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15. Mai 1957 Als ich ins Leben zurückgerufen wurde

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Das Bellen eines Hundes weckte mich aus dem Mittagsschlaf, begleitet von fröhlichem Kinderlachen. Ich zog mich an und ging hinaus. Neben dem Vorratshaus kam ein riesiger Bernhardiner zum Vorschein, und hinter ihm ein kleines, etwa vier Jahre altes Mädchen. Es hatte rote Wangen von der anstrengenden Tour, kurze, blonde Haare und trug ein kariertes Hemd und eine Strickjacke, die beide schief zugeknöpft waren. Seine grobe, graue Wollhose verschwand in einem Paar Gummistiefeln. Es sah aus, als wäre es in einen Regenschauer geraten. Haare, Schultern und Knie waren nass, obwohl keine einzige Wolke am Himmel hing.

»Heute Abend gibt es Fisch«, sagte es zur Begrüßung und schaute sich neugierig um. »Nygaardsvold wollte unbedingt eine Bergtour machen, da musste ich mitkommen.«

Ich atmete auf. Das Mädchen war also nicht allein.

»Bist du Herrn Nigordswold davongelaufen?«, fragte ich freundlich mit meinem knattrigen deutschen Akzent. »Hoffentlich kommt er bald. Kleine Mädchen sollten nämlich nicht allein in den Bergen herumklettern.«

»Ich bin gar nicht allein. Nygaardsvold ist doch bei mir«, sagte es.

»Ach so«, sagte ich und erwartete, dass jeden Moment ein erwachsener Mann um die Ecke kommen würde. Auch nach so vielen Jahren war ich sprachlich noch unsicher. Mein Alltag gab mir wenig Gelegenheit zum Üben. Ich hatte das beklemmende Gefühl, dass ich nicht alles verstanden hatte.

»Heute Abend gibt es Fisch«, sagte es wieder.

»Dann wirst du gesund wie ein Fisch im Wasser«, sagte ich und freute mich, ein Sprichwort in dieser fremden Sprache zu kennen. »Schön, dass Herr Nigordswold gesundes Essen für dich macht«, fügte ich aus Verlegenheit hinzu und hoffte, der Erwachsene würde gleich kommen.

»Aber Nygaardsvold kann kein Essen machen!«, sagte es und kicherte. »Hunde können doch nicht kochen!« Das Mädchen lachte laut.

Herr Nygaardsvold war also der Hund. Seltsame Hundenamen gab es hier oben.

»Dann bist du allein?«, fragte ich vorsichtig und dachte an den gefährlichen Weg. Ungefähr zehn Kilometer lang ist der Steig, der sich nur mit gutem Willen als Saumpfad bezeichnen lässt, und der Höhenunterschied beträgt 800 Meter. An einer Stelle durchquert er auf einem schmalen Absatz eine senkrechte Wand, nur mit einem Drahtseil gesichert. Darunter hundert Meter freier Fall. An einer anderen Stelle sind Stufen in den Fels geschraubt. Es war erst Mitte Mai, und der gesamte Berghang war aufgrund der Schneeschmelze wie ein einziger Wasserfall. Einmal geht der Pfad unter einem Wasserfall hindurch. Man läuft wie durch einen Tunnel, dessen eine Seite aus Fels und die andere aus Wasser besteht. Und diesen Weg war das vierjährige Mädchen allein gegangen!

»Aber wo ist denn dein Vater oder deine Mutter?«, fragte ich ungläubig.

»Meine Mutter ist tot, das weißt du doch. Und mein Vater sitzt in der Stube und liest Zeitung.«

Da ging mir auf, wer das Mädchen war. Es war die Tochter des Obstgärtners, von dem ich diesen Ort pachtete. Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, im Herbst, hatte sie auf den Schultern ihres Vaters gesessen.

»Weiß dein Vater, dass du hier bist?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich konnte es ihm nicht sagen, sonst hätte ich den Bären geweckt. Das sagt mein Vater immer, wenn er Zeitung lesen will. ›Jetzt musst du still sein, damit du den Bären nicht weckst‹, sagt er. Darum hab ich mich leise nach draußen geschlichen.«

Ich musste sie hineinbitten. Den Hund band ich an einen Zaunpfahl und gab ihm eine Schale Wasser und ein paar Essensreste. Ich war bissige Schäferhunde gewohnt, der Bernhardiner war wie ein Lamm dagegen. Meine einzige Erfahrung mit Kindern hatte ich vor langer Zeit mit meinen Neffen und Nichten in Königsberg gemacht. Siebzig Jahre war dies her! Wie redet man mit einem Kind? Wie kümmert man sich um es? Ich war es gewohnt, allein zurechtzukommen, und erwartete dies auch von anderen. Und nun stand plötzlich ein kleines Kind vor mir, für das ich Verantwortung übernehmen musste. Aber hilflos war ich noch nie gewesen. Ich schürte das Feuer im Ofen und trocknete die Kleider der Kleinen. Sie musste solange eines meiner kratzigen Wollunterhemden anziehen. Ich wickelte sie in eine warme Decke und setzte sie in den Lehnstuhl. Dann kochte ich süßen Tee und gab ihr Brot und Honig. Sie schlief auf der Stelle ein, so dass ich in Ruhe überlegen konnte, was ich mit dem ungebetenen Gast tun sollte.

Sie war den Sommerweg vom Dorf hinaufgekommen. Im Winter benutze ich immer die viel längere, aber sichere Route über den Berg ins östliche Nachbardorf. Die Schitour dauert mehrere Stunden, ich muss jedes Mal eine Übernachtung am Fährort einrechnen. Weil dies so umständlich ist, gehe ich meist nicht öfter als zweimal pro Winter. Nur, wenn ich wichtige Lebensmittel wie Konserven, Mehl, Salz, Zucker, Kaffee oder Tabak brauche. Die schweren Waren schaffe ich auf dem Transportschlitten nach Hause. Bei guten Verhältnissen ist dies für einen erwachsenen, gesunden Mann eine Tagestour. Jetzt im Mai ist der Schnee so weich, dass man nicht vorankommt. Gleichzeitig aber ist der Sommerweg wegen der Schneeschmelze kaum begehbar, weshalb ich von April bis Mai in der Regel vollkommen isoliert bin. Aber die Kleine hatte den Weg allein geschafft!

Eins war klar: Ihr Vater suchte bestimmt schon nach ihr. Bald würde er den Lensmann anrufen. Spätestens am Abend würden sie eine Suchaktion mit Nachbarn und Freiwilligen einleiten. Der Vater sollte unbedingt wissen, dass seine Tochter in Sicherheit war. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder ich würde das Mädchen auf dem Weg zurückbringen, der eigentlich erst in zwei Wochen begehbar war, oder ich würde den Hund mit einer Nachricht heimschicken.

Während ich noch überlegte, suchte ich schon in Schränken, auf dem Dachboden und im Schuppen nach der passenden Ausrüstung für die gefährliche Tour. Der Offizier in mir war durchgekommen und hatte unbewusst eine Entscheidung getroffen. Ein Kribbeln durchfuhr mich, wie früher vorm Ausrücken oder bei Manövern. Endlich geschah etwas! Eine Herausforderung, die mich physisch und logistisch auf die Probe stellte. Aber auch wenn ich bewusst nachdachte, kam ich zum selben Schluss. Wenn der Hund allein zurückkäme, könnte leicht das Gerücht entstehen, der alte Offizier dort oben habe das Mädchen entführt. Hier wollte ich klare Fronten schaffen.

Nach einer Stunde weckte ich sie, und wir begaben uns auf den Weg ins Dorf. Zuerst der Hund, dann das Mädchen, dann ich. Ich hatte der Kleinen ein Seil umgebunden, dessen anderes Ende ich mir um die Hüfte band. In der rechten Hand hielt ich meinen Stock, an dem ich eine neue Spitze befestigt hatte. An den Füßen trug ich meine treuen, kniehohen Offiziersstiefel. Im Rucksack lagen ein weiteres Seil, eine Wolldecke, falls wir am kalten Frühlingsabend eine Pause einlegen mussten, eine Flasche Johannisbeersaft für das Mädchen, eine Thermoskanne voll Kaffee für mich, zwei Scheiben Brot mit Honig und zwei mit Hartwurst. Außerdem hatte ich ein paar Haken eingepackt, damit wir uns an den glattesten und schwierigsten Stellen sichern konnten. Schließlich noch ein Paar Eisnägel, die sich die alten Leute hier oben im Winter unter die Stiefel schnallen, um nicht auszurutschen. Das Mädchen war bester Laune, es schwatzte und lachte in einem fort.

Es war einer dieser herrlichen Frühlingsabende, wie man sie nur im Norden findet. Es wird nicht dunkel! Um Mitternacht herum gehen Abend- und Morgendämmerung ineinander über. Ein Märchen: Vogelgezwitscher, rauschende Bäche und ein milder Wind in den Birken. Auf der Schattenseite mussten wir mehrere Schneefelder überqueren. Je tiefer wir kamen, desto kleiner und seltener wurden sie. Noch weiter unten waren die Birken schon grün.

Wir hatten die in den Fels geschraubten Stufen und den schmalen Absatz hinter uns. Von hier an war der Weg ein ordentlicher Saumpfad, und wir konnten nebeneinander gehen. Als wir zwei Drittel des Weges geschafft hatten, kamen uns der Vater des Mädchens und der Lensmann entgegen. Der Vater rannte auf uns zu, nahm seine Tochter in die Arme und drückte sie an sich.

»Wie konntest du nur ...?«

»Nygaardsvold wollte unbedingt eine Bergtour machen, und ich konnte ihn nicht allein gehen lassen. Er ist doch nur ein Hund.«

»Du erzählst Geschichten«, brummte der Vater und lachte.

»Er hat roten Saft und Honigbrote im Rucksack«, sagte das Mädchen und zeigte auf mich.

Wir setzten uns. Der Lensmann und der Vater lobten mich. Ich hätte das einzig Richtige getan, sagten sie. Ich rang nach Worten, nicht nur, weil ich unsicher im Norwegischen war, sondern auch, weil ich mich nach einem halben Jahr Schweigen wieder ans Reden gewöhnen musste. Wir aßen und plauderten über die Schneeschmelze, die Obstblüte am Fjord und alles, worüber man zu dieser Jahreszeit hier spricht.

Nach einer kurzen Pause stand der Lensmann auf, sah mich an und sagte:

»Sag, wäre es nicht leichter für einen Mann in deinem Alter, den Winter über im Dorf zu wohnen? Elektrisches Licht, Heizung, Post und Läden in Gehweite ... Ich kenne eine Witwe, die eine Etage vermieten will.«

»Ja, dann könntest du jeden Sommer auf die Alm ziehen, wie eine Sennerin«, fügte der Obstgärtner hinzu. »Die Häuser in Hylla werden immer auf dich warten.«

»Meine Herren«, sagte ich, »es ist vielleicht schwer zu verstehen für Sie, aber mir ist es noch nie so gut gegangen wie dort oben in Hylla. Zum ersten Mal im Leben kann ich tun und lassen, was ich will. Im Sommer treffe ich genug Menschen.«

»Ganz wie du willst«, sagte der Lensmann, »es war nur ein Angebot. Aber solltest du es dir anders überlegen, finden wir bestimmt ein Winterquartier im Dorf für dich.«

»Tja«, sagte der Obstgärtner, mehr zum Lensmann als zu mir. »Ein alter Offizier hat vielleicht seine Gründe, warum er lieber einsam ist.«

Dann plauderten wir weiter über das Wetter und die Gesundheit. Wie glücklich konnten wir uns schätzen, nicht gebrechlich zu sein! Es war schon spät am Abend, und die beiden wollten aufbrechen. Ich war hin- und hergerissen: Einerseits wollte ich mich in mein sicheres Heim zurückziehen und niemandem zur Last fallen, andererseits sehnte ich mich nach Gesellschaft, nach lebendigen Menschen, warmen, freundlichen Stimmen, Lächeln, Humor. Ich verstand, dass sie gehen mussten, aber ein wenig wollte ich den Abschied noch hinauszögern.

»Entschuldigen Sie die Frage, aber der Name des Hundes ... War das nicht Ihr Staatsminister vor dem Krieg? Es scheint mir ein außergewöhnlicher Hundename zu sein.«

Sie lachten.

»Ja, das stimmt. Wenn du mich fragst, war er – also der Mann – der beste Regierungschef, den wir je hatten. Wir nannten ihn nur ›den Alten‹. Er war zuverlässig wie ein Bernhardiner. Ein Staatsminister der Bauern und kleinen Leute. ›Stadt und Land, Hand in Hand‹ war sein Slogan. Er hat das Land 1935 durch die ungleiche Koalition zwischen Sozialdemokraten und Konservativen aus der Krise geführt. Nach dem Krieg kamen die Kommissare und Parteisekretäre, die Kraftsozialisten, die nur eine Wahrheit kennen. Haakon Lie und seine Männer, die alles gleichmachen und uns an die Amerikaner verkaufen.«

»Lieber Freund«, unterbrach ihn der Lensmann, »den Vortrag kannst du ein anderes Mal halten. Du hast den Hund nicht nur aus Achtung für Nygaardsvold so genannt. Soviel ich weiß, wolltest du damit auch deinen Nachbarn, den Parteisekretär, ärgern. Du hast dem Hund beigebracht, ihn so lange anzuknurren und zu bellen, bis er sagt: ›Lieber Nygaardsvold, du hast ja vollkommen recht!‹ Dann wird er zahm wie ein Lamm, wedelt mit dem Schwanz und leckt ihm die Hand.«

Wir lachten alle, mein Hauswirt hell und laut, der Lensmann brummte, und das Mädchen kicherte, weil die anderen lachten. Auch ich ließ mich mitreißen. Zuerst wehrte ich mich. Schließlich brauchen wir dieselben Muskeln zum Lachen wie zum Weinen. Aber dann ließ ich mich gehen. Wann hatte ich zuletzt so gelacht? Ich schluchzte. Wie gut es tat! Ich schluchzte und lachte, bis die Tränen liefen. Jetzt war genau das geschehen, was ich befürchtet hatte. Ein Damm war gebrochen, die Tränen kamen aus einer anderen Quelle. Ich kämpfte gegen das Weinen und tat, als würde ich aus vollem Herzen lachen.

Als sie hinter der nächsten Wegbiegung verschwanden, hörte ich sie immer noch lachen, und der Hund stimmte fröhlich bellend ein. Es wurde nach Mitternacht, bis ich wieder zu Hause war.

Ich erkannte mich nicht wieder. Immer war die Selbstbeherrschung mein höchstes Ideal gewesen, und nun hatte ich wie ein Kind geheult und alle Vernunft vergessen. Als ich das kleine Mädchen an der Hand genommen und es über die Bäche gehoben hatte, als ich es auf den Arm genommen und getragen hatte, weil es müde war, als es mit seiner kleinen Hand neugierig über meine Bartstoppeln gestreichelt hatte, da hatte es mich wie ein Blitz getroffen: Wofür hast du gelebt? Die Reaktion kam später, als ich wieder in Hylla war. Ich weinte, wie ich es seit meiner Kindheit in Königsberg nicht mehr getan hatte. Was hatte ich alles geopfert! Familie, Kinder, Enkel. Aber hier gab es keine Mutter, die mich tröstete.

Der Adjutant

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