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»Hohenzollern«, Samstag 13. Juli 1889

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Hier bin ich wieder! Wo soll ich anfangen? Mit dem Ende, oder soll ich von vorn beginnen? Heute schreibt nämlich ein anderer als vor zwei Tagen. Bis zum Ausflug nach Stalheim war ich, der Jüngste an Bord, nur unter dem Namen »Der Junge aus Königsberg« bekannt. Ich musste alle grüßen und für alle Dienste tun, aber jetzt! Der Verfasser dieser Zeilen steht im Dienste des Kaisers!

Es geschah, als wir in den Nærøyfjord einfuhren. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Der Fjord schnürte sich zu, die Felswände kamen immer näher und fielen direkt ins Wasser ab. Kaum zu glauben, aber über den Abgründen klammerten sich Höfe an die Berghänge. Ich sah kleine Punkte: Menschen beim Mähen der Steilhänge. Ab und zu streckten sie den Rücken und winkten uns zu. Stolze Germanen. Und die Ziegen! Vielleicht war es Einbildung, aber ich glaubte, ihr Blöken durch das rhythmische Stampfen der Dampfmotoren hindurch zu hören. Auf einem Hof sah ich sogar Kühe. Wie kamen die großen, schweren Tiere dorthin? Wahrscheinlich trugen die Bauern sie als Kälber hinauf und ließen sie dort wachsen. Welch ein Kontrast zum ostpreußischen Flachland!

17 Kilometer lang ist der Fjord und an der schmalsten Stelle nur 820 Fuß breit. Alle standen fasziniert an Deck, die Sinne weit geöffnet. Die Felsen waren zum Greifen nah. Wir bewunderten die Steilwände, Wasserfälle und schneebedeckten Gipfel, schauten den Menschen bei der Arbeit in den Hängen zu, rochen den Duft der See und hörten eine Sinfonie aus Vogelschreien, rauschenden Wasserfällen, blökenden Ziegen und einem Geröllsturz, der in der Ferne grollte.

Der Kaiser promenierte zwischen Steuerbord und Backbord hin und her, es herrschte andächtige Stimmung. Als erlebten wir eine Offenbarung. Ich fühlte ein starkes Bedürfnis, dieses Erlebnis mit anderen zu teilen, fast wie Paulus vor Damaskus. Das konnte ich nicht für mich behalten, die Leute sollten darüber lesen!

Wie meistens hielt ich mein Notizbuch in der Hand. Die Ziegen in den Steilhängen faszinierten mich so sehr, dass ich gar nicht bemerkte, wie jemand auf mich zukam und meinen Arm ergriff. Der Kaiser!

»Zeig mal!«, sagte er und nahm das Notizbuch. Nein! dachte ich, denn gestern hatte ich den Kaiser ohne sein Wissen gezeichnet, und das in einer wenig kaiserlichen Positur: beim Morgenbad. Direkt von der »Hohenzollern« in den Sognefjord. Der Kaiser zittert im Bademantel, während einer seiner Generäle noch im eiskalten Wasser schwimmt.

»Bin ich das? Großartig! Ha, ha! Und der da, soll das ein General sein? Der ist ja noch nass hinter den Ohren! Ha, ha!« Dann gab er mir das Buch zurück und verschwand.

Ehrfurchtsvoll nahm ich es entgegen. Der Kaiser hatte mein Buch berührt, er hat dieses Buch in seinen Händen gehalten! Der Kaiser hat mit mir gesprochen! Und er hat über sich selbst in meiner Zeichnung gelacht!

Ziegen, Wasserfälle, winkende Bauern – ich weiß gar nicht, wie mir geschah und ob dies alles Traum oder Wirklichkeit war, denn ich dachte nur eins: Der Kaiser hat mit mir gesprochen!

Als wir uns zum Landgang bereit machten, kam er wieder auf mich zu.

»Mein Junge! Du hast eine geschickte Hand. Und von deinem Onkel weiß ich, dass du auch schreiben kannst. Und du kommst aus Königsberg. Das ist ein Vorteil, denn du kennst die See. Ich will, dass du alles aufschreibst, was wir auf der Reise erleben, damit mein Volk daran teilhaben kann! Wenn wir nach Stalheim kommen, reden wir näher darüber.«

Er klopfte mir mit dem gesunden Arm auf die Schulter und ging. Ist es möglich? Der Kaiser will mir einen Auftrag geben? Ich erinnere mich nicht, wie ich an Land kam, und die Reise nach Stalheim kommt mir wie ein Theaterstück vor, bei dem ich im Zuschauerraum saß.

Im Innern des Nærøyfjord liegt der pittoreske Fährort Gudvangen. Dort warten Kutschen auf die Reisenden, um sie in das noch engere Nærøydal zu befördern. Das kaiserliche Gefolge nahm in den Karriolen Platz, und los ging es. Wir tauchten in die Landschaft ein. Hinter Gudvangen begann ein grünes Tal. Es sah aus wie ein einziges Feld, das auf beiden Seiten von senkrechten Felswänden begrenzt wird. In der Mitte schlängelte sich ein Fluss, an dessen Ufern vereinzelte Höfe lagen. Ich kann verstehen, dass es einfacher ist, hier unten im Tal zu wohnen als oben in den Berghängen, aber wann sehen die Menschen hier unten die Sonne? Nach ein paar Kilometern sahen wir unser Ziel: das Stalheim Hotel. Wie ein Adlerhorst in der Felswand. Wie würden wir dort hinaufgelangen? Nach ungefähr zehn Kilometern bekamen wir die Antwort: Stalheimskleiva. Die Alpen habe ich noch nicht gesehen, aber selbst die weltgewandten Adligen, die schon jede Ecke der Welt besucht haben, machten große Augen, als sie sahen, was uns bevorstand. Über 13 Serpentinen windet sich der Weg nach oben. Er ist so steil, dass wir ihn zu Fuß erklimmen mussten. Nur der Kaiser durfte im Wagen sitzen bleiben. Nicht weil er zu schwach gewesen wäre, sondern um ihn vor den englischen Touristen abzuschirmen, die ebenfalls nach Stalheim wollten. Aber auch der Wagen half nicht gegen die neugierigen Briten. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass der Kaiser in der Nähe war. »Long live Your Majesty!«, rief ein Herr und schwenkte seinen Hut.

Wer hinauf nach Stalheim will, muss gut zu Fuß sein, was unserem Gefolge aus Offizieren und Adligen des mächtigsten Reiches Europas keine Probleme bereitete. Aber selbst wir gut Trainierten freuten uns, dass die freundlichen Norweger es dem erschöpften Touristen so bequem wie möglich machen. Am Fuß des Weges haben sie ein Café gebaut. Dort gab es Kaffee und Cognac, so dass wir gestärkt loswanderten. Sogar Spazierstöcke teilten sie an uns aus. Eine märchenhafte Wanderung zwischen zwei Wasserfällen, dem 413 Fuß hohen Stalheimsfoss und dem 465 Fuß hohen Sivlefoss.

Das Stalheim Hotel: welche Oase, welcher Luxus! Ich habe nicht viel Erfahrung mit Hotels, denn von Luxus wollten Mutter und Vater nichts wissen. Elektrisches Licht, Wasserklosett auf allen Zimmern. Ein volles Büfett, das in den Hotels der Alpen seinesgleichen sucht, sagten die Reiseerfahrenen. Obwohl wir mitten in den norwegischen Bergen waren, fehlte es uns an nichts. Herr Güssmann meinte, er sei noch nie so gut versorgt gewesen, und er ist schon viel gereist.

Am Nachmittag verbreitete sich Aufbruchsstimmung. Der größte Teil des Gefolges fuhr mit der Kutsche zurück nach Gudvangen, um an Bord der »Hohenzollern« zu übernachten. Ich war unsicher, weil mich der Kaiser noch nicht zu sich gerufen hatte. Hatte er mich vergessen? Oder hatte ich geträumt?

Es war kein Traum!

»Mein Herr!« Es war der Adjutant des Kaisers. »Mein Herr, kommen Sie mit. Sie werden mit dem engsten Kreis des Kaisers hier übernachten.« (Er hatte wirklich »mein Herr« gesagt!)

Er führte mich zur Rezeption. »Der Herr bekommt ein Zimmer mit Talblick«, sagte der Adjutant. Mit einer eleganten Bewegung nahm der Rezeptionist einen Schlüssel vom Haken, verbeugte sich und zeigte uns den Weg zur Treppe. »Bitte schön, gnädiger Herr«, sagte er zum Adjutanten. »Bitte schön, mein Herr«, sagte er zu mir.

»Ich hole Sie, wenn es so weit ist«, sagte der Adjutant und schloss die Tür hinter sich. Dann war ich allein. Allein in einem Hotelzimmer! Als Gast des Kaisers!

Am Abend holte mich der Adjutant. Mit einer Verbeugung führte er mich über Treppen und Korridore zur kaiserlichen Suite. Dann überließ er mich dem Kaiser.

»Da bist du ja, mein Junge!« Der Kaiser schien nachdenklich. Er wandte mir halb den Rücken zu und schaute über Nærøydalen.

»Reisen bedeutet viel mehr, als sich von Punkt A nach Punkt B zu bewegen. Durchs Reisen gewinnt man Abstand vom Alltäglichen. Und so merkwürdig es klingen mag, aus der Ferne kann man es besser beurteilen. Ich muss täglich schicksalsschwere Entscheidungen treffen, die das Leben aller Untertanen angehen, ob arm oder reich. Deshalb ist es besonders wichtig für mich, genügend Abstand zu haben, damit ich die richtigen Entscheidungen treffe. Auf einer Seereise wie dieser sind wir vom Irdischen befreit – um uns unendliches Meer, über uns der Himmel des Herrn. Wenn man den Urkräften des Universums so nah ist, sieht man die täglichen Angelegenheiten in Berlin aus der richtigen Perspektive. Reisen und regieren, darum geht es.«

Der Kaiser drehte sich zu mir um. »Schau!«, sagte er und zeigte über das Tal. »Frei wie ein Adler«, sagte er verträumt. »Alles dort unten ist klein. Nicht unwichtig, aber klein. Dort unten sieht man nur sich selbst und das Seine. Hier oben aber hat man den Überblick. Lass uns annehmen, ein Bauer hätte ein Schaf verloren. Er sucht und sucht, aber findet es nicht. Nur von hier oben, aus der Vogelperspektive, da sieht man das Schaf. So geht es auch mit mir und den schicksalsschweren Entscheidungen. Wenn man alles nur vom Schreibtisch in Berlin aus betrachtet, wird man kurzsichtig. Auf Reisen sehe ich alles mit Abstand, aus der Vogelperspektive. Da wird jede einzelne Sache klein – aber nicht unwichtig. Vom Deck der ›Hohenzollern‹, draußen auf hoher See, oder hier oben in den Bergen sieht man alle kleinen Dinge im rechten Zusammenhang. Das missverstehen viele und denken, ich sei faul! Sie sagen, ich würde mich nur amüsieren und anderen das Regieren überlassen. ›Reisekaiser‹ nennen sie mich hinter meinem Rücken. Falscher könnten sie nicht liegen! Reisen und regieren, darum geht es.«

Der Kaiser setzte sich. Er hatte sich umgezogen. Ja, es stimmte, der linke Arm war etwas kürzer, aber die Jacke saß wie angegossen, der Schneider beherrschte sein Handwerk.

»Wie sehr wünschte ich, mein Volk könnte Anteil an all dem nehmen. Ich will das erhabene Gefühl teilen, auf dem Meer unterwegs zu sein, unbekannte Länder zu entdecken und neue Menschen zu treffen. Ich will, dass sie die Fjorde und Berge und die edle Rasse hier oben kennenlernen, die Urgermanen, die aufrechten Nordländer. Und ich will, dass sie meine Gedanken über das Reisen teilen.«

Der Kaiser stand wieder auf und schaute durchs Fenster ins Tal.

»Mein Junge! Ich habe dich nicht gerufen, um dir ein Loch in den Bauch zu reden. Setz dich dort drüben hin und schreib auf, was ich zu sagen habe.«

Der Kaiser zeigte auf einen Sekretär, drehte sich wieder halb um und schaute über das Tal.

Ich setzte mich vor die aufgeklappte Schreibplatte, legte mein Buch zurecht und schrieb:

Bei Meinen Reisen habe Ich nicht allein den Zweck verfolgt, fremde Länder und Staatseinrichtungen kennenzulernen und mit den Herrschern benachbarter Reiche freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, sondern diese Reisen, die ja vielfach Missdeutungen ausgesetzt waren, haben für Mich den hohen Wert gehabt, dass Ich, entrückt dem Parteigetriebe des Tages, die heimischen Verhältnisse aus der Ferne beobachten und in Ruhe einer Prüfung unterziehen konnte. Wer jemals einsam auf hoher See, auf der Schiffsbrücke stehend, nur Gottes Sternenhimmel über sich, Einkehr in sich selbst gehalten hat, der wird den Wert einer solchen Fahrt nicht verkennen. Manchem von Meinen Landsleuten möchte ich wünschen, solche Stunden zu erleben, in denen der Mensch sich Rechenschaft ablegen kann über das, was er erstrebt und was er geleistet hat. Da kann man geheilt werden von Selbstüberschätzungen, und das tut uns allen Not.

Ich schrieb um mein Leben. Bemerkte plötzlich, dass mir die Zunge aus dem Mundwinkel hing. Ich schloss den Mund und schrieb weiter. Dann räusperte er sich, um zu bekunden, dass das Diktat zu Ende war, wechselte den Tonfall und sagte: »Hiermit bist du beordert, dem Fotografen und Landvermesser Güssmann bei seiner Arbeit mit dem Reisebuch zu helfen. Er ist ein guter Fotograf, aber zeichnen kann er nicht. Der Fotografie gehört die Zukunft, aber in ein ordentliches Buch gehören auch Zeichnungen und Holzschnitte! Deine Skizzen werden eine Bereicherung sein. Weil Güssmann der Ältere ist, ist er für den Inhalt verantwortlich, aber du sollst ihm helfen. Herr Güssmann wird dich in die Arbeit einführen.« Dann fügte er wie nebenbei hinzu: »Was ich gerade diktiert habe, könnte als Vorwort dienen.«

Ich stand auf, stotterte, errötete und suchte nach Worten. »Danke, Euer Majestät ... aber ...«

»Aber was?«

»Ich ... ich bin so jung.«

»Wenn’s weiter nichts ist!« Der Kaiser klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter. »Karl XII. war nur 15 Jahre alt, als er König wurde. Und Alexander der Große war 20, als er den Hellespont überquerte. Das mit der Jugend geht schnell vorüber. Sei jung, solange du kannst!«

Ich weiß nicht mehr, wie ich den Weg zurück fand. Wie durch einen Nebel erinnere ich mich, dass der Kaiser über dies und das redete, während er mich aus dem Zimmer geleitete und mich seinem Adjutanten überließ. So ist er, unser Kaiser!

Der Verfasser dieser Zeilen steht im Dienste des Kaisers!

Der Adjutant

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