogar Versagensängste und Insuffizienzgefühle vorhanden sind oder entstehen können. Gerade bei Nichtbefürwortungen oder Stundenkürzungen können Scham und Kränkung beim Therapeuten auftreten. Eine Nichtbefürwortung oder eine Teilbefürwortung kann vom Therapeuten als persönliche Kritik erlebt werden und Enttäuschung sowie Ärger auslösen (Rudolf 2011, S. 116 f.). Bei anderen löst eine kritische Stellungnahme des Gutachters Wut und kämpferische Impulse aus. Durch Teil- und Nichtbefürwortung kann die narzisstische Homöostase des Therapeuten ins Wanken geraten. Zweifel an der eigenen therapeutischen Kompetenz können getriggert werden. Die Entscheidung des Gutachters stellt zweifellos einen äußeren Einfluss auf den Therapieprozess dar, beispielsweise eine Nichtbefürwortung der Kostenübernahme. Aber auch eine Teilbefürwortung, ein kritischer Kommentar oder die Empfehlung des Gutachters, die Behandlung möglichst innerhalb des jetzt bewilligten Kontingents abzuschließen, verändert den Therapieverlauf und kann Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung haben.
Ein häufiges Argument gegen das Gutachterverfahren ist, dass nur bewertet werde, ob jemand gut schreiben kann. Der Bericht erlaube keine Aussage darüber, ob der Verfasser ein guter, empathischer und hilfreicher Therapeut ist. Diese Argumentation ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch fehlt hier ein wesentlicher Aspekt. Natürlich könnte es theoretisch Therapeuten geben, die zwar eine überzeugende Fallkonzeption schreiben können, aber eine wenig erfolgreiche Therapie machen. Den umgekehrten Fall halte ich allerdings für weniger wahrscheinlich: Ein Therapieerfolg ist kaum zu erwarten, wenn eine Fallkonzeption mangelhaft ist oder erst gar nicht durchgeführt wurde. Eine Therapieplanung auf der Grundlage einer sorgfältigen Problem- und Bedingungsanalyse ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Therapie. Eine solide Erfassung der ursächlichen und aufrechterhaltenden Bedingungen ist die Basis für eine gute Therapie. Die Voraussetzungen für einen Therapieerfolg sind eine sorgfältige Krankheitsanamnese, ein gründlicher psychopathologischer Befund, eine korrekte Diagnosestellung mit differentialdiagnostischen Überlegungen, die Erfassung relevanter biographischer Entwicklungsaspekte und eine lege artis durchgeführte Verhaltensanalyse. Gerade das funktionale Bedingungsmodell ist die Basis für die konkrete Ableitung realistisch erreichbarer Therapieziele und für eine individuelle Prognoseeinschätzung. Nur auf der Grundlage einer differenzierten Verhaltensanalyse kann eine ausreichend individualisierte Behandlungskonzeption entwickelt werden. Es ist kaum vorstellbar, dass eine Therapie gelingt, wenn wesentliche Aspekte übersehen wurden, etwa aufrechterhaltende Bedingungen, die Funktionalität der Störung oder Veränderungshindernisse.
Richtlinien-Psychotherapie ist ätiologisch orientiert und setzt eine Diagnostik voraus, die Arbeitshypothesen generiert zu prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen, an denen die Behandlung individuell ansetzt. Nach der Psychotherapie-Richtlinie bildet ein individuelles Störungsmodell die Basis jeder Psychotherapie.
Es wurden immer wieder Einwände gegen das Gutachterverfahren hervorgebracht, die wahrscheinlich bei der Abschaffung der Gutachterpflicht 2019 eine Rolle gespielt haben. Die wesentlichen Gegenargumente werden im Folgenden referiert:
• Als wesentliches Argument wird angeführt, dass das Gutachterverfahren aufgrund der geringen Quote an Nichtbefürwortungen keine ausreichende Steuerungsfunktion besitze. Die Gutachterstatistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für das Jahr 2019 ergab ( Tab. 1.1), dass nur 3,0 % der VT-Anträge nicht befürwortet wurden. Der Anteil der Teilbefürwortungen lag bei insgesamt 9,7 %. Es wurden also 87,3 % der Anträge voll befürwortet. Im Zweitgutachterverfahren wurden 62,3 % der (meist revidierten oder nachgebesserten) Antragsberichte voll befürwortet. Der Anteil an Nichtbefürwortungen betrug im Zweitgutachterverfahren 11,0 %; der Anteil an Teilbefürwortungen lag hier bei 29,0 %.
Tab. 1.1: Anteil an Nicht- und Teilbefürwortungen in der Verhaltenstherapie. Quelle: https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/40647.php, abgerufen am 24.05.2021.
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• Der geringen Steuerungsfunktion stehen Kosten für das Jahr 2019 von mehr als 26 Millionen Euro gegenüber ( Tab. 1.2). In dieser Hochrechnung sind nur die Honorare berücksichtigt, die an die Psychotherapeuten und die Gutachter von den Krankenkassen gezahlt wurden. Zur Vereinfachung habe ich für die Gesamtzahl der Gutachten in allen Richtlinienverfahren die Honorare für eine Langzeittherapie (LZT) zugrunde gelegt sowie die Erst- und Zweitgutachterhonorare inklusive 19 % Umsatzsteuer. Nicht enthalten sind Porto- und Materialkosten sowie die Arbeitszeit für die Kassenmitarbeiter. Schließlich werden ganze Abteilungen in den Krankenkassen damit beschäftigt (Schäfer 2010). Außerdem beziehen sich diese Zahlen nur auf die gesetzliche Krankenversicherung. Begutachtungen im Rahmen der Beamtenbeihilfe und der privaten Krankenversicherung kommen noch hinzu. Sabine Schäfer (2010) errechnete vor mehr als zehn Jahren jährliche Kosten von 27,4 Millionen Euro. Die hohen Kosten kontrastieren mit der geringen Nichtbefürwortungsquote von 3–4 % (für alle Richtlinienverfahren). Die Kosten stehen – nach Einschätzung der Kritiker – in keinem sinnvollen Verhältnis zum Nutzen. Das Verfahren sei daher zu kostenintensiv und zu bürokratisch.
• Der Bericht an den Gutachter ist zu zeitintensiv. Diese Zeit ist schlecht bezahlt und steht für die Behandlung von Patienten nicht zur Verfügung.
• Das Gutachterverfahren diene primär der Kostenbegrenzung und nicht der Qualitätssicherung, denn es erschwere Langzeittherapien, da nach 24 Sitzungen ein Antragsbericht nötig ist, für den die meisten Psychotherapeuten mehrere Stunden benötigen. Diese Hemmschwelle sei ein Grund dafür, dass die meisten Psychotherapien als Kurzzeittherapie (KZT) durchgeführt würden. Nach Daten der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2014 lag der Anteil an Therapien mit mehr als 18 Stunden lediglich bei 25 %.
Tab. 1.2: Geschätzte Kosten des Gutachterverfahrens im Jahr 2019. Die Anzahl der Erst- und Zweitgutachten ist der Gutachterstatistik 2019 der Kassenärztlichen Bundesvereinigung entnommen. Berücksichtigt sind alle drei Richtlinienverfahren. Zur Vereinfachung wurde nicht differenziert zwischen Kurz- und Langzeittherapie. Pauschal wurde mit dem Honorar für Langzeittherapie gerechnet. Die errechneten Honorarkosten sind durch diese Kalkulation also etwas höher als die tatsächlich entstandenen. Nicht eingerechnet sind Porto, Gutachten für Beihilfe und private Krankenversicherung, Arbeitslohn für Kassenmitarbeiter.
• Die heute übliche Praxis der Pseudonymisierung ist als unzureichend anzusehen, da sie aus dem ersten Buchstaben des Nachnamens und aus dem Geburtsdatum besteht. Da der Praxisort des Therapeuten bekannt ist und biographische Daten genannt werden, könnten unter Umständen Rückschlüsse auf die Person des Patienten möglich sein. Die Praxis der Pseudonymisierung sollte meines Erachtens optimiert werden.
• Gutachter und Ausbildungsinstitute wollten nach Auffassung von Kritikern des Gutachtersystems das Gutachterverfahren primär aus finanziellen Gründen und aus Macht-Interessen aufrechterhalten. Um Gutachter zu werden, muss man Supervisor an einem Ausbildungsinstitut sein. Viele Ausbildungsinstitute verdienen Geld mit Supervisorenausbildungen. Es gehe – so wird argumentiert – hauptsächlich um »Pfründe« und Machtstrukturen von Gutachtern und Ausbildungsinstituten.
• Manche Therapeuten empfinden die Entscheidungen einiger Gutachter teilweise als willkürlich, belehrend und besserwisserisch.
• Es wird bezweifelt, dass allein aufgrund eines Berichts des Therapeuten der Gutachter die Prognose und die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Therapie valide beurteilen könne, denn Papier ist bekanntlich geduldig. Der Gutachter hat den Patienten nie gesehen und urteilt nur nach Aktenlage.
• Es ist empirisch nicht nachgewiesen, dass das Gutachterverfahren tatsächlich der Qualitätssicherung dient. Valide wissenschaftliche Daten zur Evaluation des prädiktiven Wertes der gutachterlichen Entscheidung liegen meines Wissens nicht vor. Ob das Gutachterverfahren tatsächlich die Qualität sichert, ist umstritten und wird von einigen Autoren bezweifelt, da die Ergebnisqualität nicht evaluiert wird (Köhlke 2000; Schäfer 2010).
• Das Gutachterverfahren leistet einem dubiosen bis illegalen Markt an »Ghostwritern« und Anbietern von »Hilfestellungen« beim Verfassen von Berichten Vorschub (Bühring 2004).
• Oft bestehe eine Kluft zwischen dem Inhalt des Berichts und dem tatsächlichen Verlauf einer Therapie. Bei Angst- und Zwangsstörungen beispielsweise werde zwar oft eine therapeutenbegleitete Expositionsbehandlung in vivo im Behandlungsplan beschrieben, die aber dann tatsächlich in vielen Fällen gar nicht oder aber nicht lege artis realisiert wird (Ubben 2017, S. 6).
• Eine Nicht- oder Teilbefürwortung verändere den therapeutischen Prozess und könne beim Therapeuten zu Kränkungen, Wut, Motivationskrisen und Selbstzweifeln führen. Auch beim Patienten seien dysfunktionale Interpretationen und Verarbeitungen möglich (»ich bin noch nicht einmal die Kosten für eine Psychotherapie wert«).
• Das Gutachterverfahren sei eine unzulässige Einmischung und Bevormundung. Alle Psychotherapeuten mit Kassensitz haben ein anspruchsvolles Studium und eine Psychotherapieausbildung absolviert und verfügen über eine staatliche Approbation. Sonst werden in der Medizin Indikations- und Therapieentscheidungen auch bei kostenintensiven Behandlungen ohne vorherige Einschaltung eines Gutachters und auch ohne obligates Einholen einer zweiten Meinung getroffen, beispielsweise bei kostspieligen und nicht selten fragwürdigen Operationen an der Wirbelsäule, Gelenkoperationen und bei teuren pharmakologischen Behandlungen. Hier geht man davon aus, dass die nachgewiesene Fachkunde den Arzt befähigt, nach dem Facharztstandard Indikations- und Behandlungsentscheidungen zu treffen. Allerdings ist auch bei Zahnersatz ein Heil- und Kostenplan (HKP) obligat, der vor Beginn der Behandlung der Krankenkasse zur Bewilligung vorgelegt werden muss.
• Das Gutachterverfahren sei über 50 Jahre alt und nicht mehr zeitgemäß. Nach dem Psychotherapeutengesetzt 1999 hätte es seine Daseinsberechtigung endgültig verloren. Das Gutachterverfahren sei anachronistisch, obsolet und gehöre endlich abgeschafft.