Читать книгу Der Antrag in der Verhaltenstherapie - Jürgen Brunner - Страница 17
2.4 Individualisierung und Standardisierung in der Verhaltenstherapie
ОглавлениеEin klassifikatorische Diagnose nach ICD oder DSM ermöglicht den Rückgriff auf evidenzbasierte störungsspezifische Therapieprogramme. Der Therapeut sollte, soweit wie möglich, im Therapieplan evidenzbasierte Leitlinien und störungsspezifische Manuale verwenden. Jedoch ist, soweit wie nötig, die Behandlungskonzeption individuell auf der Basis des funktionellen Bedingungsmodells neu zu konstruieren (Ubben 2017, S. 21). Anders formuliert: Soweit wie möglich standardisieren, soweit wie nötig individuell neu konstruieren (Ubben 2017, S. 51 f.).
Insbesondere bei komplexen und komorbiden Störungen kann nicht auf ein einzelnes Manual zurückgegriffen werden. Hier muss die Therapieplanung unter Rückgriff auf geeignete evidenzbasierte Therapieelemente individuell neu konstruiert werden. Störungsspezifische Konzepte müssen immer individuell auf den einzelnen Patienten abgestimmt werden. Der Therapieplan ist also immer maßgeschneidert.
Die moderne Verhaltenstherapie ist charakterisiert durch die Dialektik von Standardisierung und Individualisierung ( Abb. 2.1). Die beiden Extrempositionen Standardisierung versus Individualisierung werden aufgegeben zugunsten einer Balance und Synthese beider Ansätze. Standardisierung: Aus der klassifikatorischen Diagnose (ICD-10, DSM-5) wird unter Verzicht auf eine funktionale Verhaltensanalyse der Therapieplan standardisiert abgeleitet. Individualisierung: Der Behandlungsplan wird aus der Verhaltensanalyse individuell neu konstruiert (Ubben 2017, S. 7).
Joseph Wolpe (1986) hat die Erarbeitung eines individualisierten ätiologischen Störungsmodells als den kategorischen Imperativ der Verhaltenstherapie bezeichnet. Er plädierte für ein individualisiertes Störungsmodell: »individualization is the key to successful treatment« (Wolpe 1986, S. 152). Den störungsspezifischen Ansatz ohne individualisiertes funktionales Bedingungsmodell nannte Wolpe (1986, S. 149) »sausage machine approach«. Der Therapeut steht vor der Herausforderung, eine gelungene Synthese aus beiden Ansätzen herzustellen.
Der Verzicht auf eine Verhaltensanalyse führt wahrscheinlich zur Nichtbefürwortung durch den Gutachter. Das Ignorieren evidenzbasierter störungsspezifischer Konzepte lässt Zweifel aufkommen, ob die Therapie aktuellen fachlichen Standards entspricht.
Die in den 1990er Jahren intensiv diskutierte Kontroverse zwischen störungsspezifischer Standardisierung einerseits und Individualisierung auf der Basis der Verhaltensanalyse andererseits ist inzwischen überwunden zugunsten einer dialektischen Sichtweise (Ubben 2017, S. 10). Bei Kassenanträgen sind eine Verhaltensanalyse und die Individualisierung des Therapiekonzepts obligat. Für den Therapieplan kann als grobe Orientierung gelten: Standardisierte manualisierte Therapieprogramme sind am ehesten geeignet für Patienten mit umgrenzten Störungen, also einer Einzeldiagnose und unproblematischem Persönlichkeitsstil. Zu denken wäre hier an eine Spinnen- oder Hundephobie, die nach einem evidenzbasierten Manual oder in einer störungsspezifischen Gruppentherapie in kurzer Zeit erfolgreich behandelt werden kann.
Abb. 2.1: Dialektik von Standardisierung und Individualisierung in der Verhaltenstherapie. Die klassifikatorische Diagnostik ermöglicht die Orientierung an evidenzbasierten Leitlinien und störungsspezifischen Therapiemanualen. Das funktionale Bedingungsmodell dient der Ableitung von konkreten Therapiezielen und der Individualisierung des Behandlungskonzepts. Grundregel: soviel Standardisierung und Evidenzbasierung wie möglich, soviel Individualisierung wie nötig.
Gerade bei Patienten mit komplexen und komorbiden Störungsbildern, Persönlichkeitsstörungen und schwierigen Interaktionsstilen ist der Behandlungsplan individualisiert neu zu konstruieren (Ubben 2017, S. 10 f.). Komplexität und Komorbidität sowie Persönlichkeitsakzentuierungen oder Persönlichkeitsstörungen erfordern also eine besonders individuelle Anpassung evidenzbasierter Therapieelemente an den Einzelfall.
Ein Manko der individualisierten Neukonstruktion ist die häufig unzureichende Operationalisierung. Legt sich der Therapeut in seinem Behandlungskonzept zu wenig fest, besteht die Gefahr, dass ein überkomplexer und inkonsistenter Methodeneinsatz erfolgt (Ubben 2017, S. 12). Traditionell basiert die Therapieplanung auf dem Problemlöserational mit den Einzelschritten Problemanalyse – Zielableitung – Mittelwahl/Therapieplanung – Realisierung – Ergebnisbewertung/Evaluation (Ubben 2017, S. 29).