Читать книгу Harzmagie - Jürgen H. Moch - Страница 28
Nach dem Laufen ist vor dem Laufen
ОглавлениеWährend der großen Pause am nächsten Schultag trafen sich die drei etwas abseits des Pausenhofes. Sabrina grinste.
»Meine Ma hat immer noch fürchterliche Kopfschmerzen und ist gleich liegengeblieben. Wie lief es bei euch?«
Theobald lief leicht rot an. »Deine Mama ist echt die Wucht, danke nochmal. Meine hat zu Hause die Standpauke ganz vergessen und ist gleich aufs Klo gerannt. So betrunken habe ich sie noch nie erlebt. Ich vermute, es wird ihr sehr peinlich sein, wenn sie wieder zu sich kommt.«
»Meine ist eingeschlafen und ich habe sie mit Papa ins Bett getragen. Er hat ihr den Kopf aus Versehen gegen den Türrahmen gehauen, aber sie ist nicht aufgewacht«, vermeldete Elisabeth.
»Das ist der Cognac, den mein Vater immer von der See mitbringt. Der ist um einiges stärker als der normale Verschnitt, den es hier im Laden gibt. Wenn Mama den rausholt, dann bleibt keiner stehen«, bestätigte Sabrina.
»Haben die sich echt zu einem Treffen zur Wintersonnenwende verabredet?«, vergewisserte sich Elisabeth.
Theobald nickte. »Ich konnte es auch nicht fassen, Mama und ihre Freundin Lylly haben sich da immer zu zweit getroffen, manchmal auch mit meiner Oma. Ist wirklich was Besonderes. Aber hey, wir könnten da eine Gegenparty machen. Immerhin darf ich nicht dabei sein. Ist nur für große Mädchen!«
Sabrina knuffte ihn freundschaftlich auf den Arm. »Armer Junge, darfst nicht sehen, wie die nackt um den Tisch tanzen?«
»Wenn ich mir das so genau überlege, will ich das gar nicht sehen«, gab er angeekelt zurück. »Wir haben gleich Sport. Juhu! Ich habe immer noch Muskelkater.« Resigniert rieb sich Theobald die Waden.
»Och, wenn du mir das nicht so vermiest hättest, hätte ich noch was von dem Booster genommen«, maulte Sabrina.
»Nee, den habe ich nicht mit. In der Schule wird nicht geschummelt!« Theobald blickte ernst. »Außerdem ist die Flasche sowieso leer und neuen kann ich aktuell nicht kochen. Zu gefährlich mit meiner Ma im Haus!«
So schleppten die beiden sich zur Umkleide. Nur Elisabeth freute sich wirklich auf die Sportstunde. Eine Viertelstunde später standen sie in ihrer Sportkleidung auf der Tartanbahn am Sportplatz. Manfred Burglos hatte Sprints angesetzt. Ojan kam mit einem dicken Verband zum Sportunterricht gehumpelt. Er hatte ihn am Morgen noch nicht getragen, aber er erzählte, er sei in der Pause umgeknickt und könne nicht laufen. Es klang wie eine dumme Ausrede, aber Burglos überging es, ohne die Miene zu verziehen.
»Gut, kein Problem, wir brauchen eh einen Starter und ein paar Stopper. Dann machst du den Starter. Beim Stoppen wechseln die anderen sich ab.«
Fast alle Mädchen standen zusammen und kicherten albern. Eine Wolke aus Parfüm hüllte sie ein, sodass es Elisabeth in die Nase stach. Als Manfred Burglos, der davon keine Notiz zu nehmen schien, sie für fünf Runden zum Einlaufen schickte, sah sie, wie Vinzenz, Ojan und Alim die Köpfe zusammensteckten.
»Die hecken schon wieder etwas aus«, bemerkte Elisabeth. Sabrina hatte es auch gesehen. Doch dann raubte das Laufen ihnen immer mehr den Atem. Elisabeth ließ es langsam angehen. Sie tänzelte neben Sabrina her, die ohne den Trank sichtliche Mühe hatte, mit der Klasse mitzuhalten. Als sie die erste Runde vollendet hatte, waren die führenden Läufer schon auf der anderen Seite.
»Jetzt müsste jemand hinter dir heulen, dann sehen die anderen mal, wie schnell du sein kannst«, feixte Elisabeth.
»Un…fair! Du … willst … mei…ne … Freun…din … sein?«, presste Sabrina stoßweise zwischen den Schritten heraus und machte vergeblich Anstalten, Elisabeth zu knuffen. Das nahm diese zum Anlass, mit dem Getänzel aufzuhören und richtig Gas zu geben. Sie überholte Theobald, der sich tapfer an der Hauptgruppe hielt, aber die Zähne aufeinandergepresst hatte. Nach den geforderten fünf Runden kam sie mit weitem Abstand als Erste bei Manfred Burglos an, dessen Blick sie die ganze Zeit auf sich gespürt hatte.
»Du bist schon in Hannover für die Schule gelaufen, oder?«, fragte er sie interessiert.
»Ja und nein, meine Ma wollte nie, dass ich auf Wettkämpfe gehe. Aber ich habe mit der Mannschaft trainiert.«
»Das ist aber schade, du wärst mit etwas Coaching vermutlich richtig gut. Wie schnell bist du auf fünfundsiebzig Meter?«
Sie überlegte kurz. »Meine Bestzeit war 9,31 Sekunden!«
Burglos pfiff anerkennend durch die Zähne, während die anderen langsam eintrudelten. »Das wäre eine Spitzenzeit. Das würde ich gerne heute einmal mit eigenen Augen sehen. Wir reden am besten später darüber.«
Er wandte sich der Klasse zu. Zunächst erklärte er die Startblöcke und die Startsequenz, dann forderte er sie auf, sich zu Paaren zusammenzufinden. Sabrina griff sofort nach Elisabeths Hand. Theobald bekam Kevin ab, einen drahtigen Jungen aus Wildemann. Im wechselnden Turnus mussten sie laufen und stoppen, während Ojan die ganze Zeit die Startklappe bediente. Der Sportlehrer war sehr unzufrieden mit ihm, weil er immer irgendwelchen Blödsinn machte. Schließlich rannte Burglos nach hinten und schrie ihn an, dass es über den ganzen Platz schallte.
»So blöd kann man doch nicht sein, Ojan. Es heißt: Auf die Plätze! Fertig! Los! – Und genau bei Los haust du die Startklappe zusammen, nicht vorher und nicht nachher! Hast du das jetzt kapiert? Oder soll ich dir für deine ungenügende Leistung eine Sechs geben?«
Ojan machte eine abwehrende Geste. Alim und Vinzenz liefen beide nach hinten, um beruhigend auf den Lehrer einzureden. Schließlich kam er nach einigen Minuten wieder zum Ziel zurück. Er war jedoch puterrot und die Ader an seiner Schläfe pochte. Danach lief es besser. Sabrina drängelte sich ganz nach hinten. Verwundert sah Elisabeth sie an.
»Taktik!«, wisperte Sabrina. »Weil wir nach Sport nur fünf Minuten Pause haben, gehen die meisten gleich zum Umziehen. Dann sehen mich nicht alle laufen.«
Die Überlegung war nicht von der Hand zu weisen. Bei den Fragen, die Burglos vorhin gestellt hatte, hatte sich Sabrina pausenlos gemeldet. Sie wusste wirklich viel, aber in der Praxis war sie nicht so berauschend. Also ging Elisabeth mit ihr an das Ende der Reihe. Durch die vielen Fehlstarts, die Ojan verursacht hatte, wurde die Zeit knapp. Wollte er es so rauszögern, dass sie gar nicht mehr drankamen? Elisabeth spähte skeptisch zur Startlinie.
Dann hörte man ein Krachen aus der Umkleide, in die fast alle aus der Klasse schon verschwunden waren, gefolgt von wildem Geschrei. Manfred Burglos rannte hin und alle scharten sich um die Tür. Vinzenz hatte Alim am Kragen gepackt und die Umkleidebank lag auf der Seite.
»Wie nennst du meine Mutter, du Hurensohn?«, brüllte Vinzenz. Burglos ging dazwischen. Es gab erneut eine Ansprache und die Ankündigung eines Verweises, bevor der Lehrer wieder herauskam und einen Eintrag ins Klassenbuch machte. Als er an Elisabeth vorbeiging, erhaschte sie einen höhnischen Blick von Vinzenz. Er zwinkerte ihr sogar zu.
Er heckte wirklich etwas aus, nur was? Sie kamen als letztes Paar dran, Theresa und Brigitta mussten stoppen. Mit gespielt gelangweilter Haltung stand Ojan bei den Startblöcken. Doch man sah, dass auch er dämlich grinste.
»Hat dir jemand die Mundwinkel an den Ohren festgetackert?«, blaffte Sabrina ihn an, doch er grinste weiter.
Elisabeth konnte sich auch keinen Reim darauf machen, aber was sollte es. Sie kniete sich in den Startblock, als Ojan diesmal vorschriftsgemäß »Auf die Plätze!« sagte. Sabrina kauerte sich neben sie und warf ihr einen letzten leidenden Blick zu.
»Fertig!«
Sollte sie mit Sabrina mitlaufen oder voll durchziehen, um ihren Lehrer zu beeindrucken? Im letzten Moment entschied sich Elisabeth für Durchziehen.
»Los!«
Elisabeth sprang aus dem Startblock und sprintete los. Sie sah, wie Burglos den Kopf hob und den Lauf verfolgte. Sie fühlte sich gut, richtig fit, und als der Wind ihr im vollen Lauf um die Nase pfiff, jubelte ihr Unterbewusstsein auf und zog sie in einen Rausch. Laufen war einfach toll! Viel zu schnell querte sie die Ziellinie. Sie ließ erst danach das Tempo sinken und lief locker aus. Als sie sich umwandte, kämpfte Sabrina immer noch auf der Bahn. Sie gab alles und sogar Theresa und Brigitta feuerten sie an. Manfred Burglos kam in dem Moment herüber, wo Sabrina die Ziellinie passierte. Sie fiel gleich nach vorne über und schnappte wild nach Luft.
»Gut durchgehalten, Sabrina!«, erkannte Herr Burglos den Arbeitssieg an. »Und ein Supersprint Elisabeth, große Klasse! Wie waren die Zeiten?«
»Ich habe 20,9 Sekunden gestoppt!«, sagte Brigitta.
»9,40 Sekunden!«, vermeldete Theresa, die nicht glauben konnte, was sie ablas.
»Keine Bestzeit heute, aber Klassenrekord. Herzlichen Glückwunsch, Elisabeth. Das wird schon mal für das Laufen eine Eins plus.«
Die vier Mädchen gingen in die Umkleide. Als Manfred Burglos die Zeiten notiert hatte, sah er auf. Natürlich war Ojan schon verschwunden. Die Startklappe lag ganz hinten im Gras. Einen stummen Fluch murmelnd, stand er auf und lief, um sie zu holen. Als er ankam, runzelte er die Stirn. Die Startblöcke steckten nicht an der Fünfundsiebzig-Meter-Linie. Jemand hatte sie an die Hundert-Meter-Markierung verschoben. Wann war das passiert? Dann fiel ihm der Tumult in der Jungenumkleide ein. Die Jungs hatten Sabrina und Elisabeth reinlegen wollen. Aber das war nach hinten losgegangen, weil er es gemerkt hatte.
Wenn Theresa nicht komplett falsch gestoppt hatte, was beim manuellen Messen schon mal 0,5 Sekunden ausmachte, dann war da jemand gerade mindestens weiblichen Weltrekord gelaufen und wusste es nicht einmal. Der lag irgendwo bei 10,49 Sekunden auf hundert Meter, wie er noch wusste. Er musste unbedingt mit Elisabeth sprechen.