Читать книгу Silvia - Folge 1 - Jürgen Bruno Greulich - Страница 7
ОглавлениеDas Buch des Mädchens
Konsterniert klappte Silvia das Buch zu und ihr Blick schweifte zu Claudia, deren linkes Knie ihr rechtes berührte. „Ist das wirklich ernst gemeint?“
Claudia nickte.
Es war eine überflüssige Frage gewesen. Antwort hätten auch die demütige Sitzhaltung, Marias Furcht vor der drohenden Peitsche und der stoische Aufseher gegeben, der Wächter der absonderlichen Regeln. Man hatte tatsächlich vor, sie zur Sklavin abzurichten, schickte sie in ein dichtes Gestrüpp von Verhaltensregeln und Anweisungen, auf dass sich ihr freier Wille darin verlöre. Und es gab keinen Fluchtweg aus dem Dickicht, kein Versteck, es gab nur Fügsamkeit als einziges Mittel, um mit halbwegs heiler Haut davonzukommen. Seltsam nur, dass unter diesen Umständen kein Klima der Verzweiflung herrschte. Woher rührte sie nur, die gefasste Gelassenheit der Mädchen, die so wirkten, als könne man sich mit den hiesigen Gebräuchen durchaus arrangieren, und weshalb dachte sie selbst darüber eher staunend denn entsetzt nach?
Aber was war mit dieser einen Regel, in der davon die Rede war, dass man die Mädchen „von Zeit zu Zeit einem der Gäste des Hauses zuführte“? Was waren das für Gäste? Aber nein, das war nicht die richtige Frage. Diese lautete: Wollte man sie wirklich irgendeinem wildfremden Mann überlassen? Konnte sie das? So etwas hatte sie noch nie getan, hatte ihren Wolfgang noch nie betrogen. Aber es ging nicht um betrügen, es war etwas anderes: Gab man sie den Wünschen irgendwelcher unbekannter Männer preis, dann machte man sie zur Prostituierten! Ein kühler Schauer rieselte über ihre Haut und irgendwo tief im Verborgenen regte sich ein verwirrend aufregendes Kribbeln.
Welche Regel war das noch mal? Sie klappte das Buch wieder auf, schaute nach und wandte sich flüsternd an Claudia. „Was bedeutet eigentlich die Regel vierzehn?“
Claudia musste nicht lange nachdenken, um zu wissen, was diese Regel besagte, kannte sie offenbar tatsächlich alle auswendig. „Es bedeutet das, was da steht und was du dir vermutlich nicht vorstellen kannst.“
„Irgendwelche fremde Männer?“
„Ja.“
„Hast du schon einmal …?“
„Übermorgen.“ Bangen trat in Claudias Blick. „Übermorgen ist es das erste Mal für mich. Ich bin noch nicht lange hier und man muss darauf vorbereitet sein.“ Glomm neben dem Bangen auch ein erwartungsvolles Funkeln in ihren Augen? Vermutlich täuschte Silvia sich.
„Und wie sieht diese Vorbereitung aus?“
„Alles hier ist Vorbereitung darauf. Du wirst schon sehen.“
Einer der seltsamen „Jungs für alles“ schleppte auf einem runden großen Tablett einige Flaschen Fruchtsaft und Mineralwasser, dazu fünf Gläser herein und stellte es auf einen Tisch. Erschrocken sah Silvia, dass er sich ihr näherte. Was wollte er? Es war der mit dem schwarzen kurzen Haar, das glänzte vor Gel. Er war noch so gekleidet wie bei der Begrüßung, unter der roten Weste spross spärliches dunkles Haar auf der gebräunten Haut der schmächtigen Brust. Er blieb vor ihr stehen und schaute zu ihr herab. „Magst du ein Abendbrot haben? Du hattest ja noch nichts und die Mädchen haben bereits gegessen. Es gibt Schnittchen mit Lachs, Schinken oder Käse, wenn du möchtest, auch Sushi.“ Zudringlich wie eine ungenierte Hand schweifte sein Blick über ihre kaum verhüllte Haut, schwer lastete sein anzügliches Lächeln auf ihr; ja, alles war Vorbereitung darauf, auch er.
„Vielen Dank, aber ich habe keinen Appetit.“ Leise klang ihre Stimme und alles andere als sicher. Selbst dieser junge und keineswegs imponierende Bursche flößte ihr Respekt ein. Mit einem Achselzucken wandte er sich ab und erleichtert sah sie ihn gehen.
Schweigend saß derweil der Aufseher in seinem Sessel bei der Tür. Er hielt ein Buch in der Hand, doch schien er nicht zu lesen, sondern halb zu dösen. Möglicherweise aber lauschte er den Gesprächen der Mädchen, es gab ja viele verbotene Themen und eigentlich mussten sie jedes Wort auf die Goldwaage legen. So war er eine unentwegt präsente Drohung, dieser hünenhafte Kerkermeister. Gar zu grob, brutal und unbarmherzig aber sah er gar nicht aus. Sein Gesicht wirkte offen, beinahe gutmütig, die Lippen waren nicht schmal zusammengekniffen, sondern wulstig geschwungen, sinnlich fast, und der Blick seiner blauen Augen glitzerte eher sympathisch denn furchteinflößend.
Ein Aufseher blieb er trotzdem und natürlich erfülle er gewissenhaft seine Pflicht, so berichtete Isabel flüsternd (was gegen die Regeln verstieß). Sie hatte in einem Sessel in Silvias Nähe Platz genommen und beugte sich zu ihr herüber. „Fast jeden Regelverstoß meldet er der Herrin, es sei denn …“ Sie verstummte, da er den Blick mahnend hob, räusperte sich schuldbewusst und zuckte hilflos mit den Achseln, sie war eine Frau und Frauen mussten miteinander reden, das war ein Naturgesetz.
Er akzeptierte es, wandte sich kopfschüttelnd wieder seinem Buch zu und Silvia erfuhr nicht, was dieses „es sei denn“ meinte, wagte sich danach nicht zu erkundigen.
Was war nur aus ihr geworden, dass sie sich vor einem Aufseher fürchten musste, der über die Einhaltung schmählicher Regeln achtete, die strenges Gesetz für sie waren, wie hatte sie sich auf so etwas nur einlassen können? Warum begehrte sie nicht auf, weshalb verlangte sie nicht, augenblicklich nach Hause zurückzukehren? Würde man sie wirklich gegen ihren erklärten Willen festhalten? Es wird dir nichts geschehen, was du dir nicht tief in deinem Herzen wünschst, hatte die Herrin behauptet. Sollte sie etwa recht haben, war es mehr als nur Furcht, die sie schweigen, erdulden und befolgen ließ, war das möglich?
Maria gesellte sich zur kleinen Gruppe, blieb neben dem Sofa stehen, schaute mit dem Versuch eines Lächelns zu Silvia herab. „Willst du mal in deine Schublade schauen?“
„Schublade? Was meinst du damit?“
Maria meinte eine Schublade, nichts anderes, kein Codewort für etwas Obszönes, wie Silvia im ersten Moment befürchtet hatte. Sie befand sich im schwarzen Schrank, für jedes der Mädchen gab es eine, jede mit einem Namensschild versehen, nur eine der sechs war namenlos.
„Was ist da drin?“, fragte Silvia misstrauisch. „Noch mehr Regeln?“
„Aber nein. Es sind Dinge, die wir für den Unterricht brauchen. Und manchmal gibt es noch eine kleine Überraschung. Schau doch mal.“
Silvia schaute mal, wenn auch mit dem Argwohn, der ihr hier im Hause geboten schien. Doch fand sie nichts Anstößiges darin, sondern einen Schreibblock, Briefpapier, ein dünnes Büchlein ohne Titel, ein Buch über Frankreich, das sie zum vorgeblichen Urlaubsland erwählt hatte, ein Deutschbuch mit Grammatikregeln (Regeln, also doch!) und ein Buch mit Sagen der griechischen Mythologie. Auch das Adressbuch, das sie mit hierhergeschleppt hatte, befand sich darin – und eine blau eingebundene Kladde mit unlinierten Seiten und einem Lesebändel, genau eine solche, die sie als Tagebuch verwendete.
Sie nahm sie ebenso erfreut wie verwundert heraus. „Wie kommt es, dass ich so etwas hier finde?“
„Die Herrin fragt unsere Gebieter nach unseren Vorlieben und Wünschen.“
Silvia wiederholte die Worte andächtig. „Sie fragt nach unseren Wünschen … wer hätte das gedacht?“
„Manchmal nimmt man tatsächlich Rücksicht auf uns.“ Fast klang es, als spräche Maria von einem Wunder.
Aber konnte man hier seine Gedanken und Gefühle denn aufschreiben? Zweifel tauchten in Silvia auf. „Ich kann es nicht wegschließen. Es wird doch bestimmt von irgendjemand gelesen?“
„Wer kann das schon wissen? Aber bisher hatte noch keine von uns das Gefühl, dass die Schublade angerührt würde.“
Es war eine vage Beschwichtigung, aber besser als keine. Und weshalb sich um heimliche Leser sorgen, da sie hier in diesem Haus ja sowieso das Innere nach außen stülpen würde, wie Silvia fürchtete. Sie nahm den rubinroten Füller zur Hand, der ebenfalls in der Schublade lag, und ließ sich wieder im Sessel nieder, vergaß nicht das Gewand zu lüpfen und zögernd öffneten sich die Knie. Auch die anderen Mädchen begannen sich zu beschäftigen, Jasmin und Isabel schrieben Briefe, Claudia las in einem Buch, Maria entnahm ihrer Schublade einen Zeichenblock und Farbstifte, auch das offenbar eine Gabe der großherzigen Herrin.
Nach kurzem Überlegen begann Silvia mit dem ersten Eintrag ins „Buch des Mädchens“, wie es zu nennen sie bereit war. Gleichmäßig floss die blaue Tinte aus der Feder, es war ein guter Füller, den man ihr da überließ, und überquellend sprudelten die Gedanken. Sie hatte viel erlebt in den letzten Stunden, mehr als in drei Jahren Ehe, und es waren Dinge, die sich tief in ihre Seele gruben, die das Leben grundlegend änderten, die unbekannte, aufregende Gefühle weckten. – Aber halt! Das Maß ihrer Erniedrigung sprengte alle Dimensionen, es gab wahrlich keinen Grund, sich plötzlich gut zu fühlen, wie von einer schweren Last befreit, nein, müsste sie nicht eigentlich bitterlich klagen und ihr hartes Los bedauern?
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster in den Park. Es war eine prachtvolle Anlage mit schnurgeraden kiesbestreuten Wegen, sorgsam gepflegten Blumenrabatten und nicht weit vom Haus entfernt einem Springbrunnen mit überlebensgroßer Figurengruppe. Drei verwegen dreinblickende muskulöse Männer schleppten nackte Frauen mit sich fort. Einer hatte sich seine Beute über die Achsel geworfen wie einen Mehlsack, einer hielt sie mit beiden Armen umschlungen und hob sie hoch, sodass ihre Füße in der Luft strampelten, der Dritte hielt sie an der Hand und zeigte in die Ferne, versprach ihr wohl eine große Zukunft. Offenbar sollte die Gruppe den Raub der Sabinerinnen symbolisieren, passend zum Haus, oder doch nicht, da die Mädchen hier ihrem Mann nicht geraubt, sondern von ihm geschickt wurden, wie verschleppt konnten sie sich allerdings tatsächlich fühlen.
Die Gedanken schweiften zurück zum Daheim. Auch dort hatte sie vor dem Fenster ihr Tagebuch geschrieben. Allerdings richtig bekleidet und nicht in solch obszöner Stellung, auch nicht unter den Augen eines Aufsehers, nein, niemals hätte sie so etwas für möglich gehalten. – Aber hätte man sie gefragt, wo sie sich jetzt lieber befände, dort im heimischen Wohnzimmer oder hier in dieser sonderbaren Lage, fiele die Antwort nicht eindeutig wie erwartet aus, vielleicht müsste sie sich ihrer gar schämen. Zum Glück aber fragte man nach ihrem Wollen nicht, ließ ihr keine andere Wahl, als sich in ihr Schicksal zu fügen.
Ob es den anderen Mädchen ebenso ging, die ja eigentlich Frauen waren, zu Mädchen durch den Willen ihrer Männer geworden, die man Gebieter nannte, eine Bezeichnung, die unendliche Demütigung barg, nicht für die Gebieter natürlich, sondern für ihre Sklavinnen. Ob auch sie sich mehr als nur arrangierten, ob es auch in ihnen diesen unbegreiflichen Reiz an ihrer Rolle gab? Kaum konnte Silvia es glauben, eher dachte sie allein zu sein mit ihren seltsamen Gefühlen, eine Schande für ihr ganzes Geschlecht. Mit einem schweren Seufzen klappte sie das Tagebuch zu. Drei der blütenweißen Seiten waren vollgeschrieben und sie fragte sich bangen Herzens, was sie ihm noch alles anvertraut würde in der kommenden Zeit. Sicherlich würde es das merkwürdigste aller ihrer Bücher werden.
Kurz vor halb elf Uhr räumten die Mädchen ihre angefangenen Briefe, die Bücher und Zeichenutensilien weg, ohne dass man sie dazu auffordern musste. Silvia folgte ihrem Beispiel, verstaute das Tagebuch und das Buch der Regeln in ihrer Schublade. Blieb nur zu hoffen, dass tatsächlich niemand darin kramte und man nicht ihre Seele ebenso wie ihren Leib entblößte. Als die Uhr halb schlug mit ihrem tiefen warmen Gong, standen die Mädchen parat, um ihrem Aufseher in den Korridor zu folgen wie Schafe dem Hirten. Er führte sie zur Eingangshalle und dort die Treppe hinab ins Untergeschoss. Hier unten gab es keinen Flur, sie gelangten direkt in einen kleinen Raum und durch eine massive Eichentür in den sogenannten „Mädchenraum“.
Silvia stockte der Atem. Versteckt angebrachte Lampen beleuchteten mit rotem Schummerlicht eine Art Krypta mit mächtigen Säulen und romanischen Bögen. Ein dunkelroter Teppich bedeckte den Boden und rot tapeziert waren die Gewölbe zwischen den weiß gekalkten Rippen. Es gab sechs Zellen, geräumige rechteckige Käfige mit soliden Gitterstäben, jeder vom anderen getrennt und auch ein Stück von der Wand entfernt, sodass man rundum gehen konnte. In jeder Zelle gab es eine Pritsche mit einem schwarzen Laken und einer dünnen schwarzen Decke, mehr nicht, und über jeder Gittertür hing ein Schild mit dem kunstvoll geschriebenen Namen der „Bewohnerin“.
Mitten im Raum hing von einem Flaschenzug an der Decke eine dicke Kette herab und eine Sammlung weiterer Ketten baumelte an der Wand von einer metallenen Schiene. Darüber dräute an zwei Haken eine lederne Peitsche mit kurzem, gedrungenem Griff. In einer Ecke stand eine schwarze Kommode, davor ein Tisch mit sechs Stühlen, und in der Nähe des Eingangs gab es einen weiteren, kleineren Tisch mit zwei Sesseln. Ratten und Spinnen waren keine zu sehen, auch war die Luft nicht feucht und klamm, sondern warm und trocken, trotzdem aber war dieses Gewölbe ein Kerker, ein Verlies ohne Fenster, angefüllt mit Furcht.
Über einer der Zellen prunkte Silvias Name, höhnisch, wie sie meinte, und neben der halb geöffneten Gittertür war eine metallene Ablage an die dicken eisernen Stäbe geschraubt mit einigen höchst befremdlichen Dingen darauf. Ein schwarzer, seltsam geformter Dildo stand da, rundlich war seine Spitze, zur Mitte hin verdickte er sich, wurde dann dünner und endete in einer ovalen Gummiplatte, die ihm stabilen Halt gab. Noch nie hatte Silvia ein solches Ding gesehen, doch gehörte nicht viel Fantasie dazu, in ihm den „Poformer“ zu erkennen, von dem im Buch der Regeln die Rede war und der auf die „speziellen Wünsche des Gebieters“ vorbereiten sollte. Solche Wünsche gab es in Wolfgang aber gar nicht, jedenfalls hatte er sie nur ein einziges Mal halbherzig dazu überreden wollen und nach ihrem entrüsteten Nein nie wieder damit angefangen.
In einer Vertiefung daneben lagen zwei silbern schimmernde Kugeln, etwas kleiner als Tischtennisbälle und von einem silbernen Kettchen miteinander verbunden. Sie also sollten die intimen Muskeln trainieren, auch so etwas hatte Silvia noch nie gesehen, wie unbedarft sie in solchen Dingen doch war. Natürlich war ihr auch der „Freudenslip“ unbekannt, nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass es so etwas Perverses geben könne. Er war aus schwarzem Leder, der Bund glich einem Gürtel mit silberner Schnalle, das vordere Dreieck wurde nach hinten zu einem dünnen Band wie bei einem String, und daran befestigt war ein mächtiger Godemiché mit wulstiger Spitze und faltigem Schaft, nach innen gerichtet. Damit sollte man essen? Unvorstellbar!
Anspornend klatschte der Aufseher in die Hände. „Auf, Mädchen! Macht euch fertig fürs Bett!“
Es gab drei Türen rechts des Eingangs, eine führte zu den hell beleuchteten Toiletten. Cremefarben gefliest waren der Boden und die Wände und es gab sechs Kabinen, drei rechts und drei links, jede mit dem Namen eines Mädchens an der gläsernen Tür. Jasmins Kabine lag der Silvias gegenüber und sie konnten sich gegenseitig sehen beim Sitzen auf der rosafarbenen Schüssel. Fast war es Silvia egal, dass auch der Aufseher hereinschaute, der auf und ab ging, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sollte er halt sein zweifelhaftes Vergnügen an ihrem Anblick finden, daran, dass es vor diesem Mann kein Verstecken gab, musste sie sich wohl gewöhnen. So ganz egal aber war es ihr doch nicht, jedenfalls dauerte es eine Weile, bis sie endlich pinkeln konnte, fast war es, als habe sie ein großes Werk vollbracht.
Von den Toiletten gab es einen Zugang zum Duschraum. Auch dieser wurde von Neonlicht hell beleuchtet und auch er war cremefarben gefliest. Es gab sechs Duschkabinen mit gläsernen Wänden, sechs Waschbecken und sechs Bidets, auf denen sich die Mädchen niederließen, wie das nach jedem Besuch auf der Toilette zu geschehen hatte, so wurde Silvia erklärt. Natürlich waren all die rosafarbenen sanitären Einrichtungen mit Namensschildern gekennzeichnet, wie nicht anders zu erwarten in diesem Reich der Hygiene. Es tat gut, das Wasser, das sie da unten warm umspülte, anregend fast, nicht ohne wohliges Gefühl. Sie streiften das Gewand ab, warfen es in einen bereitgestellten Korb, damit es morgen gewaschen werde, und nahmen eine Dusche. Die Kleidung der Nacht bestand aus einem schwarzen, taillenkurzen, durchsichtigen und spitzenbesetzten Nichts von Hemdchen, in dem sie ähnlich nackt waren wie mit gar nichts an.
Und nun also wartete die Zelle! Silvia betrat sie wie eine unschuldig Verurteilte, aber sie war nicht unschuldig, denn sie hatte sich zum Aufenthalt in diesem anachronistischen Schloss überreden lassen und begehrte nicht auf, nichts, so musste sie sich eingestehen, geschah gegen ihren Willen. Es gab keine mildernden Umstände, schon gar keinen Freispruch, sie hatte ihn nicht verdient. Auch oben war der Käfig vergittert, als wolle man einen Ausbruchsversuch verhindern.
Es war, als sei die Luft hier drinnen komprimiert, sie lastete schwer, wie lähmend, reglos blieb Silvia stehen, sanft wurde die Tür hinter ihr zugezogen, mit einem höhnischen Klirren drehte sich der Schlüssel im Schloss, für einen Moment befürchtete sie, dass es sich nie mehr öffnen werde. Sie legte sich auf die Pritsche, deren Matratze weicher war als gedacht, sah die kurzen Ketten, die an jeder Ecke des Rahmens angeschmiedet waren, zog die seidige Decke hoch bis zum Hals und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht. Wie schön hätte sie sich jetzt zu Hause in ihr Bett legen können an Wolfgangs Seite, um unbelastet von allen Sorgen einem neuen Tag entgegenzuschlafen, der sich von den vielen vergangenen und (vermutlich) noch viel mehr kommenden Tagen nicht unterschieden hätte. Der Gedanke an zu Hause war kein Trost, am besten wäre, sie bräuchte keinen.
„Gute Nacht. Träumt etwas Schönes“, sagte der Aufseher, als er alle Zellen verschlossen hatte. Das Licht verlosch bis auf eine schwache rötliche Notbeleuchtung, die Tür fiel hinter ihm zu, die Mädchen waren alleine.
Nichts war zu hören außer dem leisen Summen der Lüftung, dazwischen ein erschöpftes Seufzen, ein murmelnder Laut, ein leises Klirren, als spiele irgendjemand mit einer Kette. Keine sprach ein Wort, als fürchteten sie, dass man sie belausche und des Verstoßes gegen die Regel elf oder zwölf beschuldige, oder war es Regel zehn?
Silvia wusste es nicht, ihre Tränen aber versiegten wie die eines Kindes, das durch Wichtigeres von seinem Kummer abgelenkt wird. Ihre Hand umfasste einen der Gitterstäbe, als müsse sie sich vergewissern, dass dies alles kein Traum sei, und ohne dass sie es wollte, schweifte ihr Blick im Zwielicht zu diesem obskuren Sammelsurium an Stimulantia, betrachtete fast andächtig den „Freudenslip“ und den noch befremdlicheren „Poformer“. Sie lauerten geduldig auf den rechten Moment wie Belagerer, die wussten, dass sich die Zugänge der verlorenen Burg von ganz alleine öffnen würden. Der Sieg war ihnen gewiss, da unbezwingbare Waffen an ihrer Seite standen, nämlich die Zeit und die Regeln.
Silvias Augen fielen zu, die Erlösung des Schlafes sank herab, in seiner Begleitung befanden sich Scham und Bangen, dazu ein leises, unbegreifliches, schaurig-wohliges Kribbeln …