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Negersprung im Nebel

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Die Schule gefiel Elisabeth immer besser. Seit Beginn des Schuljahres hatte ihre Mutter sie endlich in Ruhe gelassen. Während sie die ersten Dehnübungen machte, die anderen in Grüppchen zusammenstanden und schwatzten, betrat Manfred Burglos die Sporthalle. Etwa einen Meter achtzig groß, sonnengebräunt und durchtrainiert wie ein Zehnkämpfer. Den Mienen ihrer Mitschülerinnen sah Elisabeth überdeutlich an, dass dieser Lehrer zum Schwarm aller Mädchen werden würde. Burglos lächelte strahlend in die Runde und Annabell aus der zweiten Reihe machte Anstalten, in Ohnmacht zu fallen. Der Sportlehrer zog das Tor zum Geräteraum auf und warf die Medizinbälle heraus.

»Werfen und Fangen! Teilt euch in Zweier- und Dreierteams auf!«, rief er in die Runde und klatschte auffordernd in die Hände.

Besonders die Mädchen kamen seiner Forderung erstaunlich fix und mit Feuereifer nach, was Elisabeth ebenso amüsiert bemerkte wie Sabrina und Theobald. Während Burglos durch die Halle ging, um hier und da Anweisungen zu geben, beobachtete Elisabeth, wie Annabell dem Sportlehrer auf den Hintern schaute. Als deren Freundin Beate ihr den Ball zuwarf, bekam Annabell ihn prompt an den Kopf und ging zu Boden.

»Ist die jetzt echt weggetreten oder wartet sie auf eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch Burglos?«, ätzte Sabrina. Theobald und Elisabeth brachen in prustendes Gelächter aus, während Manfred Burglos Annabell auf die Beine half und sie zur Erholung nach draußen schickte. Für die anderen ging es weiter.

Sabrina, die mit Elisabeth übte, konnte schlecht werfen, war aber richtig gut im Fangen, doch sie schnaufte wie eine Dampflok und schwitzte nach kurzer Zeit überall. Elisabeth nicht. Sie tänzelte während des Werfens und Fangens immer hin und her und fing jeden Ball mit Leichtigkeit. Plötzlich klopfte ihr Manfred Burglos anerkennend auf die Schulter.

»Du bist die Neue aus Hannover? Elisabeth, richtig?«

Prompt ließ sie den Ball, den sie gerade gefangen hatte, fallen. Sie lächelte verlegen und nickte. Mehr brachte sie nicht hervor. Manfred Burglos stand direkt neben ihr, während sein muskulöser Körper sich gut unter dem knapp sitzenden Muskelshirt abzeichnete. Ihr wurde heiß. Betreten hob sie den Ball wieder auf.

»Du hast eine exzellente Beinarbeit. Spielst du Basketball oder Handball?«

»Nein, ich laufe eigentlich nur«, konnte sie schließlich antworten.

»Dann bist du ein Naturtalent. Du hast immer volle Kontrolle über deinen Schwerpunkt und extrem gute Reflexe. Ich habe gesehen, dass du in meiner AG bist. Deine Partnerin ist wohl Sabrina, die Schlauste, wenn man den anderen Lehrern glauben darf. Ich finde es toll, dass du mit ihr trainierst. Deine Freundin, hmmm? Ich freue mich schon auf den Kurs mit euch.« Dann setzte er hinzu: »Übrigens wenn du läufst ... wir wollen dieses Jahr mit dem Kurs am Harzlauf teilnehmen. Ich zähle auf dich!« Damit wandte er sich ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen.

»Wenn du mich fragst, hat der Burglos dich gerade richtig lange in Beschlag genommen. Was wollte er?«, quatschte Sabrina sie sofort an, als er wegging.

Elisabeth blickte ihre Freundin an, dann grinste sie. »Nun, er findet, ich sei ein Naturtalent. Astronomie kannst du dieses Jahr ganz sicher vergessen. Ich wette, wir sind in seinem Kurs.«

Bei dem Gedanken daran, wie Sabrinas Gesicht ausgesehen hatte, musste Elisabeth im Auto viel später erneut breit lächeln, als sie vom Einkaufen zurückfuhren. Es war eine Mischung aus Schock und ungläubigem Staunen gewesen. Der Nebel war dick wie Suppe, als sie von Osterode nach Clausthal hochfuhren. Ihre Mutter starrte sichtlich angestrengt in die Dämmerung, während Elisabeth gelangweilt aus dem Seitenfenster schaute. Sie träumte vor sich hin.

In der letzten Nacht war etwas Komisches passiert. Elisabeth war gegen Mitternacht schlagartig wach geworden und hatte am ganzen Körper ein Brennen gespürt. Hilfesuchend war sie schließlich zu ihrer Mutter gegangen und hatte sie geweckt. Die Reaktion war ernüchternd gewesen. Ihre Mutter hatte ihr gleich drei Esslöffel voll von dem Trank gegeben und seitdem das Prozedere morgens, mittags und abends wiederholt. Das Kribbeln war zwar verschwunden, aber Elisabeth hatte stattdessen komisch geträumt. Irgendwie kam immer ein Wald darin vor und meistens lief sie.

Die höhere Dosis, die sie nun zu sich nehmen musste, hatte alle Vorräte schnell aufgebraucht. Ihre Mutter hatte Elisabeth diesen Samstag kurzerhand mitgenommen, als sie nach Osterode zur Apotheke fuhr. Der Frage, warum sie nicht in Clausthal oder Zellerfeld einkaufe, wo doch Theobalds Mutter die Apotheke führte, wie Elisabeth inzwischen wusste, war ihre Mutter ausgewichen. Es erstaunte sie, dass ihre Mutter den Trank inzwischen alleine ohne Frau Dr. Borga zubereiten konnte. Bei dem Gedanken daran kam Elisabeth das belauschte Gespräch wieder in den Sinn. Vor was waren sie nun wirklich geflohen? Immerhin hatte sich viel seit diesem denkwürdigen Tag ereignet und Elisabeth hatte das Gespräch fast vergessen. Doch nun wurde es wieder präsent. Der Apotheker hatte sichtlich die Stirn gerunzelt, als er ihrer Mutter die Bestellung aushändigte, aber er hatte keine unangenehmen Fragen gestellt. Dann hatten sie noch etwas getrunken und einen Spaziergang durch die Innenstadt gemacht.

Sie näherten sich der letzten Kurve vor der Abzweigung zur Innerste, als der Nebel noch dichter wurde. Die Kurve, so hatte Elisabeth von Theobald gehört, hieß bei den Einheimischen politisch unkorrekt Negersprung, weil angeblich vor zig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein schwarzer amerikanischer Soldat und ein paar Kameraden mit einem Armeejeep mit Vollgas direkt in den Abgrund gerast waren. Danach hatte sich dieser umgangssprachliche Ausdruck eingebürgert. Ob das stimmte, wusste sie nicht, aber es klang gefährlich.

Emilia Wollner schaltete noch einen Gang herunter und starrte angestrengt über das Lenkrad. Es war gespenstisch und der Nebel schien das Licht zu blocken. Plötzlich fiel eine große Gestalt von der Böschung direkt vor den Wagen. Elisabeth sah eine Art riesigen grauen Wolf im Scheinwerferlicht landen. Sie fuhren immer noch zu schnell. Ihre Mutter hätte bremsen müssen, doch diese stieß im Angesicht der Gestalt nur einen schrillen, angsterfüllten Schrei aus und riss die Arme vor die Augen. Das Wesen starrte in die Scheinwerfer.

Der Aufprall folgte nur Bruchteile von Sekunden später. Der riesige Wolf wurde vom Auto erfasst, über die Motorhaube sowie das Dach geschleudert und verschwand über die Seitenleitplanke im Abgrund. Erst jetzt bremste Frau Wollner den Wagen ab, der daraufhin ins Schleudern kam, weil sie das Lenkrad losgelassen hatte. Elisabeth griff geistesgegenwärtig zu und hielt es gerade. Mit quietschenden Reifen kam das Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn, keine Handbreit von der Leitplanke entfernt, zum Stehen.

Emilia Wollner griff jetzt wieder zum Lenkrad, als wolle sie es zerquetschen. Sie schien der Ohnmacht nahe und war kreidebleich. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, vergingen, ohne dass jemand etwas sagte.

Elisabeth, die ebenfalls geschockt war, fand ihre Stimme als Erste wieder. »War das ein Wolf? Wir haben ihn angefahren. Mama, was machen wir denn jetzt?« Als diese immer noch nicht antwortete, machte Elisabeth Anstalten, auszusteigen.

Das riss ihre Mutter aus der Trance. Mit ungewöhnlich hoher Stimme kreischte sie: »Nein! Unter keinen Umständen! Bleib, wo du bist! Es ist zu gefährlich. Wir müssen hier weg.«

»Aber Mama, das Tier ist sicher schwer verletzt. Wir sollten Hilfe holen und das melden! Wölfe stehen unter Naturschutz.«

Plötzlich kehrte da eine Spur des ärgerlichen Funkelns in die Augen ihrer Mutter zurück, während sie hektisch versuchte, den Motor wieder zu starten. Ihre nächsten Worte ließen keine Zweifel zu. »Du hörst auf das, was ich sage! Wir müssen hier weg, und zwar schnell!«

Endlich sprang der Motor wieder an und Emilia Wollner fuhr los, so schnell sie konnte. Auf dem Rest der Fahrt hatte Elisabeth noch viel mehr Angst als eben. Ihre Mutter sauste waghalsig in die Abzweigung und dann ohne Rücksicht auf mögliche entgegenkommende Autos die schmale Straße an der Innerste hinunter. Sie hielt mit einer Vollbremsung vor dem Haus. Elisabeth ließ sich ins Haus scheuchen, blieb aber verdattert im Wohnzimmer stehen. Ihre Mutter schloss hastig die Tür und schob die Riegel vor. Erst als alles geschlossen war, griff sich Emilia Wollner eine Flasche Harzer Grubenlicht, die ihr Mann als Willkommensgeschenk von der Fakultät bekommen hatte, ließ sich auf die Couch fallen und nahm mehrere tiefe Schlucke. Dann brach sie in stummes Weinen aus, dass die Tränen nur so herabliefen.

Elisabeth stand immer noch hilflos keine drei Meter neben ihr und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Mutter hatte einen riesigen Schock und sie hatte vor etwas Angst. Der Wolf konnte es sicher nicht gewesen sein, grübelte Elisabeth, der lag vermutlich halbtot unten am Hang und starb gerade. Doch die Reaktion ihrer Mutter ließ sie vermuten, dass diese nicht davon ausging. Der Wolf war wirklich richtig groß gewesen, aber da Elisabeth noch nie Wölfe in freier Wildbahn gesehen hatte, hatte sie keinen Vergleich. Vermutlich hatte der Nebel ihnen auch einen gewaltigen Streich gespielt, in dem er die Umrisse vage und größer gezeichnet hatte. Vielleicht war jetzt die Gelegenheit, etwas mehr aus ihrer Mutter herauszubekommen. Auf jeden Fall wollte Elisabeth sie trösten. Sie ging zu ihr und berührte sie sacht am Arm.

Emilia fuhr zusammen und wischte sich die Tränen weg. »Ach, du bist ja noch da, ich … ich bin nur so fertig, weißt du. Ich habe noch nie ein Tier angefahren. Das ist schrecklich!«

»Mama, du konntest nichts dafür! Der Wolf ist uns quasi direkt vor die Motorhaube gesprungen!«

Beim Wort Wolf zuckte Frau Wollner erneut zusammen. Das kam Elisabeth komisch vor. Irgendetwas verbarg ihre Mutter vor ihr. Sie setzte sich neben sie und schlang ihre Arme um sie.

»Mama, das wird schon wieder. Ich bin ja bei dir.«

Emilia Wollner hing wie ein Häufchen Elend in ihren Armen. »Ja, du bist bei mir und ich bin an allem schuld, nur ich allein! Ich zahle jetzt für alles, was ich getan habe.« Erneut schüttelte ein heftiger Schluchzer sie durch, dann nahm sie noch einen Schluck. Die Flasche war bereits halb leer.

»Woran bist du schuld?«, bohrte Elisabeth vorsichtig nach.

Da stellte ihre Mutter endlich die Flasche weg und nahm das Gesicht ihrer Tochter liebevoll in beide Hände.

»Du musst nur so viel wissen: Ich liebe dich über alles und ich werde dich immer beschützen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Du musst mir einfach nur vertrauen.«

Elisabeth runzelte die Stirn, nickte aber, um zu verstehen zu geben, dass sie gehört und verstanden hatte, obwohl das gerade eben mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Sie bekam noch einen Kuss auf die Stirn, der ihr sagte, dass sie heute nicht mehr erfahren würde.

Verwirrt ging sie ins Bett. Sie träumte von dem Unfall in dieser Nacht, nur diesmal hielt der Wolf einen Zettel in die Scheinwerfer mit der Aufschrift: Du wirst bezahlen! Die Rache kommt!

Schweißgebadet wachte Elisabeth auf und verspürte wieder das Kribbeln in ihrem Körper. Ein neuer Anfall drohte. Vorsichtig schlich sie in die Küche und nahm einen kräftigen Schluck aus der letzten Flasche. Die Zutaten für den neuen Trank hatten sie ja erst frisch gekauft. Ein leichtes Klirren aus dem Wohnzimmer ließ sie aufschrecken. War jemand eingedrungen? Sie griff sich das Nudelholz und schlich vorsichtig ins Wohnzimmer, in dem noch Licht brannte. Ihre Mutter lag auf der Couch. Die leere Flasche war wohl gerade zu Boden gefallen und hatte das Geräusch verursacht. Besorgt nahm Elisabeth eine Decke und deckte ihre Mutter zu.

In diesem Moment fasste sie einen Entschluss. Sie würde nachsehen, ob der Wolf wirklich tot war. Wenn nicht, würde sich vielleicht ihre Mutter wieder beruhigen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie es anstellen würde. Zu fragen hatte keinen Zweck. Gleich morgen würde sie Sabrina zu einem Trainingslauf einladen.

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