Читать книгу Silvia - Folge 1 - Jürgen Bruno Greulich - Страница 10
ОглавлениеDer Fremde
Der Aufseher erhob sich vom Stuhl, schloss die Zellentüren auf, befreite die Mädchen von den Ketten. Jetzt schon, nach so kurzer Zeit? Aber vielleicht war die Zeit gar nicht so kurz gewesen, sondern nur wie im Flug verstrichen. Wortlos trat er an Silvias Pritsche, fummelte mit dem Schlüssel an ihren Armbändern, halb über sie gebeugt. Nahe ihrem Gesicht sah sie seine merkwürdige Kluft, dickes starres Leder, das nicht erkennen ließ, ob sich darunter etwas regte.
Verstört wandte sie den Blick zur Seite. Es ging sie nichts an, musste ihr egal sein, das hier war der reale Mann, dem sie sich nicht nähern durfte, es auch nicht wollte, schlimm genug, dass sein imaginäres Abbild sie besessen hatte. Erst als er die Zelle verlassen hatte und ihr den Rücken zuwandte, mit Jasmin beschäftigt, nahm sie die Kugeln aus sich heraus. Warm und feucht lagen sie in der Hand, ließen ein begehrliches Kribbeln zurück. Magische Requisiten, die Einblick in verborgene Winkel ihres Wesens gewährt hatten. Sie legte sie rasch in die Vertiefung der Ablage, in der sie zueinander kullerten und zur Ruhe kamen. Das Klacken verstummte.
Weil alle es taten, löste auch Silvia die Häkchen des Gewandes vom Halsband, ließ es hinabsinken und strich es glatt, ging dann mit den anderen zusammen zur Toilette und aufs Bidet.
Danach mussten sie wieder das Make-up auffrischen, damit die Attraktivität erhalten blieb. Für wen eigentlich, fragte sich Silvia, da es hier an Männern doch offenbar nur Eunuchen und Schwule gab. Aber gut, die Regeln würden schon wissen, weshalb sie es verlangten. Die Stimmung war ruhig, die Mädchen wirkten in sich versunken, als sei jede noch vom Nachklang der Gefühle befangen. Was sich in der Fantasie der anderen wohl abgespielt hatte, ob auch sie einem Aufseher hingegeben waren? Es blieb ihr Geheimnis, denn in dieser Beziehung ging es hier zu wie im richtigen Leben: Über solche Dinge sprach man nicht.
Maria, die Ärmste, versuchte die Spuren des Leids aus ihrem Gesicht zu schminken. Die Tränen und das Wimmern waren versiegt, durch das dünne blaue Gewebe schimmerten die roten Striemen hindurch, manchmal, wenn sie zusammenzuckte, ahnte man, dass es ihr noch immer wehtat, doch versuchte sie sich an einem tapferen Lächeln. Es ging schon, musste gehen, denn sie war ja eine Frau und Frauen hielten einige Peitschenhiebe schon aus.
Sie fand Gelegenheit zur Erholung, denn es stand der „freie Nachmittag“ auf dem Programm, den sie oben im Kaminzimmer verbrachten, wo sie tun konnten, was ihnen beliebte, im Rahmen des Erlaubten natürlich, also nicht viel. Gern hätte sich Silvia dem Tagebuch gewidmet, da sie diesem aber nicht schon bald eine selbst erlebte Auspeitschung schildern wollte, zog sie es vor, die freie Zeit dem Lernen der Regeln zu widmen. Die Schublade war unberührt, soweit sie es beurteilen konnte, das Buch der Regeln lag obenauf, harrend der wenig geneigten Leserin.
Sie setzte sich in einen Sessel – und schreckte wieder hoch, da sie vergessen hatte, das Gewand zu lüpfen. Besorgt schaute sie zum Aufseher hinüber, der neben der Tür saß, ihr Malheur aber nicht bemerkt oder willentlich nicht zur Kenntnis genommen hatte. Welch ein Leben!
Sie ließ sich ein zweites Mal nieder, auf dem nackten Po, wie es sich gehörte entsprechend der Regel …? Zehn, so las sie. Die Mädchen haben in jeder Situation darauf zu achten, nicht auf ihrem Gewand zu sitzen. Dieses ist vor dem Platznehmen hochzuraffen. Welch ein ausgeklügeltes System der Erniedrigung. Was blieb von ihr noch übrig, wenn sie all diese Regeln beherrschte und sie zu ihrem Denken geworden waren? Sie selbst würde übrig bleiben, Silvia, denn diese Regeln würden nicht zu ihrem Denken werden, würden von ihr zwar auswendig gelernt und befolgt werden, doch würden sie nicht die Kraft haben, aus ihr eine andere Frau zu machen! So lautete der erste Gedanke. Der zweite war leiser und weniger heroisch: Und wenn diese andere Silvia zum Vorschein käme, die sie vorhin auf der Pritsche kurz gesehen hatte, diese Silvia, die sich in den Regeln vielleicht wohlerfühlte als im normalen Leben, die sie vielleicht gar nicht mehr würde missen wollen? Vielleicht war sie diese andere mehr als die „normale Silvia“, die zu sein sie immer geglaubt hatte. Was sie da dachte, war erschreckend, aber auch aufregend wie die Reise in ein fernes, unbekanntes Land. – Aber egal, welche Silvia es auch war, diese Regeln musste sie lernen. Doch konnte sie sich die Texte nicht merken, kaum gelesen, waren sie auch schon wieder aus dem Gedächtnis geschwunden, als weigere sich ihr Geist, sie zu speichern.
„Am Anfang ist es schwierig“, tröstete Claudia, die sich hilfreich zu ihr gesellte. „Aber es ist zu schaffen. Wir alle haben es geschafft.“
„Vielleicht seid ihr alle intelligenter als ich.“
„Das glaube ich kaum“, meinte Claudia mit einem aufbauenden Lächeln. „Wie lautet Regel acht?“
„Regel acht? Hat die nicht irgendetwas mit Mädchen zu tun?“
„Na ja, das haben sie alle.“
„Aber die Regel acht irgendwie anders, wenn ich mich recht erinnere.“ Silvia las sie durch, schaute auf und blickte in Claudias dunkle Augen. Sah sie darin etwa ein Versprechen? Hm. Sie dachte daran, wie angenehm Jasmin sie auf die „Mittagsruhe“ vorbereitet hatte, und eine Ahnung tauchte auf. „Bist du gerne Helferin des Tages?“
„Manchmal schon.“ Das geheimnisvolle Lächeln in Claudias Gesicht machte sie noch schöner, als sie es ohnehin schon war.
„Es tun sich hier neue Welten auf, nicht wahr?“
„Allerdings. Und manche sind sehr reizvoll.“
Noch nie, merkte Silvia, war sie Claudia so nahe gewesen wie in diesem Moment. Vielleicht war es ja wie im Gefängnis, wo mangels anderer Gelegenheit die gleichgeschlechtliche Liebe blühte, aber nein, sie konnte sich nicht vorstellen, in Claudias Armen zu liegen, der Gattin des Kollegen ihres Mannes, und außerdem gab es ja die Regel acht, die es verbot. – Mit einem verwirrten Seufzen vertiefte sie sich wieder in ihre bizarre Lektüre.
Manchmal lernt man mehr, als einem im ersten Augenblick bewusst ist, diese Weisheit diente als einziger Trost, als sie das Buch der Regeln nach einiger Zeit frustriert zur Seite legte. Dass sie es zum Bedecken des Schoßes nicht mehr brauchte, fiel ihr gar nicht auf, zu sehr beschäftigt mit der Sorge, dass es ihr niemals möglich sein werde, auch nur einen einzigen dieser Abschnitte lückenlos und fehlerfrei aufzusagen. Vielleicht nahm die Herrin Rücksicht auf die Beschränktheit ihres armen Geistes und stellte ihr eine Souffleuse zur Seite. Es regnete draußen noch immer, vielleicht war es doch der Beginn der neuen Sintflut, gesandt von den Regeln aus Verärgerung über das ungeordnet bunte Treiben dieser ungehorsamen Welt.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie zur Bücherwand und begutachtete die Werke, die sich dort dicht an dicht drängten. Sie waren geordnet nach verschiedenen Gebieten. Den Anfang machte sinnigerweise die Historie und die Schreiber reichten von Herodot bis Golo Mann. So ziemlich alles wurde hier behandelt, was auf diesem Erdball im Laufe der letzten drei Jahrtausende geschehen war, einschließlich einer Abhandlung von mehreren Hundert Seiten über den Vertrag des Westfälischen Friedens und dessen Folgen, unglaublich, eine solche Fleißarbeit. In der Abteilung Literatur standen die großen Autoren einträchtig beieinander, Petrarca, Shakespeare, Thomas Mann, Franz Kafka, Samuel Beckett, Achternbusch, Greulich – Greulich? Was war denn das für einer? Na ja, wahrscheinlich auch nur einer der seltsamen Menschen mit der obskuren Berufung, die ihn zum Niederschreiben der krausen Gedanken ins stille Kämmerlein sperrte.
Oh. Auch die „Geschichte der O“ war hier zu finden, fast war es, als begegne sie einer zweifelhaften Bekannten. Sie nahm das Buch zur Hand. Im Gegensatz zu ihrem Exemplar daheim hatte dieses noch den Schutzumschlag. Das Foto einer Frau war zu sehen. Sie kniete mit verbundenen Augen auf dem Boden, umkränzt von einem bauschigen langen Rock. Ihr Oberkörper war nackt, ihre Hände waren vorn aneinandergekettet und mit einer langen Kette ans lederne Halsband gefesselt.
Claudia, die sah, was sie da in der Hand hielt, kam zu ihr her. „Hast du es gelesen?“
„Halb. Es ist schrecklich.“
„Aber auch ganz gut geschrieben … Mein Gebieter brachte es mir. Damit fing es an.“
„Was fing damit an?“
„Seine Versuche, mich zum Aufenthalt hier im Schloss zu überreden. Als er mich so weit hatte, dass ich einverstanden war, verlangte er, dass ich das Buch dir geben solle.“
„Ach, so ist das? Das klingt ja ganz so, als steckten er und Wolfgang unter einer Decke, als hätten sie zusammen einen Plan ausgeheckt.“
„Erfolgreich, wie man sieht.“
Mahnend schaute der Aufseher herüber. Regel sechzehn, ja, sie wussten es doch, man durfte sich nicht über die Gebieter unterhalten, die erfolgreichen, deren hinterhältiger Plan tatsächlich aufgegangen war mit dem Ergebnis, dass ihre Frauen nun hier standen und sich vor dem Aufseher fürchteten. Um ihm keinen weiteren Anlass zum Tadel zu geben, entfernte sich Claudia mit einem resignierten Achselzucken. Es hatte schon günstigere Gelegenheit zur Unterhaltung gegeben und zum Lästern über die werten Gatten. Der Aufseher schaute wieder in sein Buch und Silvia stellte die O ins Regal zurück. Der Herr Wohlgemach und Wolfgang als Verschwörerbande, unglaublich. Sie mochte lieber nicht daran denken, wie zufrieden sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen konnten. – Aber schwer hatte sie es Wolfgang wirklich nicht gemacht, seiner Absicht sehr wenig Widerstand entgegengesetzt. Was sie nicht wunderte, nach dem, was sie jetzt so alles über sich hatte lernen müssen …
Weiter schweifte ihr Blick über die entlarvende Bibliothek. Die Philosophen standen in der Ecke, wo sonst? Große Geister, sie blickten erhaben herab mit makellosen Einbänden, von niemandem angerührt. Die Veden gab es da, Laotse, Platon, Giordano Bruno, Nietzsche, Kant, Schopenhauer. Der gute Arthur. Was er wohl sagen würde beim Blick in Schloss Sinnenhof? „Der Wille regiert den Menschen, nicht umgekehrt“, würde seine Stimme mächtig erschallen und ohne weiteres könnte er sie, Silvia, als Beleg für diese These anführen. Was ihm sonst noch alles einfallen könnte, mochte sie sich lieber nicht ausmalen. Ein Wunder, dass diese Regalwand nicht zusammenbrach unter der Last der Gedanken. Sie stand im sonderbaren Gegensatz zum Publikum des Raumes, beinhaltete sicherlich keine Sklavinnenliteratur, von der einen Ausnahme mal abgesehen, und ebenso wenig befand sich darunter die passende Lektüre für einen gefühllosen Kerkermeister.
Was las er eigentlich? Silvia konnte es nicht sehen. Er hielt das Buch so tief, dass der Einband ihrem Blick verborgen blieb. Vermutlich handelte es sich um ein Regelwerk, vielleicht um eine kompetente Interpretation einschließlich diverser Beispiele für ihre Auslegung.
Es lohnte nicht mehr, das Tagebuch aus der Schublade zu nehmen, es war gleich fünf Uhr, die Zeit des Kochunterrichts, wie Maria berichtete, die gut erholt wirkte, fast war ihr von der Bestrafung nichts mehr anzumerken. Na ja, ein bisschen weh tue es noch immer, bekundete sie auf Silvias schüchterne Frage, aber nur ein bisschen eben, nicht weiter schlimm, kein Problem. Auch sie hatte den Nachmittag zum Studium der Regeln genutzt, damit ihr ein solcher Fauxpas wie gestern nicht noch einmal passiere. Sie hörten sich gegenseitig noch kurz ab, wobei Maria durch umfassende Kenntnis der Regeln brillierte und Silvia bemerkte, dass sie doch immerhin ein bisschen vom Gelernten behalten hatte und einige Passagen leidlich passabel daherstottern konnte.
Die Mädchen räumten ihre Sachen in die Schublade und der Aufseher erhob sich von seinem Platz, legte das Buch auf den Tisch. Es war der „Fremde“ von Albert Camus. Ach. War das die passende Lektüre für einen gefühllosen Kerkermeister? Sicherlich nicht. Aber dieser Mann las es, also gab es einen Umkehrschluss (einen zulässigen, wie Silvia jedenfalls hoffte): Wenn es keine Lektüre für einen gefühllosen Kerkermeister war und er es trotzdem las, konnte er ein solcher nicht sein. Was aber war er dann, ein existenzialistisch Entrückter? Seine Wortkargheit hätte zum Kerkermeister ebenso gut gepasst wie zum Fremden, sollte es da etwa Parallelen geben? Wenn, dann im Leid, das der Erste allerdings an andere weitergab, während es der Zweite für sich behielt, womit ihr Aufseher wieder der ersten Gruppe angehörte, mochte er nun Camus lesen oder nicht und so viel persönliches Leid mit sich herumschleppen, wie er wollte! Er nickte den Mädchen zu, fast freundlich, wie man hätte meinen können, und sie folgten ihm hinaus.